Hamburg, 3. März 2024
Vom 1. bis 3. März 2024 haben mehr als 800 Strafrechtsexpert*innen – Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, Vertreter*innen der Wissenschaft und der Justiz – über aktuelle Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht beraten.
Die Tagung hat per Mehrheitsabstimmung im Plenum beschlossen, die folgenden Thesen und Forderungen aufzustellen.
Vorab sei bemerkt:
Das materielle Strafrecht wie auch das Prozessrecht haben in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Reformen und Überarbeitungen erfahren. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wurde dabei die Strafbarkeit ausgeweitet, während schützende Verfahrensrechte der Beschuldigten und ihrer Verteidigung abgebaut wurden. Keine dieser Reformen hat die Justiz »effizienter« gemacht oder »beschleunigt«.
Der Strafverteidigertag hat stets darauf verwiesen, dass die geforderte »Effizienz« und »Geschwindigkeit« unangemessene Maßgaben für die Gestaltung eines Verfahrens sind, in dem staatliche Behörden Macht gegenüber Beschuldigten ausüben. Diese Macht bedarf der Kontrolle und wirkungsvoller rechtlicher Instrumente, um den Machtmissbrauch zu verhindern. Das von der Justiz stets beklagte Misstrauen gegenüber der Rechtmäßigkeit justiziellen Handelns ist daher im Strafverfahren nicht nur angebracht, sondern erste Bürgerpflicht.
Wir erleben heute, wie die ersten Reformen seit mehr als zwei Jahrzehnten, die auf eine bessere Sicherung des Verfahrens vor dem institutionalisierten Machtmissbrauch oder die Entkriminalisierung von Bürgerinnen und Bürgern abzielen – namentlich die Einführung einer technischen Dokumentation der Hauptverhandlung, eine gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Personen und die wenigstens ansatzweise Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten –, mit denselben Argumenten blockiert werden: der Überlastung der Justiz und der Klage über das der Strafjustiz und den Verfolgungsbehörden entgegengebrachte Misstrauen.
Der Strafverteidigertag appelliert an die Rechtspolitik im Bund wie in den Ländern, dringend notwendige Reformen nicht aus parteipolitischem Kalkül oder Klientelpolitik zu verhindern. Eine transparente und durch starke, die Freiheit schützende Beschuldigtenrechte gegen den Missbrauch von Macht gesicherte Strafjustiz stärkt die Demokratie und das Vertrauen der Menschen in sie. Eine starke Demokratie wiederum schützt die Freiheit, auch dann, wenn Verbote, schnelle Verfahren und eine vermeintlich harte Hand einfacher erscheinen.
Im Einzelnen fordern wir:
1. … die vollständige Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung
Der Strafverteidigertag fordert einmal mehr die Einführung einer verpflichtenden audio-visuellen Dokumentation der Hauptverhandlung.
Dies gebietet bereits der Auftrag der »bestmögliche(n) Erforschung der materiellen Wahrheit«. Die automatisierte Transkription von Tonaufzeichnungen ist ein bewährtes und vielfach erprobtes Instrument, die vorgebrachten technischen Bedenken müssen als vorgeschoben erscheinen.
Es ist nicht mehr zu vermitteln, dass ausgerechnet in Strafverfahren die Inhalte der Beweisaufnahme nicht festgehalten werden. Während in Fußballstadien seit Jahren mit Kamera- und Computertechnik millimetergenau darüber gewacht wird, ob der Ball in Gänze über der Linie war oder nicht, sind im Strafverfahren, wo es oft um die Freiheit und soziale Existenz von Menschen geht, weiter Bleistift und Kugelschreiber im Einsatz. Weder die Aussagen von Beschuldigten noch von Zeugen oder Sachverständigen sind am Schluss der Beweisaufnahme objektiv reproduzierbar.
Eine wortgetreue Dokumentation würde der Gefahr einer unvollständigen, weil notwendig verkürzten Inhaltsnotiz vorbeugen, die eine Ursache von Fehlurteilen ist. Sie diente der Objektivierung und Verbesserung der Beweisaufnahme, der besseren Sachaufklärung, der Vorbeugung von Fehlern und Machtmissbrauch und damit der Wahrheitsfindung im Strafprozess.
Der Strafverteidigertag fordert daher die Länder auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben, im Vermittlungsausschuss Größe zu zeigen und dem Gesetz in der vorgelegten Entwurfsfassung doch noch zuzustimmen.
2. … die verpflichtende Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und insbesondere polizeilicher Ermittlungsmaßnahmen
Die mangelnde Dokumentation von Ermittlungshandlungen ist eine zentrale Fehlerquelle im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Polizeiliche Vernehmungen – ob von Zeugen oder Beschuldigten – werden in der Regel nicht aufgezeichnet, auch wenn das Gesetz die (audio-visuelle) Dokumentation nicht ausschließt. Dabei würde eine lückenlose Dokumentation auch den Ermittlungsbehörden bei der Vermeidung typischer Fehler helfen und die Wahrheitsfindung fördern.
Die Einführung einer verpflichtenden Dokumentation auch im Ermittlungsverfahren ist im Koalitionsvertrag vorgesehen; ein Gesetzentwurf liegt aber nicht vor. Auch wenn eine gesetzliche Regelung schwieriger erscheint, als die der Dokumentation der Hauptverhandlung, sieht der Strafverteidigertag die Notwendigkeit, die technische Dokumentation polizeilicher Ermittlungshandlungen ab dem Zeitpunkt des ersten Hinweises auf eine mögliche Straftat verpflichtend zu regeln und die Hoheit über die Ermittlungs»wahrheit« nicht alleine und ohne Kontrollmöglichkeit den ermittelnden Beamten zu überlassen.
3. … die gesetzliche Regelung des Einsatzes sog. V-Personen
Der Einsatz privater (sog. V-Personen) zu strafrechtlichen Ermittlungen stößt seit jeher auf verfassungsrechtliche Bedenken; der Verweis auf die Ermittlungsgeneralklauseln kann den mit der Maßnahme einhergehenden Grundrechtseingriff alleine nicht rechtfertigen. Eine gesetzliche Regelung ist schon von daher unabdingbar und kann nicht mit dem Glauben an die Vertrauenswürdigkeit der Ermittlungsbehörden abgetan werden.
Der Strafverteidigertag missbilligt grundsätzlich den Einsatz von V-Personen – also Privater, denen staatliche Institutionen Vertrauen schenken, um das Vertrauen anderer auszunutzen – zum Zwecke der Strafverfolgung.
Eine gesetzliche Regelung aber müsste mindestens folgende Kriterien erfüllen:
– Der Einsatz von V-Personen muss – dem Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsgrundsatz entsprechend – auf bestimmte Deliktsbereiche und besonders schwere Straftaten beschränkt werden.
– Voraussetzung für den Einsatz von V-Personen muss immer die Aufklärung einer konkreten, bereits begangenen Straftat sein. Für deren Verwirklichung müssen (mindestens) zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.
– Der Einsatz von V-Personen muss aufgrund seiner besonderen Eingriffsintensität unter einem Richtervorbehalt stehen.
– Die Voraussetzungen für die Erteilung von »Vertrauen« müssen überprüfbar sein und dokumentiert werden.
– Eine VP, deren Angaben zur Beweisführung im Strafprozess genutzt werden sollen, muss zur Wahrung des Konfrontationsrechts des Angeklagten grundsätzlich in der Hauptverhandlung vernommen und durch die Verteidigung konfrontativ befragt werden können.
Zur Tatprovokation:
Die staatliche Tatprovokation ist der Sündenfall des Rechtsstaats; sie muss in jeder Form unzulässig sein.
Der staatliche Auftrag zur Strafverfolgung und die Verleitung zu Straftaten durch staatliche Stellen schließen sich grundsätzlich aus. Strafrechtliche Normen werden entwertet, wenn staatliche Stellen oder in ihrem Auftrag handelnde Private durch die Verleitung zu einer Straftat den Rechtsbruch initiieren.
Der nicht-autoritäre Rechtsstaat hat seine Bürger in Frieden zu lassen, solange sie sich nicht erwiesenermaßen einer Normverletzung schuldig gemacht haben oder ein konkreter Anfangsverdacht dahingehend besteht; er darf insbesondere nicht die Normtreue seiner Bürger durch Schaffung von Tatanreizen auf die Probe stellen.
Der Strafverteidigertag fordert daher ein Verbot der staatlichen Tatprovokation.
4. … die Legalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten
Der Strafverteidigertag hat immer wieder einen anderen Umgang mit Rausch- und Suchtmitteln und eine weitgehende Entkriminalisierung des Umgangs mit sog. Betäubungsmitteln gefordert. Das vom Bundesgesundheitsministerium vorgelegte Gesetz geht aus Sicht des Strafverteidigertages daher bei weitem nicht weit genug. Es ist dennoch als ein erster Schritt und ein Versuch zu unterstützen, gegen die kontraproduktiven und sozialschädlichen Wirkungen der Kriminalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten vorzugehen.
Der Strafverteidigertag fordert daher die Länder auf, die angekündigte Blockade aufzugeben und dem Gesetz zuzustimmen.
5. … Gesinnungen und Meinungen dürfen keine Strafe begründen
Der Strafverteidigertag sieht mit Sorge, dass der erforderliche Kampf gegen rechte, rechtsradikale und antisemitische Gesinnungen und Handlungen einmal mehr mit dem Ruf nach einer Ausweitung der Strafbarkeit einhergeht.
Es ist ein Grundübel des Staatsschutzstrafrechts, über objektive Tatbestandsmerkmale bereits eingetretener Rechtsgutsverletzungen hinaus an der subjektiven Motivation anzuknüpfen und die Strafbarkeit auf subjektive Merkmale weit im Vorfeld einer möglichen Tat auszuweiten. Neben der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit in einen Bereich objektiv rechtskonformen Verhaltens (§ 89 a,b StGB) tragen aus Sicht des Strafverteidigertages auch die §§ 129, 129 a,b StGB gesinnungsstrafrechtliche Elemente und sind dringend reformbedürftig, wenn nicht sogar endlich abzuschaffen.
Die Ausweitung einer solchen, an subjektive Motivation und Gesinnung anknüpfenden Strafbarkeit stellt eine Gefahr für den Rechtsstaat und damit die Demokratie selbst dar, statt sie zu schützen. Gesinnung, auch üble und menschenfeindliche, darf kein Anknüpfpunkt für Strafbarkeit sein.