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50 Jahre Terrorismusverfahren in Deutschland

rechtspolitischer salon

6. November 2022 * 18.00 Uhr

rechtspolitischer salon

50 jahre terrorismusverfahren in deutschland

6. NOVEMBER 2022 * 18.00 Uhr
Live in und im livestream aus der taz Kantine in Berlin

ZUM THEMA:

»In diesem Kampf darf es keine mildernden Umstände geben. Nur dieses: Das Grundgesetz in der linken, die Waffen in der rechten Hand.«

(BILD, 8. September 1977)

Anfang Juni 1972 wurden Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins in Frankfurt nach einem Schusswechsel verhaftet, etwa eine Woche später Gudrun Ensslin in Hamburg und nur wenige Tage später Ulrike Meinhof in Langenhagen bei Hannover. Den Polizeibehörden war es gelungen, innerhalb von nur etwas mehr als 14 Tagen die gesamten als ›Führungsriege‹ ausgemachten Mitglieder der ersten Generation der Rote Armee Fraktion zu verhaften.

Nicht nur für die Polizeibehörden, auch für die Strafgerichtsbarkeit war eine neue Zeit angebrochen. Die Bekämpfung des linken Terrorismus in Deutschland veränderte den Umgang des Staates mit der radikalen Opposition. Prozessuale Zwangsmaßnahmen und massive Eingriffe in die Beschuldigten- und Verteidigungsrechte wurden – gerne im Nachgang – durch entsprechende Strafrechtsänderungsgesetze legitimiert, gipfelnd in der Schaffung des §129a StGB als materiell-rechtlicher Spezialnorm zur Legitimierung besonderer strafprozessualer Maßnahmen. »Die Gewaltenteilung entpuppte sich als mehr oder weniger eingespielte Arbeitsteilung zwischen den ›Gewalten‹«, schrieb Sebastian Cobler, »bei deren gegen- und wechselseitiger Beschaffung von Legalität und Legitimität. Was die Gesetzgebung betrifft, so wurde – soweit erforderlich – rechtsbrüchiges staatliches Handeln nachträglich legalisiert, der Bruch des Rechts mithin selber zum Gesetz.«[1]

Zurechtgeschnitten auf den Prozess in Stuttgart-Stammheim und wegweisend für die folgende justizielle Behandlung von terroristischen Straftaten (im weiteren Sinne) wurde in nur wenigen Jahren eine lange Reihe von Gesetzesänderungen beschlossen, die bis heute den Strafprozess weit über Staatsschutzverfahren hinaus prägen:

Gesetz vom 9.12.1974 (BGBI 1,3393; 3533)

  • Streichung des erst 1964 zur Stärkung der Verteidigung eingeführten § 257a StPO: Einschränkung des Rechts der Verteidigung, jederzeit während der Hauptverhandlung prozesserhebliche Erklärungen abzugeben;
  • §§ 329, 412 StPO: mit dem die Möglichkeit der Gerichte erweitert worden ist, Einspruch und Berufung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten zu verwerfen;
  • §§ 169b, 169C StPO: mit dem das Recht der Verteidigung gestrichen wurde, sich vor Erhebung der Anklage zum Tatvorwurf zu äußern;
  • § 163a Abs. 3 StPO: mit dem ein Beschuldigter verpflichtet worden ist, vor der Staatsanwaltschaft zur Aussage zu erscheinen;
  • § 161a StPO: mit dem die Staatsanwaltschaft die bislang nur Richtern zustehende Befugnis erhielt, während des Ermittlungsverfahrens Zeugen und Sachverständige auszuwählen und notfalls zur Aussage zu zwingen;
  • § 110 StPO: mit dem neben Richtern auch die Staatsanwaltschaft das Recht erhielt, Unterlagen eines von einer Durchsuchung Betroffenen zu lesen und beschlagnahmte Briefe zu öffnen;
  • §§ 153a, 153b StPO: mit dem der Staatsanwaltschaft das Recht gegeben wurde, sogenannte Bagatelldelikte ohne jede richterliche Kontrolle abschließend zu ahnden;
  • § 100a StPO: Erweiterung des Rechts zur Telefonüberwachung.

Gesetz vom 20.12.1974 (BGBl I, 3686)

  • § 137 Abs. 1 StPO: Beschränkung der Zahl der Wahlverteidiger;
  • § 146 StPO: Mehrfachverteidigungsverbot, mit dem jede gemeinschaftliche Vertretung mehrerer Beschuldigter durch einen Verteidiger verboten wurde;
  • §§ 231a, 231b StPO: Einschränkung des Rechts Angeklagter auf Anwesenheit in der gegen ihn durchgeführten Hauptverhandlung;
  • §§ 138a, 138b StPO: Verteidigerausschluss;

Gesetz vom 18.8. 1976 (BGBl 1,2181)

  • § 129a StGB: Tatbestand der »terroristischen Vereinigung«;
  • § 112 Abs. 3 StPO: Anordnung der Untersuchungshaft ohne Haftgrund beim Verdacht einer Straftat gemäß § 129a StGB;
  • §§ 148 Abs. 2, 148a StPO: Überwachung des Schriftverkehrs zwischen einem wegen des Verdachts einer Straftat nach § 129a StGB Inhaftierten mit seinem Verteidiger;
  • § 138a Abs. 4, § 138c Abs. 5 StPO: Erweiterung der Möglichkeiten des Verteidigerausschlusses;
  • §§ 120, 142a GVG: primäre Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und die erstinstanzliche Zuständigkeit des (jeweiligen) Oberlandesgerichts in Strafsachen nach § 129a StGB.

Kontaktsperregesetz vom 30.9.1977 (BGBl I, 1877)

  • §§ 31 bis 38 EGGVG: vollständige Isolierung ausgewählter Gefangener von der Außenwelt und innerhalb der Anstalt auf Anordnung einer Landes- oder der Bundesregierung.

Gesetz vom 14.4.1978 (BGBl I, 497)

  • §§ 138a, 138c StPO; weitere Vereinfachung des Verteidigerausschlusses in Verfahren nach § 129a StGB;
  • § 148 Abs. 2 StPO; § 29 Abs. 1 StVollzG: Trennscheibe für Besprechungen zwischen Verteidigung und Inhaftierten, die wegen des Verdachts einer Straftat nach § 129a StGB in U-Haft gehalten oder wegen einer solchen Straftat verurteilt worden sind;
  • §§ 103, 105, 108 StPO: Erweiterung polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Befugnisse bei Durchsuchungen und Beschlagnahmungen;
  • §§ 111, 127, 163b, 163c StPO erweitertes Recht zur Identitätsfeststellung, Kontrollen (Razzien) in ganzen Stadtteilen und vorläufige Festnahmen über das bislang zulässige Maß;

Gesetz vom 5.10.1978 (BGBl I, 1645)

  • § 29 Abs. 2 StPO: Einschränkung der Ablehnung eines als befangen besorgten Richters;
  • mit dem das Legalitätsprinzip dadurch ausgehöhlt wurde, dass es der Staatsanwaltschaft freisteht, bestimmte Handlungen zu verfolgen oder nicht (§§ 154, 154a StPO);
  • § 245 StPO: Beschneidung des Rechts der Verteidigung, präsente Beweismittel in der Hauptverhandlung einzubringen;
  • Besetzungsrüge nach Vernehmung des Angeklagten zur Sache präkludiert.

50 Jahre später ist eine Vielzahl der damals eingeführten Anti-Terror-Gesetze immer noch wirksam und in die allgemeine strafprozessuale Praxis diffundiert. Der Ausnahmezustand von Stammheim ist in vielen Verfahren zur prozessualen Normalität geworden.

Aber auch in den politischen Verfahren hat ein grundlegender Wandel stattgefunden: Nicht nur stammen die Beschuldigten, die vor den Staatsschutzsenaten angeklagt sind, in der Regel aus einem anderen politisch-ideologischen Lager, auch das Terrorismusstrafrecht hat sich – bspw. mit der Schaffung des § 129b StGB (terroristische Vereinigungen im Ausland) oder der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit durch § 89a,b,c StGB – grundlegend gewandelt. Regelrecht altbacken wirkt der damals visionäre Horst Herold aka Kommissar Computer gegenüber der heute alltäglichen Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizeibehörden, der internationalen Informationsabschöpfung und Nutzbarmachung von hierzulande undenkbaren Verhörmethoden in den Detention Camps ›befreundeter Dienste‹ oder der Fahndung im Darknet.

Die Veranstaltung will versuchen, den zeithistorischen Blick auf die Verfahren der Siebziger Jahre mit der strafprozessualen Praxis heute zu verbinden. Wäre es nicht langsam an der Zeit, die Anti-Terror-Gesetzgebung der Siebziger nicht nur zeithistorisch, sondern auch rechtspolitisch aufzuarbeiten, die §§ 129, 129a, b StGB zu streichen und alle damit zusammenhängenden strafprozessualen Folgen einer Revision zu unterziehen?

[1] Cobler, Plädoyer für die Streichung der §§ 129, 129a StGB, KJ 1984, 4, S. 407

Es diskutieren:

Rechtsanwältin Antonia von der Behrens, Berlin

 

Rechtsanwältin Edith Lunnebach, Köln

Dr. Anneke Petzsche, Humboldt-Universität Berlin

Moderation: Christian Rath, Korrespondent der taz

 

 

 

mitreden

Bitte melden Sie sich für die Teilnahme vor Ort formlos per E-Mail an, da wir eine Teilnehmer*innenliste führen.

Teilnehmer*innen vor Ort haben im Anschluss die Möglichkeit zu einem informellen Austausch bei einem Glas Wein.

Der rechtspolitische Salon findet statt in der Kantine der taz (tageszeitung), Friedrichstr. 21, 10969 Berlin.

Bitte kommen Sie rechtzeitig vor Beginn der Veranstaltung; Einlass ab 17.30 Uhr. 

 

   

material

Sebastian Cobler: Plädoyer für die Streichung der §§ 129, 129a StGB, KJ 1984

Ingo Müller: Neue Grenzen anwaltlicher Tätigkeit? Demokratie & Recht 1977

 

Heinrich Hannover: Abschaffung der Verteidigung im politischen Strafprozess. Demokratie & Recht 1977

 

Sebastian Cobler: 3. Russel Tribunal – Beitrag

 

Michael Schubert: Strukturveränderungen in den § 129a StGB Verfahren. 11. Strafverteidigertag 1987

 

Helmut Janssen: Terrorismus. Zur Entstehung und Expansion einer Kriminalisierungsformel. 11. Strafverteidigertag 1987

 

 

Dokumente & Materialien zur Kontaktsperre, KJ 1977

Dencker: Kronzeuge, terroristische Vereinigung und rechtsstaatliche Gesetzgebung. KJ 1987

Gierhake: Zur geplanten Einführung neuer Straftatbestände wegen der Vorbereitung terroristischer Straftaten, ZIS 2008

Uwer: Strafbare Möglichkeiten, § 89 a,b,c StGB, FREISPRUCH Nr. 7/2015

referent*innen

Antonia von der Behrens ist Strafverteidigerin in Berlin.

Edith Lunnebach ist Strafverteidigerin in Köln.

Dr. Anneke Petzsche ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt Universität Berlin und forscht zur Entwicklung des Terrorismusstrafrechts.

Christian Rath ist Journalist und Justizkorrespondent in Karlsruhe u.a. für die taz.

 

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6. November 2022 ab 18:00 Uhr

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