Der diesjährige 37. Strafverteidigertag steht unter dem Generalthema »Die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz«. Dieser Arbeitstitel könnte für das Thema, das ich Ihnen heute referieren darf, nicht passender gewählt sein. Unsere Arbeitsgemeinschaft befasst sich mit dem Unterthema, ob es eine Kultur der Strafverteidigung gibt und wenn ja, wie eine solche auszusehen hat. Hierbei werde ich entsprechend der Ankündigung im Materialheft auch versuchen, als »Einstiegsimpuls« zu der Frage Stellung zu nehmen, woran sich »gute Verteidigung« bemisst, nämlich
a) ausschließlich am Ergebnis oder
b) ausschließlich an der Kunst.
Oder – wiederum im Sinne des gestrigen Festvortrags von Martin Lemke – welcher Verteidiger darf auf dem zweiten Ehrenplatz im Sitzungssaal Platz nehmen?|2 Dabei möchte ich – aus gegebenem Anlass – zu der Behauptung »Wer dealt sündigt nicht!« einige grundsätzliche Ausführungen machen.
Gespannt wartet die interessierte Öffentlichkeit auf Dienstag, den 19.03.2013. An diesem Tag wird das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zu den drei Verfassungsbeschwerden, die sich auch mittelbar gegen § 257c StPO wenden, verkünden.|3 Bereits die Verhandlung am 7. November 2012 ließ »fassungslose Richter« zurück.|4 Und schon im Vorfeld hatten einige Zeitungen und Nachrichtenagenturen über die »Dealer in Roben vor Gericht«|5 respektive über »Justitia als Dealer«|6 berichtet.
Wie alles begann:
Absprachen im deutschen Strafprozess wurden bis zu ihrer Kodifizierung durch das Verständigungsgesetz vom 29.07.2009 bereits mindestens drei Jahrzehnte praktiziert.|7 Nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Kodifizierung wurde die Absprachepraxis von namhaften Seiten des Schrifttums aber strikt abgelehnt.|8 In der Folge hatte sich der Bundesgerichtshof – 4. Strafsenat – in einer ersten Entscheidung vom 28.08.1997|9 mit den Grundlagen der Absprachenpraxis auseinander zu setzen. Der Bundesgerichtshof verfolgte mit seiner Entscheidung erstmals die Intention, ein einheitliches Absprachen-Konzept einzuführen. Auch hierdurch wurden die mannigfaltigen Probleme einer »Strafprozessordnung light«, respektive eines Konsensstrafrechts, nicht gelöst.
Die Frage, ob aufgrund einer unzulässigen Absprache der darin erklärte Rechtsmittelverzicht rechtswirksam sei, beschäftigte in der Folgezeit verschiedene Strafsenate des Bundesgerichtshofes. Zur Klärung der divergierenden Auffassung wurde der Große Senat für Strafsachen angerufen. Dieser billigte im Wesentlichen die Grundlagen, die bereits der 4. Strafsenat gelegt hatte, mahnte allerdings eine gesetzliche Kodifizierung der Absprachen an.|10
Dieser »Appell« des Großen Senats für Strafsachen an den Gesetzgeber trug Früchte. Der Deutsche Bundestag peitschte kurz vor Ende der Legislaturperiode das »Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren« durch die Lesungen.|11
Zu Beginn der 80er Jahre wurde das Phänomen der Absprachen in Deutschland von einem namhaften Strafverteidiger unter dem Pseudonym Detlev Deal aus Mauschelhausen (erstmals) beschrieben.|12 Der Grund für die rasende Ausbreitung der Absprachen in der Folgezeit ist niemals wirklich erforscht worden. Es begann in umfangreichen Umweltstrafverfahren, Wirtschaftsstrafverfahren aber auch in anderen Kriminalitätsbereichen.
Vergleichbar ist die Situation derzeit in Österreich. Ich konnte auf dem 8. Österreichischen StrafverteidigerInnentag in Salzburg im März 2010 hier (zeitversetzt) dieselben Tendenzen feststellen.
Die österreichischen Kollegen hatten im Rahmen ihrer »Grundsätze der Strafverteidigung«|13 den Deal propagiert, obwohl die Rechtsprechung des obersten Gerichtshofes den Deal in Österreich nach wie vor als für die Beteiligten strafbare Handlung ansah.|14 Die österreichischen Kollegen artikulierten hinter vorgehaltener Hand, dass man den Deal benötigen würde, da ansonsten die Justiz komplett »überfordert« sei und die Prozesse nicht mehr handelbar seien.
Kurze Zeit später legte der damalige stellvertretende und heutige Vorsitzende der Österreichischen Strafverteidigervereinigung einen Gesetzesentwurf für die Implementierung einer Verständigungspraxis in Österreich vor.|15 Dieser ist in der Literatur aufgegriffen und heftig kritisiert worden.|16 Seit dem ist die Diskussion in Österreich ruhiger geworden, wenn sie auch nicht verstummt ist. Kürzlich hat erst der Wiener Strafverteidiger Richard Soyer im Rahmen seiner Antrittsvorlesung an der Universität Linz ein konsensuales Absprachen-Modell zumindest für Teile des Wirtschaftsstrafrechts vorgestellt.|17
Interessant ist, dass die behauptete Überforderung der Justiz mit dem anfallenden Fällen in Österreich ebenso zu dem Zeitpunkt erhoben wird, wie in Deutschland, nämlich zu dem Zeitpunkt, in dem sich die Strafverteidigung organisiert und insbesondere auch professionalisiert. Lassen sie mich das erklären. In den 70er Jahren wurden Strafverteidigerorganisationen gegründet. Der 1. Strafverteidigertag fand 1977 statt und auch publizistisch änderte sich das Bild z.B. in der Fachzeitschriftenlandschaft. Die Zeitschriften StV, NStZ, wistra erschienen alle erstmalig zu Beginn der 80er Jahre.
Die Justiz reagierte mit der Behauptung, dass Strafverfahren in den oben bereits skizzierten Deliktsbereichen nicht mehr anders handelbar seien und bot sozusagen im Wege eines Schulterschlusses den »Handel mit der Gerechtigkeit« den Verteidigern quasi an.
Eine weitere Reaktion der Justiz erfolgte im Geheimen. Der Professionalisierung und auch der besseren Ausbildung der Strafverteidigung respektive der Strafverteidiger setzte die Justiz – für weite Teile der Anwaltschaft unentdeckt – eigene Fortbildungsveranstaltungen entgegen. Die Justiz rüstete auf. Fortbildungsveranstaltungen unter dem globalen Thema »große Strafverfahren – Konfliktverteidigung« wurden landauf landab abgehalten. Hierbei wurde ein »Notfallkoffer für die Hauptverhandlung« den Richterkollegen an die Hand gegeben.
Führt man sich diesen »Notfallkoffer für die Hauptverhandlung« – ich möchte ihn nach dem »Urheber«, dem Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Breidling, »Breidlings Giftkoffer« nennen – zu Gemüte, so befasst sich der erste Teil mit der sogenannten Konfliktverteidigung und den Reaktionsmöglichkeiten der Justiz mit Rechtsprechung der Obergerichte, teils des Bundesgerichtshofes, aber auch noch Rechtsprechung des Reichsgerichtes. In einem zweiten Teil findet man unter der Rubrik »sonstige Störungen in der Hauptverhandlung« die verschiedenen Störer-Kategorien. Hierbei werden weitere Fallklassifizierungen von sonstigen Störungen durch Verteidiger aufgeführt. Die Diktion verwundert nicht. Es war eine tatsächliche Aufrüstung: Der aktive Verteidiger war quasi als Feind ausgemacht. Aktive Verteidigung streute Sand in das Getriebe und verhinderte den sprichwörtlichen kurzen Prozess. In die gleiche Richtung, aber offener zu Tage getreten, brüsteten sich Kammervorsitzende damit, dass sie derart revisionssichere Urteile schreiben könnten, dass sie in ihrer gesamten Karriere durch den BGH nicht aufgehoben worden seien. Handreichungen für die Kollegenschaft werden auch – durch Vorworte von Senatsvorsitzenden unseres obersten Gerichts aber auch durch die damaligen Generalbundesanwälte im C.H. Beck Verlag als »Kleines Strafrichterbrevier« veröffentlicht.|18 Führt man sich hier das Inhaltsverzeichnis zu Gemüte, verwundert jedenfalls die Diktion: Hier ist von der Hauptverhandlung als vom »langen Marsch« die Rede. Das erste Unterkapitel befasst sich mit dem Verteidiger und ist wie folgt beschrieben: »Nur Beelzebub vertreibt den Teufel: DER VERTEIDIGER«.
In der Zwischenzeit hatte sich tatsächlich eine Generation an Strafverteidigern vereinnahmen lassen, die nicht mehr Strafverteidigung betrieben, sondern ein anderes Metier. Sie waren Kaufleute des Strafrechts geworden. Noch bevor die Anklageschrift zugestellt war, wurden sie von Vorsitzenden telefonisch kontaktiert. Man einigte sich noch – ohne Kenntnis der Anklageschrift – auf einen Hauptverhandlungstag, an dem eine geständige Einlassung mit einer bestimmten Strafe bzw. einem bestimmten Strafversprechen belohnt wurde.
In der Folgezeit trat eine weitere Reaktion der Strafverfolgungsbehörden zu Tage. Ich möchte es die offene Seite der Reaktion auf die Professionalisierung verstehen. Es wurde nämlich – auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung – von einem angeblich geänderten Ethos der Strafverteidigung gesprochen. Die Wahrnehmung prozessualer Rechte, nämlich die Stellung von Beweisanträgen, die Stellung von Ablehnungsanträgen, die Stellung von Besetzungsrügen behinderte im klassischen breidling‘schen Sinne das schnelle Vorwärtskommen auf dem »zügigen Weg zur Urteilsfindung« und bedeutete im Sinne von Föhrig den langen Marsch durch die Hauptverhandlung. Die Justiz reagierte mit Beschränkungen der prozessualen Rechte. Rügepräklusion wurde propagiert und goutiert. Beschränkungen und zeitliche Kontingentierungen von Fragerechten wurden der Verteidigung entgegengesetzt.
Trauriger Höhepunkt war dann schließlich die Kriminalisierung der Anwaltschaft. Der Gipfel war erreicht, die höchste Form der Reaktion auf Verteidigung.
Sie werden erahnen, wovon ich hier spreche. Es ist das Verfahren gegen unseren Münchner Kollegen, Rechtsanwalt Stephan Lucas. Es ging hier um ein simples Betäubungsmittelverfahren. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Augsburg und der dortigen 3. Strafkammer erstreckte sich in einer verhältnismäßig einfach gelagerten Sache über 24 Hauptverhandlungstage und hatte nach den »neun Unterbrechungsfristen« eine Gesamtdauer von über einem Jahr. Das Urteil des Landgerichts Augsburg war durch die Verteidiger mit der Revision angegriffen worden. Eine Rüge – unter vielen – war, dass durch die Strafkammer gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen wurde. Im Rahmen der Revision wurde vorgetragen, dass ursprünglich dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses im Sinne der Anklage mit den dort angeklagten 26 Taten eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten in Aussicht gestellt worden sei. Er sei dann allerdings nach kontradiktorisch geführter Hauptverhandlung für die sieben dann verbliebenen Taten und bei Freispruch in den weiteren 19 Fällen tatsächlich zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs verurteilt worden. Die beiden zur Entscheidung berufenen Berufsrichter hatten im Revisionsverfahren dienstliche Stellungnahmen abgegeben, in denen sie den Revisionsvortrag als »nicht der Wahrheit entsprechend« von sich wiesen.
Der für das Landgericht Augsburg zuständige 1. Strafsenat hatte in seinem Beschluss vom 15.04.2008|19 die Revision verworfen und machte darüber hinaus ergänzende Ausführungen, in denen er die dienstlichen Stellungnahmen der Richter dem Revisionsvortrag entgegenstellte und dann zu der Schlussfolgerung kam: »Aufgrund dieser von der Revision nicht widersprochenen Erklärung muss der Senat nun auch noch mit Befremden zur Kenntnis nehmen, dass er mit unwahrem Vorbringen konfrontiert wurde«.
Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat dann nach Rückkehr der Akten und Einleitung der Strafvollstreckung ein weiteres getan, nämlich aufgrund dieses letzten Satzes – ohne weitere Ermittlungen – Anklage gegen den Kollegen zur Großen Strafkammer des Landgerichts Augsburg erhoben.
Gemeinsam mit dem Kollegen Hartmut Wächtler durfte ich den Kollegen Lucas in der Instanz verteidigen.
Das Ergebnis des Prozesses ist bekannt. Der Prozess wurde sowohl in einem Blog|20 durch den Kollegen Burhoff, aber auch durch den Kollegen Rolf Grabow, der ebenfalls den Prozess für die Strafverteidigervereinigungen beobachtet hat, dokumentiert und ist im Internet abrufbar. Das (gute) Ende des Prozesses ist also bekannt: Stephan Lucas wurde durch Urteil des Landgerichts Augsburg rechtskräftig freigesprochen. Die Art und Weise dieses Freispruchs war allerdings mehr als befremdlich und zeigt, wie tief der Graben zwischen Strafverteidigung und Strafjustiz in der Zwischenzeit geworden ist. Frau Friedrichsen hat an mehreren Stellen hierauf zutreffend hingewiesen.|21
Die Staatsanwaltschaft Augsburg, hier der Sitzungsvertreter, hatte noch in seinem Plädoyer eine Verurteilung des Kollegen beantragt und zwar zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, welche und dieses war die »Bedingung der Staatsanwaltschaft«, nur dann zur Bewährung auszugesetzt werden sollte, wenn gleichzeitig ein dreijähriges Berufsverbot gegen den Kollegen verhängt würde.
Im Rahmen der Hauptverhandlung hatten – selbstredend – auch die beiden Richter zur Sache ausgesagt. Sie waren gemäß § 55 StPO durch den Kammervorsitzenden belehrt worden, stritten eine Verständigung aber weiterhin ab. Dieses wäre nicht von besonderer Bedeutung gewesen, wenn nicht dann die damalige Sitzungsvertreterin aus dem Ausgangsprozess auf einen schriftlichen Vermerk verwies, den sie damals gefertigt hatte und in dem Verständigungsgespräche und Strafrahmen dokumentiert waren.|22 Diese Staatsanwältin war nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft Augsburg, sondern zwischenzeitlich in einem südlicheren Landgerichtsbezirk tätig. Der Aktenvermerk, auf den sie rekurrierte, befand sich allerdings immer noch im Besitz der Staatsanwaltschaft Augsburg, mithin der Anklagebehörde. Erst die beantragte und durch die Kammer angedrohte Durchsuchung der Staatsanwaltschaft führte dazu, dass dieser vorgelegt wurde. Trotz dieser Dokumentation wurde Stephan Lucas lediglich wegen mangelnden subjektivem Tatbestand freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer noch ausgeführt, dass der Richter per se aufgrund des Selbstverständnisses des Richters als Quell der Unwahrheit ausscheiden würden, hingegen der Strafverteidiger als Interessenvertreter des Mandanten dazu neigen würde, zu lügen.
Interessant war, dass der Bundesgerichtshof in dem oben erwähnten Beschluss ausgeführt hatte – sie erinnern sich –, dass von Seiten des damaligen Revisionsführers, des Kollegen Stephan Lucas, auf die dienstlichen Stellungnahmen nicht reagiert worden sei (unbeanstandet). Im Rahmen meiner Verteidigungstätigkeit (gemeinsam mit dem Kollegen Wächtler) ist anzumerken, dass gerade dieses nicht zutraf. Dies hätte von Seiten der Staatsanwaltschaft Augsburg vor Anklageerhebung jedenfalls durchaus überprüft werden müssen. Hätte nämlich die Staatsanwaltschaft Augsburg die apodiktische Behauptung des Bundesgerichtshofes, es seien nämlich die dienstlichen Stellungnahmen unbeanstandet geblieben, nicht nur voreingenommen übernommen, sondern tatsächlich geprüft, hätte man feststellen können, dass ausweislich der Akten die dienstlichen Äußerungen der beiden Richter dem Rechtsanwalt Lucas im März 2008 durch den GBA zugeleitet wurden, der Kollege Lucas den Eingang dieser Stellungnahme am 31.03.2008 bestätigt hatte und mit Schriftsatz vom 11.04.2008, eingegangen beim Bundesgerichtshof am 12.04.2008, zu strittigen Punkten Stellung genommen hat. Ebenfalls hielt der Kollege Lucas damals ausdrücklich an der Rüge der Sanktionsschere fest und widersprach explizit den dienstlichen Stellungnahmen. Die Erklärung erfolgte auch innerhalb der Frist des § 349 Abs. 3 StPO. Auf diesen Schriftsatzvermerk – und dieses mag eine Erklärung für die Ausführung des Bundesgerichtshofes sein – befindet sich ein Stempel, der – so würde ich es interpretieren – dazu führte, dass der Schriftsatz des Kollegen Lucas beim BGH gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wurde, sondern für die »Instanz-Akte« bestimmt war.
Die Botschaft, die mit diesem Verfahren verbunden war, kam an. Die Anwaltschaft hatte Angst. Immer mehr Kollegen verteidigten nicht mehr. Immer wieder hörte man auch aus der Kollegenschaft, dass eine Verständigung zum Wohle des Mandanten gesucht wurde. Äußerungen wie »das Angebot muss ich annehmen« sind Legion. In gemeinsamen Verteidigungen erscheinen Co-Verteidiger mit der ersten Bemerkung »lass uns doch mal mit dem Richter reden«. Diejenigen, die darauf bestehen, doch erst einmal zumindest anzuverteidigen, werden auch aus der Kollegenschaft mit Argwohn beäugt.
Diese Situation kann man getrost als Kapitulation der Verteidigung bezeichnen. Es handelt sich hierbei lediglich um schnelle, möglicherweise auch betriebswirtschaftlich günstige Verteidigung. Solche Verhaltensweisen sind auch rechtspolitisch gewünscht, wie ein Blick auf § 31 BtmG respektive § 46b StGB zeigt.
Der Strafverteidigertag in Berlin hat hierzu – zumindest für § 46b StGB – eine deutliche Erklärung abgegeben.|23 Dabei – und dies möchte ich hier weiter ausführen – sind auch nach Einführung des Verständigungsgesetzes die Vorschriften über die Verständigung quasi eine Quelle der »legalen Rechtsbeugung« respektive des »legalen Parteiverrats«. Hierbei entstehen Begehrlichkeiten. Professor Altenhain von der Universität Düsseldorf hat als Gutachter in seiner empirischen Studie über die Praxis der Verständigung im Strafverfahren ein verheerendes Bild gezeichnet.|24 Die empirische Studie befasst sich zwar ausschließlich mit Richtern aus Nordrhein-Westphalen. Es würde allerdings sicherlich zu kurz greifen wenn man meinte, dass die Befragten nicht repräsentativ wären und man täte gut daran, die Ergebnisse der Studie ernst zu nehmen. In jedem Fall war es die Studie von Altenhain, die die Richter des Bundesverfassungsgerichtes »(ver)fassungslos« zu machen schien. Die überwiegende Zahl der Verfahrensbeteiligten räumte bei der Untersuchung von Altenhain ein, dass »mehr als die Hälfte« ihrer Absprachen informell durchgeführt würden.|25
In der Folgezeit fand aber auch keine wirkliche Kontrolle durch die Obergerichte statt. Die Einhaltung der Formvorschriften des § 257c wurde quasi als Ordnungsvorschriften herabgestuft.|26
Derzeit ist bei einem der Strafsenate eine weitere Revision anhängig, in der »gedealt« wurde. Möglicherweise ist die materielle Rüge hier aber wesentlich von besseren Erfolgsaussichten gekrönt. Unternimmt man den Versuch – und dies hat offensichtlich das Instanzgericht nicht getan – einer Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes unter die angewandten Strafvorschriften, so erhellt sich schlaglichtartig, dass der mutmaßlich festgestellte Sachverhalt nicht strafbar ist. Trotzdem wurde gedealt und geurteilt. – Es bleibt abzuwarten, wie der zuständige Senat auf diese Rüge reagieren wird.|27
Strafanzeige oder gar Verurteilung der Verfahrensbeteiligten solcher rechtswidriger Absprachen sind mir nicht bekannt. Allerdings lässt ein Beschluss des 5. Strafsenats vom 22.06.2011 aufhorchen.|28 Es geht allerdings hier wiederum gegen den Rechtsanwalt. Der 5. Strafsenat schreibt dem neuen »Tatgericht« quasi ins Stammbuch, dass dem Angeklagten aufgrund der Tatsache, dass ein ehemaliger Verteidiger an der Absprache mitgewirkt hat, gegebenenfalls ein neuer Verteidiger zu bestellen sei. Die Richter, die an der Absprache an dem Deal mitgewirkt haben, sind nach Zurückweisung in der Regel andere. Allerdings stellt sich die Frage, was mit der Staatsanwaltschaft ist. Hierzu verhält sich der Senatsbeschluss nicht.
Unmissverständlich möchte ich an dieser Stelle noch sagen, dass die These 41 der Thesen zur Strafverteidigung|29 das Handlungsprogramm für uns Strafverteidiger klar umreißt. Der Verteidiger darf im Rahmen einer Verfahrensabsprache, nämlich gerade nicht an der Verurteilung eines Unschuldigen mitwirken.|30
Es bleibt also abzuwarten, was das Bundesverfassungsgericht am 19.03.2013 entscheiden wird.|31 Der »Buschfunk« lässt nichts Gutes vermuten. Eventuell soll es hier zu einer pragmatischen Lösung kommen, weil bei einer kompletten Verfassungswidrigkeit des § 257c möglicherweise Rechtsfolgen befürchtet werden, die die Justiz erst recht lahmlegen würden. Wiedereinsetzung und dergleichen würden befürchtet. Insofern mag ein komplettes Kippen ausgeschlossen sein.
Die Frage ist, was können wir Verteidiger tun.
Wir sollten nicht zu Kaufleuten des Rechts (weiter-) mutieren. Die Verständigung muss ultima ratio sein und darf erst dann eingegangen werden, wenn im Wege einer kontradiktorischen Strafverteidigung kein besseres Ergebnis erzielbar war.|32
Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Verständigung nicht das Allheilmittel sein kann. Wir sind nicht Garant dafür, dass die Instanzrichter in die Lage versetzt werden, ein abgekürztes Urteil abzusetzen. Als Grund für eine Verständigung bleibt lediglich die Angst des Angeklagten bzw. des Mandanten und des Verteidigers. Es ist die Angst vor der Ungewissheit.
Dem muss man allerdings entgegenhalten, dass Strafzumessung durchaus berechenbar ist. Der Deal wird auch in klaren Sachverhalten keine Alternative sein. In den Fällen empfiehlt sich möglicherweise ein Geständnis, der frühzeitige Verzicht auf Zeugen. Die Ergebnisse sind dann auch in der Regel prognostizierbar.
Diese Verhaltensweise ohne den Deal ist durchaus dazu geeignet, günstigere Ergebnisse zu erzielen. In einem Missbrauchsverfahren, welches mein Kollege Rechtsanwalt Fischer vor Kurzem zu verteidigen hatte, wurde im Rahmen der Urteilsbegründung durch die Schöffengerichtsvorsitzende ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das abgegebene Geständnis gerade deswegen so viel wert sei, weil es nicht im schützenden Schoß der Verständigung entstanden sei.
Eine Verständigung, verstanden im Sinne einer urteilsbeendenden Strafmaßverständigung, ist in der Regel entbehrlich.
Wie sollten wir uns als Anwälte verhalten, wenn allerdings der Mandant auf die Gewissheit drängt? Es wurde bereits ausgeführt, dass eine Deal-Verteidigung eines unschuldigen Mandanten uns verwehrt ist. Besteht der Mandant hierauf, ist der Verteidiger gehalten, das Mandat niederzulegen. Dies ist die einzig mögliche Reaktion. Ansonsten begeht – untechnisch gesprochen – der Verteidiger Verrat am Mandanten.
Als ich Anfang der 90er Jahre mit der Strafverteidigung begann, gab es noch Zusammenkünfte von Strafverteidigern, nach denen zu fortgeschrittener Stunde die »Gruppe Deepstaal« ihre Gitarren auspackte. Die Kollegen Günther Bandisch und Rüdiger Decker intonierten zu den Strafverteidiger-Liedern. Es gab sogar eine Sangesfibel, auf der sich vorne eine Karikatur befand. Auf einem kahlen Baum stand ein Anwalt mit Schwert und einer unserer Mandanten. Diese Karikatur war unterschrieben mit: »Wehe, Du singst!«
Ich habe diese »Mundorgel des Strafverteidigers«|33 neulich wiedergefunden und mich an das Strafverteidigerlied II erinnert.
Hier heißt es in einem der Strophen wie folgt, und das sollte auch unser Leitfaden in der Zukunft sein:
»Besorgen aber wir Befängnis,
und bewahren vor Gefängnis,
mit Courage und ohne Ruh‘,
nicht devot vor Richtern schweigen,
und dem Staat die Stirne zeigen,
das tut, das tut was dazu.«
Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.
Anmerkungen
1 Der Vortragsstil des am 9. März 2013 in Freiburg gehaltenen Referats wurde weitgehend beibehalten, allerdings wurde der Text um die Fußnoten, Fundstellen und Querverweise ergänzt.
2 Martin Lemke hat seinen Eröffnungsvortrag zur »Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz« mit einer Sequenz aus dem Billy Wilder Film Zeugin der Anklage geendet. »Charles Laughton sagt am Ende eines langen und streitbaren Lebens als Verteidiger den bemerkenswerten Satz: »In einem Gerichtssaal gibt es nur zwei Ehrenplätze – auf einem sitzt schon der Angeklagte.« Bemühen wir uns also, den zweiten Ehrenplatz im Gerichtssaal angemessen auszufüllen.« (in diesem Band, S. 30)
3 Vgl. Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StV 2013, 353 ff. m. Anm. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 ff; Bockemühl, BRAK-Magazin 02/2013, 13; Kudlich, NStZ 2013, 379 ff.; Knauer, NStZ 2013, 433 ff., Mosbacher, NZWiSt 2013, 201 ff.
4 So die Überschrift in dem Artikel von Janisch in der Süddeutschen Zeitung vom 8.11.2012.
5 Neumeyer, DPA, Mittelbayerische Zeitung vom 7.11.2012.
6 Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 6.11.2012.
7 Vgl. hierzu Kier/Bockemühl, öAnwBl 2010, 402, 404 ff.
8 Statt aller Schünemann, Strafprozessuale Absprachen in Deutschland – Der Rechtsstaat auf dem Weg in die »Bananenrepublik«?, 2005.
9 BGHSt 43, 195 ff.
10 BGHSt 50, 41 ff.
11 Vgl. zur Entstehung des Gesetzes nur v. Heintschel-Heinegg, KMR, § 257c Rn 1 ff.; Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung in Strafverfahren, Teil A Rn 18 ff.
12 Detlev Deal, Der Strafprozessuale Vergleich, StV 1982, 545 ff.
13 Diese sind abgedruckt in öAnwBl 2007, 183 ff.
14 Der OGH hat in seiner Entscheidung vom 24.8.2004 – 11 Os 77/04 (EvBl 2005/64) – der Praxis der Absprachen im Strafverfahren eine eindeutige Absage erteilt und eine Beteiligung an Absprachen sogar für strafbar erklärt. In einer weiteren Entscheidung vom 4.3.2010 – 13 Os 1/10 m (EvBl 2010/76) – hat der OGH seine Rechtsauffassung bekräftigt; vgl. hierzu Kier/Bockemühl, öAnwBl 2010, 402 ff.; Soyer, Joural für Strafrecht 2013, 37, 41 f. unternimmt nunmehr einen erneuten Versuch, Absprachen zumindest im Unternehmensstrafrecht zu fordern.
15 Ruhri, Verständigungen im Strafverfahren, öAnwBl 2010, 243 ff.
16 Kier/Bockemühl, öAnwBl 2010, 402 ff.
17 Soyer, Joural für Strafrecht 2013, 37 ff, 41 f.
18 Föhrig, Kleines Strafrichter-Brevier – oder: Der überlastete Strafrichter? Wegweiser zur zügigen Urteilsfindung, 2008; zwischenzeitlich sind weitere »Handreichungen« erschienen. Vgl. nur Heinrich, Konfliktverteidigung im Strafprozess, 2013, passim.
19 BGH – 1 StR 104/08 – StraFo 2009, 158 m. krit. Anm. Bockemühl, 158 ff.
20 https://blog.strafrecht.jurion.de/2011/01/auf-nach-augsburg-zum-prozess-gegen-ra-lucas-wer-faehrt-mit/
21 Friedrichsen, in: Strafverteidigung auf neuen Wegen? – 2. Dreiländerforum Strafverteidigung Regensburg, 2012, 19 ff, 32 ff; dies. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/streit-um-absprache-gericht-spricht-angeklagten-anwalt-frei-a-754615.html
22 Friedrichsen https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-77299731.html
23 Vgl. nur die Ergebnisse der Arbeitsgruppe 2 und die Forderung nach Abschaffung von § 46b StGB in: Strafverteidigervereinigungen [Hrsg.] Abschied von der Wahrheitssuche, Texte und Ergebnisse des 35. Strafverteidigertages, 2012, 338.
24 Vgl. auch die inzwischen erschienene Dokumentation von Altenhein/Dietmeier/May, Die Praxis der Absprachen, 2013, passim
25 Vgl. hierzu auch das Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – Rdnr. 48 ff.
26 Als Beleg hierfür mögen die Ausführungen von Mosbacher, NZWiSt 2013, 201 ff reichen.
27 Die Revision wurde zwischenzeitlich durch den BGH – 1. Senat – verworfen.
28 BGH StV 2011, 647 f. m. Anm. Schlothauer.
29 Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Thesen zur Strafverteidigung, 1992; die Thesen werden derzeit durch den Strauda überarbeitet.
30 Auch die neuen »Thesen zur Strafverteidigung« werden eine der »alten« These 41 entsprechende enthalten, wonach der Verteidiger – auch im Rahmen einer Verständigung – nicht an einer Verurteilung eines Unschuldigen mitwirken darf!
31 Vgl. Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StV 2013, 353 ff. m. Anm. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 ff; Bockemühl, BRAK-Magazin 02/2013, 13; Kudlich, NStZ 2013, 379 ff.; Knauer, NStZ 2013, 433 ff., Mosbacher, NZWiSt 2013, 201 ff. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 ff sprechen in ihrer Anmerkung zutreffend davon, dass der »Deal« unter Bewährung steht.
32 Vgl. hierzu auch Bockemühl, in: Strafverteidigung auf neuen Wegen? – 2. Dreiländerforum Strafverteidigung Regensburg, 2012, 199, 205 ff.
33 Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV, Strafverteidiger-Lieder
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