Stellungnahme: Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung

Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG)

1.

»Ob der Zwang zur Protokollierung* exaktere Tatsachenfeststellungen im Urteil garantiert, erscheint zweifelhaft. Eine wirklich befriedigendere Lösung kann nur die Einführung des Wort-(Tonband-)Protokolls … bringen.« (Dahs, NJW 1965, 81 ff)

* hier mit Bezug auf die Änderung d. § 273 Abs. 2 StPO von 1964 – Einführung des Inhaltsprotokolls für Hauptsverhandlungen erster Instanz 

»Ich halte es heute für offensichtlich, dass Mitschriften der Vernehmungen durch die Richter und Richterinnen lückenhaft sind und vor allem lediglich eine – mehr oder minder unzuverlässige – subjektive Auswahl des wirklich Relevanten darstellen.  […] Sicher bin ich mir, dass eine Dokumentation der Hauptverhandlung, die diesen Namen verdient, einen erheblichen Beitrag zur Wahrheitsfindung und zu einer effektiven Rechtsmittelkontrolle im Strafprozess zu leisten vermag.« (Schmitt BGH NStZ 2019, 1ff)

Die Strafverteidigervereinigungen begrüßen die Initiative des Bundesministeriums der Justiz, die Pflicht zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung gesetzlich zu regeln. Die wortgetreue Dokumentation des strafgerichtlichen Hauptverfahrens wird seit langem von einer Mehrzahl der Verbände[1] sowie von der Strafrechtswissenschaft[2] gefordert. Auch die Strafverteidigervereinigungen haben wiederholt die Notwendigkeit einer umfassenden Ton- und nach Möglichkeit auch Bild-Ton-Aufzeichnung betont und die Einführung einer verpflichtenden technischen Dokumentation der Hauptverhandlung gefordert.[3]

Die Gründe, die für eine wortgetreue und vollständige technische Dokumentation des strafgerichtlichen Hauptverfahrens sprechen, liegen auf der Hand:

Ihre Notwendigkeit ergibt sich zuvörderst aus dem unverzichtbaren Ziel des Strafprozesses – der Suche nach materieller Wahrheit (BVerfGE 133 168 [199]). Das Bundesverfassungsgericht postulierte in dieser Entscheidung zugleich, dass es gerichtliche Pflicht sei, »die bestmögliche Erforschung der materiellen Wahrheit« zu gewährleisten. Dies kann nur gelingen, wenn die Wahrheit der Beweisaufnahme objektiv gesichert ist und sich die Entscheidungsfindung nicht alleine den subjektiven Eindrücken von selbiger entspringt. Die Qualitätssicherung der Beweisaufnahme bleibt ineffektiv, wenn sie zwar Zeugen zur Wahrheit ermahnt, deren Aussagen indes für die Verfahrensbeteiligten nicht wahrheitsgetreu festhält.

Es ist daher nicht zu hoch gegriffen, wenn man diese Art der Qualitätssicherung gerichtlicher Kognition als Ausfluss des Gebotes bestmöglicher Sachverhaltsklärung auch als verfassungsrechtlich abgesichert und ggfls. geboten bezeichnet.

In diesem Sinne dient die technische Dokumentation auch unmittelbar der Beurteilung von Verfahrenssituationen. Da die technische Dokumentation neutral – also frei von kognitiven Verzerrungen, Vorverständnisfiltern, Protokollierungs- oder Erinnerungsfehlern – ist, gibt sie ein authentisches Bild der Verhandlungssituation wieder.

Wesentlich ist, dass derzeit die Inhalte der Beweisaufnahme nicht festgehalten werden. Weder die Aussagen von Beschuldigten noch Zeugen oder Sachverständigen sind am Schluss der Beweisaufnahme objektiv reproduzierbar; nicht selten aber kommt es auf den exakten Wortlaut einer Aussage an. Die wortgetreue technische Dokumentation macht dementgegen eine Prüfung der Konstanz von Aussagen erst sinnvoll möglich – und beugt zugleich der Gefahr einer unvollständigen, weil notwendig verkürzten Inhaltsnotiz vor, die eine mögliche Ursache von Fehlurteilen ist.[4] Die berühmte Schusskanalentscheidung (BGH, StV 1991, 500), die – nur am Rande – den 2. Senat des BGH sogar zu einer Durchbrechung des Rekonstruktionsverbotes nötigte, wäre allen Beteiligten bei einer wortgetreuen technischen Dokumentation (damals der Sachverständigenvernehmung) erspart geblieben.

Ersparen würde die technische Dokumentation nicht nur die – fehlerbehaftete – Inhaltsmitschrift durch die Verfahrensbeteiligten.[5] Bereits in den 70er Jahren führte Banscherus[6] eine Studie über Protokollierungsfehler bei polizeilichen Vernehmungsmitschriften durch, die sich insofern auf die Mitschriften der Verfahrensbeteiligten des strafgerichtlichen Hauptverfahrens übertragen lässt, als die dort manifestierten Fehler (Routine, Vorverständnis, Subjektivität und Selektivität) erfahrener Vernehmungsbeamter sogar noch verstärkt für die forensische Praxis gelten. Denn im Gegensatz zum Polizeibeamten, der ein Vernehmungsprotokoll fertigt, das die vernommene Person immerhin lesen und gegenzeichnen kann, bleiben die privaten Notizen der Verfahrensbeteiligten auf ihre Richtigkeit hin gänzlich unüberprüft.

Die exakte technische Dokumentation würde daher nicht nur den in unzähligen Verfahren geführten Streit über den genauen tatsächlichen Inhalt einer bereits erfolgten Aussage obsolet machen;[7] sie würde es der Verteidigung auch ersparen, auf die Protokollierung bestimmter Beweisergebnisse und Aussagen per Antrag zu bestehen. Dem Gericht ermöglichte sie umgekehrt eine von der Not gleichzeitiger Protokollierung ungetrübte Konzentration auf die Beweisaufnahme.  

Zu begrüßen ist insbesondere, dass § 273 Abs. 3 S. 1 StPO dahingehend geändert werden soll, dass es nicht mehr alleine dem Gericht überlassen bleibt zu entscheiden, ob es »auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung« ankommt, wo sich doch genau dies i.d.R. erst nachträglich herausstellt, wenn nämlich aus dem Urteil erkennbar wird, dass das Gericht (nach Überzeugung der Verteidigung) eine Aussage nicht richtig wiedergegeben oder verstanden hat.[8]

Die Objektivierung des Protokolls geht daher auch mit einer »Vorbeugung gegen den Missbrauch von Macht« einher, der möglich wird, wenn »es den Richtern überlassen wird, den Inhalt von Zeugen- und Sachverständigenaussagen anhand ihrer eigenen Mitschriften, die niemandem zugänglich sind und deren Richtigkeit keiner Rechtsmittelkontrolle unterliegt, einer Urteilsfindung zugrunde zu legen.«[9]

Zusammengefasst dient die wortgetreue technische Dokumentation des strafgerichtlichen Hauptverfahrens der Objektivierung und Verbesserung der Beweisaufnahme, der besseren Sachaufklärung, der Vorbeugung von Fehlern und Machtmissbrauch und damit der Wahrheitsfindung im Strafprozess.

2. Protokoll und Transkript

Die Strafverteidigervereinigungen sehen den Regelungsvorschlag in § 271 Abs. 2 S. 2 StPO-E als gelungen und an der Praxis der strafgerichtlichen Hauptverhandlung orientiert an. Die automatisierte Übertragung der (Ton-)Aufzeichnung in ein Textdokument dient dem besseren Ablauf der Verhandlung und der Sachaufklärung im oben bezeichneten Sinne. Diesem Ziel wäre nicht gedient, würde eine Abschrift erst im Nachgang erfolgen oder sich die technische Dokumentation lediglich als (Bild-)Ton-Aufzeichnung auf einem Datenträger oder zur Einsichtnahme bei Gericht befinden. Die gewählte Lösung (»unverzüglich« zur Verfügung stellen) ist daher sinnvoll und praktikabel.

Damit korrespondieren die Regelungsvorschläge in § 271 Abs. 1 StPO-E und § 272 Abs. 6 S. 1 StPO-E.

Sinnvoll wäre aus Sicht der Verteidigung gleichwohl, dies mit einem Antragsrecht der Verfahrensbeteiligten zu flankieren, Einsicht auch während einer laufenden Verhandlung zu erhalten, wenn dies der Klärung von Widersprüchen und möglicherweise abweichender Bekundungen dient.  

3. Bild-/Ton-Aufzeichnung

Die Strafverteidigervereinigungen begrüßen, dass die technische Dokumentation des Hauptverfahrens nach dem Entwurf vollständig– also vom Aufruf der Sache bis zum Ende der Urteilsverkündung – zu erfolgen hat. Dies dient einerseits der Sicherung eines rechtsförmigen Verfahrens und entlastet andererseits das Verfahren von der Frage, welche Verfahrensteile dokumentiert werden sollen und welche nicht.  

Grundsätzlich sehen die Strafverteidigervereinigungen die Einführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung positiv, da auch solche Verfahrensabläufe dokumentiert würden, die von einer rein akustischen Aufzeichnung nicht erfasst werden, mithin die Körpersprache der Verfahrensbeteiligten.

Es stellt sich gleichwohl die Frage, ob eine (vollständige) Videographie für die bessere Sachaufklärung notwendig ist oder aber die wortgetreue akustische Dokumentation in den meisten Fällen ausreichend und praktikabler sein dürfte, zumal eine durchgängige Ton-Aufzeichnung der HV in kürzester Zeit dazu führen wird, dass entscheidende nonverbale Äußerungen für den Mitschnitt auch versprachlicht werden (»Sie zucken mit den Schultern« etc.), wie dies im anglo-amerikanischen Rechtskreis bereits längst praktiziert wird.

4. Fortsetzung trotz Ausfalls der technischen Dokumentationsanlage

Im Sinne der Verfahrensbeschleunigung wird in § 273 Abs. 2 StPO-E die Fortsetzung des Verfahrens auch bei einer vorübergehenden technischen Störung erlaubt. Dies ist im Kern nachvollziehbar, bleibt aber insbesondere dort vage, wo es um die Bestimmung der »vorrübergehenden« Störung geht. Die Regelung wäre sinnvollerweise dahingehend zu ergänzen, dass »vorübergehend« sich relativauf die konkrete Verfahrensdauer bezieht, ein »vorübergehender« technischer Fehler also nicht dazu führen kann, dass Verfahren in chronisch maroden Gerichtsbezirken gänzlich undokumentiert bleiben. Während man mittlerweile von öffentlichen technischen Einrichtungen allgemein gewohnt ist, dass »vorübergehende Störungen« gerne auch einmal Monate und Jahre andauern können, könnte eine auf die konkrete Verfahrensdauer bezogene Einschränkung demhingegen beinhalten, dass eine »vorübergehende Störung« nicht länger als einen Sitzungstag andauern kann und jedenfalls nicht zu vollständig undokumentierten Verfahren führen dürfen. 

In jedem Falle sollte eine Pflicht zur Dokumentation der Störung, ihrer Ursache sowie Dauer geregelt werden.

Zusammenfassend sehen die Strafverteidigervereinigungen den Entwurf als gelungen und sehr begrüßenswert an. Dass ausgerechnet die strafgerichtliche Hauptverhandlung weiter undokumentiert bleiben und auf dem technischen Standard von Papier und Kugelschreiber eingefroren bleiben sollte, ist auch mit Hinblick auf die Akzeptanz des Rechtsstaates nicht mehr vermittelbar. Nicht nur angesichts der offenkundigen Vorzüge einer wortgetreuen technischen Dokumentation, sondern auch angesichts der Tatsache, dass sich in beinahe jeder Hosentasche mittlerweile mobile Endgeräte befinden, die zu HD-Videoaufzeichnungen und qualitativ hochwertigen Tonaufnahmen in der Lage sind, es also keiner unerprobten und außergewöhnlich teuren Technik bedürfte, können die immer wieder vorgebrachten Kostengründe nicht greifen. Der Entwurf scheint dementgegen vielmehr pragmatisch und technisch leicht umsetzbar, er ermöglichte mit vergleichsweise geringem Regelungsaufwand einen enormen Fortschritt im Sinne einer besseren Sachaufklärung und sollte daher aus Sicht der Strafverteidigervereinigungen weiten Zuspruch finden.    

[1] vgl. bsph. Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer Nr. 1/2010

[2] Aktuell bspw. durch den Alternativ-Entwurf Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung (AE-ADH) des Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Hrsgg. von u.a. Bommer, Wohlers, Jahn, Momsen, 2022), zu den Defiziten des geltenden Rechts, S. 11ff; der Vorschlag des Alternativ-Entwurfs will die Bild-Ton-Aufzeichnung auch für die Amtsgerichte einführen; der Gesetzesvorschlag eröffnet zudem die Möglichkeit der Differenzrüge im Revisionsverfahren, S. 15, die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht solle aber gewahrt bleiben, S. 15, S. 19. Grundsätzlich dazu, »welche Art von Rechtsmittelsystem wir wollen« Wehowsky in: Cirener u.a., Bild-Ton-Dokumentation, Referate und Diskussionen auf dem 7. Karlsruher Strafrechtsdialog 2019, S. 33ff und derselbe zum Austauschrichter S. 37-39; Fragen zur Änderung des Revisionsrechts, Krauß in Cirener et al, aaO. S. 27ff.

[3] bspw.: Ergebnisse d. 40. Strafverteidigertages, Frankfurt 2016 (AG 4); Resolution d. 39. Strafverteidigertages (Ergebnis d. AG 4), Lübeck 2015; Ergebnisse d. 34. Strafverteidigertages, Hamburg 2010 (AG 5); von Döllen/Momsen: Im falschen Film. Zur Dokumentation in der Hauptverhandlung, in: Freispruch, Heft 5, September 2014; Goecke: Wahrnehmungsherrschaft über die Beweiserhebung und das Recht auf ein faires Verfahren; Schriftenreihe d. Strafverteidigervereinigungen Bd. 39, 2016, 9 ff.; Wilhelm: Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung – warum eigentlich nicht?, Schriftenreihe d. Strafverteidigervereinigungen Bd. 39, 2016, 165 ff.; Bremer Erklärung, 41. Strafverteidigertag, Bremen 2017; Regensburger Thesen, 43. Strafverteidigertag Regensburg 2019.

[4] vgl. Böhme, Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht?, 2018, 290 ff.

[5] Ausführlich dargelegt von Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012

[6] Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, Formen, Verhalten, Protokollierung, 1977

[7] So auch Göcke, SchrrStVV, Bd. 39, 2016, 13 ff.

[8] dazu Wilhelm, SchrrStVV Bd. 39, 2016, 168.

[9] von Galen, StraFo 2019, 309