Das Strafverfahren wendet sich fürsorglich dem Opfer zu. Diese Vision erfüllt den Prozess vor dem Urteil, sie erfüllt das ungeliebte Amt des Strafrichters mit neuem Sinn. Und wenn die Fürsorge im Einvernehmen mit dem Angeklagten gewährt wird, steht uns das schöne Bild einer heilenden Gerichtswelt vor Augen. In dieser Welt wird materiell gedacht und werden Formen als Formalismus abgetan, um ungehindert moralisch handeln zu können.
Das Opfer im Strafprozess hat mit Reemtsma seine öffentliche Stimme und mit dem Anspruch auf Genugtuung sein Programm gefunden. Wäre Genugtuung durch rechtskräftiges Urteil gemeint, könnte alles beim Alten bleiben. Reemtsma aber wollte seinen Prozess von Beginn an als Abrechnung mit einem ohnehin geständigen Täter, und er hatte respektable persönliche Gründe dafür. Die offensive Gegenwart des Opfers im Verfahren trug dazu bei, dass jedenfalls der Entführer D. die beanspruchte Genugtuung bis zum Urteil verweigert hat. Realitäten sind derzeit noch stärker als Visionen.
Schlichtungen in der Hauptverhandlung sollen die Vision stärker werden lassen als die Realität. Das strebt die Bundesjustizministerin an, die der politische Fürsprecher des Opfers geworden ist. Nach ihrem Willen soll das Strafverfahren dem Verletzten zur Seite stehen.
Dass für Angeklagte, die schweigen oder bestreiten, die Unschuldsvermutung beschworen wird, findet bei den Verfechtern des solidarischen Prozesses kein Verständnis. Die sozialpolitische Lösung weiß immer schon, wer schweigen oder bestreiten darf und wer nicht.
Zu den Freunden schützender Formen zählt aber fortan der Staatsanwalt, den das Landgericht Stendal unlängst freigesprochen hat. Seine frühere Partnerin beschuldigte ihn in Opfer und Zeugin, er habe ihr Gewalt angetan. Das Ringen neigte sich erst dem Ende zu, als sie aussagte, der Mann verteile hochgefährliche Viren auf den Türklinken des Justizgebäudes. Zumindest dieser aus der Untersuchungshaft in sein Dienstzimmer zurückgekehrte Amtsträger hat gelernt, dass die vor dem Urteil gezeigte Solidarität für das Opfer leicht zum getarnten Ressentiment gegen den sich verteidigenden Angeklagten wird. Mit der fürsorglichen Gesetzgebung der vergangenen Jahre wandelt sich die Aussage des hochgerüsteten Opferzeugen von der Wissensbekundung zur Parteierklärung eines Zusatzanklägers, der seine Interessen hinter der Maske des Beweismittels wahrnehmen kann. Schünemann, dem wir diese zornigen Worte verdanken, sieht die klassischen Verteidigungsprinzipien unter der Asche der legislativen Eruptionen begraben wie die Kunstwerke Pompejis.
Die Asche – dazu gehören erstens die Informations- und Akten-einsichtsrechte des Verletzten auch in der Rolle als Zeuge, selbst wenn er kein Nebenkläger wird. Das ist zweitens der für ihn im gesamten Verfahren ermöglichte machtvolle anwaltliche Beistand. Und das sind drittens die verschiedenen Stufen prozessualer Abschirmung, die des Opfer als Zeugen vor der offenen Konfrontation mit seinem Gegner, dem Angeklagten, bewahren sollen.
Eine besondere Erscheinungsform eben dieser Abschirmung war das Mainzer Modell, dessen Grundgedanke durch § 247 e StPO modifiziert und auf erwachsene Zeugen ausgedehnt worden ist. Der Begriff erinnert an umfangreiche Verfahren in dieser Stadt, die mit Freisprüchen für sämtliche Angeklagte zum Ground Zero der Strafjustiz geworden sind. Am Ende hat sich ein Vorsitzender Richter bei den Angeklagten, sie kamen alle aus Worms, für die Rechtspflege entschuldigt. Er hat die Kinder, über deren angeblichen Missbrauch verhandelt worden ist, als Opfer bezeichnet – doch nicht der Angeklagten, sondern der Prozesse.
Seither kann man über eine »weitere Stärkung des Opferschutzes« nicht diskutieren, ohne der Lehre aus Worms I, II und III zu gedenken. Diese besagt, dass Zeugen durch privaten, behördlichen und prozessualen Übereifer gewollt oder ungewollt zu unbewussten Falschaussagen manipuliert werden können. Deren Aufdeckung bleibt, wie auch der vorausgegangene Skandal Montessori in Münster gezeigt hat, ein Glücksfall, den das moderne, die mutmaßlichen Opfer schützende Verfahrensrecht eher unwahrscheinlich macht.
Suggerierte oder sogar therapierte Erinnerung ist nicht einmal mehr für den erwachsenen Zeugen ohne weiteres als Fiktion erkennbar.
Der Eifer, der die Wurzel solchen prozessualen und normativen Übels ist, hat eine einflussreiche Lobby. Dem Weißen Ring zum Beispiel, er lebt von Spenden und profitiert von § 153 a StPO oder von Bewährungsauflagen, gilt die sogenannte Täterorientierung des Strafprozesses immer noch als »struktureller Mangel.« Das mit der Gesetzgebungs-spirale der letzten Jahre Erreichte wird dort nur als Etappe verstanden. Inzwischen hat sich der mächtige Rat der Europäischen Union jener Lobby zugesellt. Auch dabei spielen Interessen eine unheilvolle Rolle. Der Rat leitet nämlich aus seiner Mitverantwortung für grenzüberschreitende Sicherheit des europäischen Raums die Zuständigkeit im Blick auf den Bürger als Opfer ab. Wie das Kaninchen aus dem Zylinder wird daraus eine sonst versperrte europäische Teilkompetenz für den Strafprozess gezogen, in dessen Mitte fortan folgerichtig der Verletzte stehen muss.
Da aber die Rechtstechnik des Opferschutzes in Deutschland schon maximiert worden ist, bleibt nur noch eins – eine kopernikanische Wende, die den Opferzeugen zum zentralen Subjekt des Verfahrens macht. Käme es dazu, die zu erörternden Pläne liegen bereit, dürften wir vor Gericht das Beweismittel nicht mehr so distanziert und so kalt betrachten, wie es der Bundesgerichtshof bislang für geboten hält, um die Glaubhaftigkeit belastender Aussagen gerade auch mutmaßlicher Opfer zu prüfen. Dieser klinische Maßstab ist (oder besser war) die sogenannte Nullhypothese von Rechts wegen, wonach die Bekundung bekanntlich solange für unrichtig gehalten werden muss, bis die gesammelten Fakten das Gegenteil belegen.
Wer dem Verletzten die Qual einer solchen Glaubwürdigkeitsprobe in Zukunft nicht mehr zumuten will, muss Konsequenzen ziehen. Dem Opfer ist dann die Wahl zu eröffnen, entweder Zeuge zu sein, dies aber ohne jedes Privileg, oder Partei, deren Aussage kein Beweismittel sein kann. Dass die Entwicklung auf solche oder auf ähnliche Brüche mit großen Schritten zuläuft, lässt sich an drei Beispielen (nicht nur der Eckpunkte) zeigen.
II. Das gesetzliche Vorurteil
Loslösung der Richterrolle aus dem Netz der Erfahrungswissenschaften
Ein Gesetzesentwurf des Bundesrates »zur Stärkung der Verletztenrechte« sieht vor, dass die wichtigsten Opferzeugen ungeachtet ihres Alters allein von dem Vorsitzenden vernommen werden. Der Reformplan will diese Zeugen gerade in den kontroversen Fällen, denn bei geständigen Angeklagten braucht man die Regelung nicht, vor psychischen Belastungen bewahren. Da der Entwurf den möglichen Gegenstand der dem Richter vorbehaltenen Fragen nicht einschränkt, ja sogar weiterhin Frageanträge zulässt, hat er einen leicht zu erschließenden Sinn. Es geht darum, dem Opfer als Verletzten die unmittelbare Befragung durch den Verteidiger prinzipiell zu ersparen. Der Zeuge soll mit dieser Regelung ganz offenbar vor dem vermuteten Leid bewahrt werden, das darin bestünde, dem Vertreter seines Peinigers (oder sogar diesem selbst, wenn er nicht aus der Hauptverhandlung entfernt wird) auf geeignete und zur Sache gehörende Fragen Auskunft zu geben.
Das kann aber nur auf solche Zeugen zutreffen, die den Angeklagten wahrheitsgemäß beschuldigen. Wer den Angeklagten verleumdet, sich durch Falschaussagen strafbar macht und auf ein Fehlurteil abzielt, darf Schonung nicht beanspruchen. Bei Licht besehen, schützt der Entwurf die Zeugen, weil er unterschiedslos voraussetzt, dass der betroffene Angeklagte der Täter und dass der geschonte Zeuge dessen Opfer ist. Diese Voraussetzung gibt die Nullhypothese auf und stellt ein gesetzliches Vorurteil dar, das man als die Kehrseite der frühen Genugtuung bezeichnen könnte.
Niemand sollte sich Illusionen hingeben. Bei den durch Geständnis unstreitigen Anklagen wird es fast immer gleichgültig sein, ob das unmittelbare Fragerecht aufgehoben wird oder nicht. Die angestrebte Neuregelung hat, indem sie den Prozessbeteiligten ein Vorurteil aufzwingt, primär die kontradiktorischen Fälle im Blick. Das normierte Vorurteil wird dort aber zum subtilen Signal – dem Richter wird die Schutzbedürftigkeit des Zeugen verdeutlicht, gegen dessen Aussage sich der Angeklagte verzweifelt zur Wehr setzt, und der Zeuge selbst wird in seiner Belastungstendenz fürsorglich bestärkt, weil das Prozessrecht sich mit ihm erkennbar solidarisch macht. Das befangene Gesetz, käme es denn dazu, nimmt die damit verbundenen Gefahren für die Wahrheitsfindung stillschweigend in Kauf. Dafür bleibt eine einzige Erklärung – seine Autoren halten für richtig, dass im Zweifel zugunsten des Opfers entschieden werden soll.
Es wäre leichtfertig, den Entwurf demgegenüber nur als die Vollendung des schon geltenden Rechts zu verstehen, das einen solchen Schutz allein den Zeugen unter 16 Jahren zubilligt. Das geltende Recht war und ist lediglich der Versuch, die Vernehmung in den Händen des Vorsitzenden zu belassen, von dem (freilich oft irrig) angenommen wird, er sei dazu pädagogisch am besten befähigt. Erst der Entwurf, der die Ausnahme in eine Regel verwandelt, stürzt des Verfahren um.
Wer diesen Umsturz will, verachtet die Verteidigung, weil die Anwaltschaft gerade dort aus der Vernehmung verdrängt werden soll, wo am meisten auf dem Spiel steht. Er verachtet aber auch den Schatz der Erfahrungswissenschaften, die uns längst gelehrt haben, dass Zeugenaussagen sehr leicht ein Echo der in den Fragen aufscheinenden Erwartungen des sich zuwendenden Vernehmers werden. Muss denn der Zeuge, der schon im Ermittlungsverfahren falsch ausgesagt hat, nicht alle Anstrengungen einsetzen, um dem väterlich oder der mütterlich fragenden Vorsitzenden keine überraschenden Enttäuschungen zuzufügen? Daher ist es die vielbeschworene Wahrheit selbst, die verlangt, das Vernehmungsrecht des als Folge seiner Aktenkenntnis vorgeprägten Vorsitzenden durch die kontradiktorischen Fragerechte der Verteidigung (und übrigens auch der Staatsanwaltschaft) wirksam zu ergänzen, ja zu kontrollieren. Nicht zuletzt wird der Vernehmende, wenn er verpflichtet ist, anderen Fragestellern zuzuhören, davor bewahrt, sein Werk unkritisch für richtig zu halten. Auch diese Versuchung des Vernehmungsmonopols ist psychologisch erwiesen.
Im Bundesrat versammelt sich die geballte Kompetenz der Landesjustizverwaltungen. Da fällt es schwer, den Verfassern des Entwurfs Naivität zuzubilligen. Es geht ihnen, die Schlussfolgerung liegt nahe, vielmehr darum, die lästigen Zwänge der Unschuldsvermutung zu lockern und ein Vorurteil zugunsten des mutmaßlichen Opfers normativ zu verankern. Dieses Vorurteil lastet dann aber von vornherein als Druck auf dem schweigenden oder bestreitenden Angeklagten, weil er sich sehr bald ausrechnen kann, dass er gegenüber dem Opferzeugen den Kürzeren ziehen wird. Das mit dem Novum verbundene lauernde und gesetzlich fundierte Drohpotential würde vom kontradiktorischen Strafprozess abschrecken. Es würde die Unterwerfung fördern, die als konsensuale Erledigung verstanden, Genugtuung genannt und von vielen, oft auch von uns, gepriesen wird.
III. Der gewollte Griff nach dem Vorurteil
Loslösung der Richterrolle aus dem Prozess als Quelle der Rechtsfindung
Frühe Genugtuung und Schlichtung, das ist immer auch der Deal. Dazu gehört dessen Vorspiel. Der Bundesgerichtshof will es dem Gericht nicht verwehren, den bestreitenden Angeklagten schon vor der Beweisaufnahme über das Höchstmaß der Strafe zu unterrichten, die im Falle eines Geständnisses zu erwarten sei. Er bezeichnet dies als
»zweckmäßig […], um dem Angeklagten eine bessere Abschätzung der Chancen und Risiken seines Einlassungsverhaltens zu ermöglichen (und) ihn unter Umständen zu einem Geständnis zu veranlassen, das er bei völliger Ungewissheit über das für diesen Fall vom Gericht in Betracht gezogene Strafmaß nicht ablegen würde …«.
In einem anderen vom Bundesgerichtshof überprüften Verfahren hat der so instruierte Angeklagte seine Wahl auf Punkt und Komma genau treffen können. Bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung hatten die Berufsrichter nämlich mitgeteilt, »welches Strafmaß im Falle einer Verurteilung entsprechend der Anklageschrift ohne bzw. mit Geständnis […] zu erwarten ist.«
Übrigens gab es eine ähnliche Episode (man möchte fast sagen: natürlich) auch in dem frühen Wormser Verfahren. Damals bedrängte der Vorsitzende Richter die noch inhaftierten Angeklagten zu gestehen, um den Opfern als Zeugen die Begegnung mit ihnen zu ersparen. Dazu eine Journalistin: »Die Frage, ob die Kinder tatsächlich von ihren Angehörigen missbraucht worden sind, war für den Richter längst beantwortet.«
Die traktierten Angeklagten haben dem erstaunlicherweise widerstanden, weshalb sie später unter einem neuen Vorsitzenden freigesprochen werden konnten.
Die gerühmte Transparenz und in der Regel auch die berüchtigte Wirkung, die mit dem vorgezeigten Instrument der Sanktionenschere erzeugt werden sollen, noch ehe die Beweisaufnahme beginnt, gelten als Musterbeispiel für den modernen kommunikativen Prozess. Im Laufe der Jahre hat sich die Strenge gegenüber bestreitenden Angeklagten immer weiter von der milden Ahndung später Geständnisse entfernt. Jähnke, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, berichtet von einem Fall, bei dem zunächst für ein Geständnis zwei Jahre mit Bewährung offeriert und später, als der Angeklagte weiter bestritt, sieben Jahre verhängt worden sind. Ob solche exorbitanten Spannen vom Gesetz gedeckt sind, wäre an anderer Stelle zu klären. Doch macht es nachdenklich, dass die Strafjustiz die Labilität bereitwilliger Unterwerfung belohnt und Standhaftigkeit poenalisiert – kann opportunes Verhalten so ohne weiteres mit schon eingetretener Resozialisierung gleichgesetzt werden?
Da richterliche Hinweise, die milde und strenge Sanktionen konkret vergleichen, dem Opfer behilflich sind, handelt es sich um einen scheinbar idealen Anwendungsfall des Transparenzprinzips. Abstrakt, aber eindeutig genug, wollen die Eckpunkte die – so wörtlich – »grundsätzliche Billigung eines solchen Verfahrens festschreiben und dadurch klarstellen, dass entsprechende Äußerungen des Gerichts den Vorwurf der Befangenheit nicht begründen.«
Das würde jene wuchernde informelle Praxis der Einschüchterung des Angeklagten legalisieren, aber auch entfesseln. Mit dem Ablehnungsrecht wäre der vorerst letzte Damm gebrochen.
Die Popularität des an früher Transparenz orientierten Prozessmodells beruht auf einem neuen Richterbild. Kommunikation vor dem Urteil befreit den Richter von der lastenden Passivität seiner Rolle. An deren Stelle tritt die Chance, den Prozess mit Aktivitäten zu verkürzen, die auf Geständnis abzielen, auf Opfer-Ausgleich, auf vereinbarte Strafe und Rechtskraft. Auch die richterlichen Hinweise greifen jedoch nach dem Vorurteil. Erstens nämlich stützen sie sich auf vorläufig genannte Einschätzungen, die aus den Akten oder aus Prognosen abgeleitet werden, nicht aber aus den schon in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen, die allein Grundlage des Urteils sind. Zweitens setzen sie die Verfassungsregel des Art. 103 Abs. 1 GG außer Kraft, weil sie nicht notwendigerweise aus vorausgegangenem rechtlichen Gehör entnommen werden, sondern zumeist aus einer ohne Diskurs gewonnenen Meinung. Mehr noch – ihrem Wesen nach beanspruchen die Hinweise Gehör, bevor der Angeklagte sich entscheidet, was die Reihenfolge der richterlichen Aufgabe sogar auf den Kopf stellt. Drittens wird, indem der Angeklagte durch richterliche Empfehlungen beeinflusst werden soll, die alleinige Beratungskompetenz der Anwaltschaft ausgehebelt, die ein Element der Richtigkeitsgewähr des Prozesses ist. Und viertens schließlich erhält die Empfehlung Zwangscharakter, weil der sie abgebende Richter die damit mehr oder weniger deutlich verbundene Drohung sich selbsterfüllend wahrmachen kann, falls der Angeklagte störrisch bleibt. All dies lässt die danach stattfindende Unterwerfung unzuverlässig und zweifelhaft werden.
Das Scenario wird vollends unerträglich, wenn die Hinweise dem Opfer Genugtuung durch frühes Geständnis und zugleich schnelle Wiedergutmachung durch einen zivilrechtlichen Vergleich in der Hauptverhandlung verschaffen wollen. Genau dies, nämlich den gerichtlichen Vorschlag einer solchen vorgezogenen Schlichtung, streben die Eckpunkte an. Soweit der Prozess darauf angelegt wird, den Opfern durch ein Bußritual Genugtuung und Schadensausgleich schon vor dem Urteil zu gewähren, trennt sich das Verfahren aber von dem bislang einzigen Ziel der an die Beweisaufnahme anschließenden Entscheidung.
Es genügt sich damit – als Ort der Kommunikation von Prozessbeteiligten – selbst. So wird der Weg das Ziel. Als Grundlage dafür steht wiederum nur das vorläufige und damit das Vor-Urteil bereit.
Wie verhält es sich demgegenüber heute? Die sogenannte informelle Praxis findet zumeist im Schatten und dialogisch statt. Der geschickte Verteidiger hat es dabei in der Hand, ob ihm einschlägige Hinweise gegeben oder ob sie im Keim erstickt werden. Er kann den unsicheren Inhalt solcher Hinweise noch im Gespräch präventiv beeinflussen und bleibt in der Lage, Drohungen zu unterbinden, bevor sie wirksam werden, oder durch förmlichen Antrag unschädlich zu machen. Dieser letzte und filigrane Rest einer Absicherung gehört zur Schattenwelt. Mit ihr geht er unter, wenn das dem Richterbelieben überlassene Transparenzprinzip gesetzlich geregelt und damit als Folge der Vorurteilslizenz auch das Ablehnungsrecht gegenstandslos würde. Informalität war Freiheit außerhalb des Prozesses. Das Reformvorhaben will den Richter im Prozess vom Prozess befreien.
IV. Konsens ohne Legitimation
Loslösung der Richterrolle aus dem verfassungsrechtlichen Rahmen
Das Recht prägt seine Akteure. Die Verteidiger laufen in dem beschriebenen Scenario immer Gefahr, Boten und Dolmetscher der Signale zu sein, die Druck und Drohung übermitteln. Dieses traurige Los ist längst unser Alltag geworden. Ein Strafrecht, das stattdessen unter der Herrschaft des Zweifelssatzes von der Feststellung schwieriger äußerer und innerer Tatsachen abhängt, und ein Strafprozess, der bis zum Urteil praktizierte Unschuldsvermutung ist, prägen den distanzierten, zögernden, unparteilichen Richter. Ein neuer Strafprozess aber, der schon vor dem Urteil Genugtuung und Schlichtung will, prägt ganz anders.
Interventionen des Richters, die das Prozessverhalten des Angeklagten mit dem Ziel beeinflussen wollen, Geständnis und Konsens herbeizuführen, können auf sehr unterschiedlichen Gründen beruhen. Jedenfalls wenn sie stattfinden, während das Ergebnis noch offen ist, weil der Angeklagte bestreitet, handelt es sich um die Ausübung von Macht. Die richterliche Maßnahme verzichtet dann darauf, das formelle und materielle Recht in den notwendigen umständlichen Schritten nachzuvollziehen. Daraus folgt der Verlust der Legitimation durch den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers. Das ist einer der Preise, die für das Vorurteil entrichtet werden müssen.
In einem solchen Fall kommt als Legitimation nur noch der Konsens in Betracht. Wenn der Konsens durch Druck herbeigeführt wird, besteht er zum Schein. Darin liegt die Gefahr aller Versuche, das Strafverfahren schon vor dem Urteil an Genugtuung und Rechtsfrieden als neuem Ziel zu orientieren. Aus der Sicht des Angeklagten kann der intervenierende Richter die Verweigerung von Einvernehmen durch unerwünschte Feststellungen und durch unverhältnismäßige Sanktionen bestrafen.
Weil es keine funktionierende gesetzliche Regelung und keine richterliche Kontrolle solcher Prozesse geben kann, fehlt dem durch Macht hergestellten Konsens die Legitimation – das scheinbare Einvernehmen ist in sich brüchig und die an dessen Zustandekommen beteiligten Richter handeln weithin in einem der Überprüfung entzogenen Raum. Strafrecht ist Zwang, Mediation wird hier zum gefährlichen Missverständnis.
Auch die Protagonisten der Schlichtungsidee wissen: Fehlt es an gleicher Verhandlungsmacht (oder, was dasselbe wäre, an der idealen Sprechsituation und am herrschaftsfreien Diskurs), droht das Diktat. Unter dem Deckmantel der Versöhnung findet dann Entrechtung statt. Im kommunikativen Strafprozess gibt es keine Geschäftsordnung, die gegen Druck und Ungleichheit immunisiert. Der dem mächtigen Strafrichter aufgegebene Weg zur Lösung des Konflikts bleibt allein der faire Prozess.
Ausübung von Macht auf einem neuen Wege, die nicht als Gesetzesvollzug verstanden werden kann und auch nicht von einer wirklichen Einwilligung des Unterworfenen abhängt, ist dem Staat des Grundgesetzes fremd. Die richterliche Unabhängigkeit hat unter solchen Bedingungen ihre konstitutionelle Geschäftsgrundlage verloren. Der Sache nach handelt es sich um ein Stück staatlicher Sozialarbeit, aber nicht um Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 GG.
Je mehr sich der Prozess vor dem Urteil in einen solchen durch Vorurteil verwandeln soll, desto größer wird deshalb die (auch) dem Richteramt drohende Gefahr. Wenn die Gefahr sich auf breiter Fläche verwirklicht, könnte eine rechtspolitische Wechselwirkung ausgelöst werden – sie bestünde darin, dass richterliche Abhängigkeit von der Exekutive, weil wenigstens der Justizminister sich vor gewählten Repräsentanten der Bürger verantworten muss, mehr Schutz als (scheinbar) sinnlos gewordene richterliche Unabhängigkeit vermitteln würde. Der sogenannte konsensuale Prozess hätte dann dort, wo er zur Regel wird, das Richteramt und damit zugleich das Verfahren zerstört.
Was also ist zu fordern? Richterliche Hinweise im Strafprozess dürfen einen Zusammenhang zwischen prozessualem Verhalten und möglichen Sanktionen nur dann herstellen, wenn der Angeklagte verteidigt ist und dies beantragt. Umgehungen sind zu verbieten. Staatsanwälte sollen freier bleiben, müssen aber, damit sie nicht Überbringer unzulässiger Botschaften werden, darauf verzichten, ihre Meinungsäußerungen zuvor mit dem Gericht abzustimmen. In Betracht zu ziehen ist eine Vorschrift, die das Gericht an den Strafantrag des Staatsanwalts als Obergrenze bindet. Dann könnten einschlägige Abklärungen zwischen »den Parteien« stattfinden, die den Richter nicht kompromittieren. Da das eigentliche Drohpotential nicht von der Anklagebehörde verwaltet wird, wäre es um ein gutes Stück entschärft.
V. Die vereitelte Genugtuung
Strafrecht ist formalisierte Sozialkontrolle. Das unterscheidet Strafrecht von der Willkür privater Sozialkontrolle. Diese Einsicht verdanken wir Hassemer. Sie bedeutet, dass bereits dem materiellen Strafrecht die Legitimation abhanden kommt, wenn der Strafprozess sich von Unschuldsvermutung, Zweifelssatz und Fairness entfernt.
Der Zusammenhang ist so schlicht, dass er sich kaum noch für eine Rede eignet. Die Formen müssen den Angeklagten bis zum Zeitpunkt des rechtskräftigen Urteils schützen, weil mit dem Ausgang des Verfahrens allein für ihn viel, manchmal alles auf dem Spiel steht. Dem mutmaßlichen Opfer nehmen die Formen nichts – denn die mit einem gerechten Urteil verbundene wahre Genugtuung wiegt das Zuwarten und wiegt die Last der Zeugenrolle auf.
Werden die Opfer dagegen zum Zweck, und die europäische Initiative ist nur ein Beispiel dafür, dann werden sie benutzt. Die so errungene Wirkung kostet einen hohen Preis – mit den Formen würde die wahre Genugtuung, die nur von Rechts wegen und nicht durch hastige Pression zu haben ist, vereitelt.
Dann würden die Opfer dem Opferschutz zum Opfer gebracht. Oder, um es mit Peter-Alexis Albrecht zu sagen, dann wäre mit den Formen am Ende die vom Strafrecht zu schützende Freiheit geopfert. Werden die Opfer schwach geredet, um Härte zu zeigen?