Wissenschaft und Praxis fordern eine Aufgabe der Blockadehaltung der Länder in Vermittlungsausschuss und Bundesrat
Immer wieder blicken wir in erstaunte Gesichter von jungen (Mit-)Studierenden, Mandantinnen und Mandanten, deren Familienangehörigen, Journalistinnen und auch in- wie ausländischen Kollegen, wenn wir diesen erklären müssen, dass in strafrechtlichen Hauptverhandlungen vor den deutschen Landgerichten nicht protokolliert wird, was Zeuginnen und Zeugen oder auch Sachverständige aussagen. Selbst bei zehn, zwanzig, fünfzig oder über hundert Tagen Hauptverhandlung, die sich über mehrere Jahre hinziehen. Im Protokoll der Hauptverhandlung findet sich stets lediglich der Satz: „Der Zeuge sagte zur Sache aus.“ – auch bei tagelangen Vernehmungen.
Diese altertümliche Form der Protokollierung ist Praxis in Deutschland seit dem Jahr 1877. In diesem Jahr waren Pferdekutschen das wesentliche Verkehrsmittel in den Städten. Im Jahr 1898 gelang es erstmals, Töne durch Magnetisierung auf einem Stahldraht zu speichern. Das erste funktionierende Tonbandgerät wurde 1935 in Deutschland auf den Markt gebracht. Im Jahr 2024 sind mittlerweile Aufzeichnungsgeräte für jedermann zu erschwinglichen Preisen verfügbar, die mittels Rauschunterdrückung, Spracherkennung und Cloud-Speicherfähigkeit sowie durch KI-gestützte Transkriptionsdienste die Aufnahme und Verwaltung von Bild-Ton-Inhalten revolutioniert haben. In strafrechtlichen Hauptverhandlungen vor dem Landgericht wird weiterhin mit stumpfer Kreide auf Schiefertafeln gekratzt – und soll es offenbar auch weiterhin. Wie ein Strafprozess angesichts dieses technologischen und zeitgeistlichen Missstands von der Politik und von Vertretern der Justiz allen Ernstes als „modern“ oder gar „effektiv“ bezeichnet werden kann, ist niemandem mehr zu vermitteln.
Das Problem schürft tief: Gerichte müssen sich aktuell auf ihre Mitschriften verlassen, die sie während einer Aussage händisch anfertigen, während sie dabei parallel zuhören, über Gehörtes nachdenken, Überlegungen zu weiteren Fragen anstellen, die Aussagen mit den übrigen Erkenntnissen abgleichen und den Prozess leiten (sollen). Die Mitschriften der Gerichte selbst sind für die übrigen Verfahrensbeteiligten nicht zugänglich. Was gesagt wurde, liegt damit nach den Worten des Richters am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Andreas Mosbacher in der „exklusiven Definitionsmacht“ der Strafgerichte. Zusammengefasst könnte man sagen, dass gilt: Was Sie sagen, bestimmen Sie. Was Sie gesagt haben, bestimmt das Gericht.
Der Deutsche Bundestag hat im November 2023 das Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (DokHVG) verabschiedet. Anspruch und Ziel des DokHVG ist die Ermöglichung der Überprüfung der gerichtlichen Entscheidungsgrundlagen durch deren inhaltliche Dokumentation der Hauptverhandlung als Ton- oder Videoaufzeichnung. Der Gesetzentwurf ist vom Bundesrat in den Vermittlungsausschuss verwiesen worden, die Beratungen werden dort seit Monaten immer wieder vertagt.
Hintergrund für diese Blockadehaltung sind aus unserer Sicht Äußerungen des Deutschen Richterbundes und der niedersächsischen Justizministerin, die im Erlass und in den Inhalten des DokHVG vor allem den Ausdruck eines generellen Misstrauens in die deutsche Richterschaft durch Bundesregierung und Bundestag sehen. Mit dieser Annahme liegen sie jedoch falsch. Weder die Regierung noch das Parlament noch die das Gesetz befürwortenden Verbände (u.a. Neue Richtervereinigung, Bundesrechtsanwaltskammer, Deutscher Anwaltverein, Strafverteidigervereinigungen) sprechen von einem generellen Misstrauen gegenüber der Justiz. Indes geht es allen Beteiligten um die Schaffung und Verbesserung der objektiven Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen der Judikative.
In Unternehmen aller Branchen, Krankenhäusern, Kneipen und Restaurants, Behörden und sogar in deutschen Gerichten selbst (im Sozial-, Verwaltungs-, Finanz- und Zivilbereich) gelten weitreichende Dokumentations- bzw. inhaltliche Protokollierungspflichten als Kontroll- und Transparenzinstrument – und diese Pflichten werden von der Strafjustiz auch beharrlich eingefordert. Die Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen Kontrolle und Transparenz durch inhaltliche Dokumentation in Fällen, in denen der Staat durch seine Strafgerichte zum schärfsten Schwert – dem Strafrecht – greift, nicht notwendig sein soll, bleiben die Kritiker des Entwurfs schuldig.
Das DokHVG würde den deutschen Strafprozess auf einen Standard heben, wie er in fast allen anderen europäischen Staaten Gang und Gäbe ist und von Neumitgliedern der Europäischen Union sogar zwingend gefordert wird.
In Zeiten, in denen in der Justiz ein Generationenwechsel bevorsteht, wird heutigen und künftigen Interessenten an einer Tätigkeit an den Strafgerichten nicht zu vermitteln sein, dass der deutsche Strafprozess auf eine Arbeitserleichterung durch eine technisch ausführbare Dokumentation zugunsten der mühsamen und fehleranfälligen Mitschrift von Hand verzichten will.
Wir – als Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Praxis, als Studierende, als Referendarinnen und Referendare – fordern die Landesregierungen daher auf, die Blockadehaltung im Vermittlungsausschuss aufzugeben und das Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung im Bundesrat im Interesse der Aufrechterhaltung der Zukunftsfähigkeit unseres Rechtsstaates passieren zu lassen.
Erstunterzeichner*innen
Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V.
Prof. Dr. Robert Esser, Universität Passau
Dr. Oliver Harry Gerson, Universität Passau
Stephan Schneider, LL.M., Rechtsanwalt, Berlin
Darja Altenkirch, Studentin, Universität Potsdam
Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Universität Göttingen und Richter am Kosovo Sondertribunal
Dr. Carolin Arnemann, Rechtsanwältin, München
Prof. Dr. Martin Asholt, Universität Bielefeld
Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger Baden-Württemberg e.V.
Fachschaft Rechtswissenschaft Universität Bayreuth
Prof. Dr. Jan Bockemühl, Rechtsanwalt und Universität Regensburg
Prof. em. Dr. jur. Lorenz Böllinger, Universität Bremen
Prof. Dr. iur. habil. René Börner, Rechtsanwalt
Ausbildungspersonalrat der Rechtsreferendar:innen am Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen
Prof. Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn), Universität des Saarlandes
Stefan Conen, Rechtsanwalt, Berlin
Klaudia Dawidowicz, Rechtsanwältin, Berlin
Prof. Dr. Mark Deiters, Universität Münster
Prof. em. Dr. Ulrich Eisenberg, Freie Universität Berlin
Prof. Dr. Armin Engländer, Ludwig-Maximilians-Universität München
Fachschaft Jura Universität Freiburg
Prof. Dr. Karsten Gaede, Bucerius Law School, Hamburg
Dr. Margarete Gräfin von Galen, Rechtsanwältin, Berlin
Dr. Nikolaos Gazeas LL.M. (Auckland), Rechtsanwalt Köln
Prof. Dr. Björn Gercke, Rechtsanwalt und Universität zu Köln
Prof. Dr. Mohamad El-Ghazi, Universität Trier
Ministerialdirektorin a.D. Marie Luise Graf-Schlicker, Rechtsanwältin, Berlin
Fachschaftsrat Rechtswissenschaften der Universität Greifswald
Malte C. Greisner, Rechtsanwalt, Berlin
Jessica Grimm, Rechtsanwältin, Berlin
Dr. Thomas Grosse-Wilde, Universität Bonn
Ria Halbritter, Rechtsanwältin, Berlin
Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V.
Prof. Dr. Bernd Hecker, Universität Tübingen
Fachschaft Jura Universität Heidelberg
Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Heinrich, Universität Tübingen
Clemens Hof, Rechtsanwalt, Berlin
Dr. Vera Hofmann, Rechtsanwältin und Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Berlin
Hannes Honecker, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Rechtsanwalt und Humboldt-Universität zu Berlin
Richter am OLG Univ.-Prof. Dr. Matthias Jahn, Frankfurt
Fachschaftsrat Rechtswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Heike Jung, Universität des Saarlandes
Fabian Kahlert, Rechtsanwalt, Passau
Prof. Dr. Michael Kahlo, Universität Leipzig
Prof. Dr. Johannes Kaspar, Universität Augsburg
Marcel Kelz, Rechtsanwalt, Berlin
Simon Kemper, Universität Freiburg
Richter am Landgericht Dr. Sven Kersten, Berlin
Prof. Dr. Jörg Kinzig, Universität Tübingen
Prof. Dr. Christoph Knauer, Rechtsanwalt und Ludwig-Maximilians-Universität München
Personalrat der Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare am OLG Koblenz
Anatol Koçadağ, Referendar, Kammergericht
Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltvereins
Jana Kuhlmann, Referendarin, HansOLG Hamburg
Giulia Kuhnert, Studentin, Freie Universität Berlin
Fachschaft Jura Universität Leipzig
Prof. Dr. Michael Lindemann, Universität Bielefeld
Rechtsanwalt Jochen Link, Villingen-Schwenningen
Dr. Henning Lorenz, M.mel., Wiss Mit., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Prof. Dr. Holger Matt, Rechtsanwalt und Goethe-Universität Frankfurt
Prof. Dr. Grischa Merkel, Universität Greifswald
Dr. Benedikt Mick, Rechtsanwalt, Berlin
Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Andreas Mosbacher, Honorarprofessor Universität Leipzig
Prof. Dr. Bernd Müssig, Rechtsanwalt, Bonn
Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Rechtsanwalt, Dortmund und Universität Bielefeld
Dr. Tanja Niedernhuber, Akademische Rätin a.Z., Ludwig-Maximilians-Universität München
Dr. Toralf Nöding, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. Ali B. Norouzi, Rechtsanwalt und Humboldt-Universität zu Berlin
Richter am Oberlandesgericht Prof. Dr. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Universität des Saarlandes
Prof. em. Dr. Dr. hc. Walter Perron, Universität Freiburg
Kai Peters, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. iur. habil. Helmut Pollähne, Rechtsanwalt, Bremen
Fachschaftsrat Jura Universität Potsdam
Richter am Amtsgericht Dr. Simon Pschorr, Singen
Prof. Dr. Andreas Ransiek, LL.M. (Berkeley), Universität Bielefeld
Cäcilia Therese Rennert, Rechtsanwältin, Berlin
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
Martin Rubbert, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. Helmut Satzger, Ludwig-Maximilians-Universität München
Henriette Scharnhorst, Rechtsanwältin, Berlin
Prof. Dr. Anja Schiemann, Universität zu Köln
Schleswig-Holsteinische Strafverteidigervereinigung e.V.
Prof. Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Roland Schmitz, Universität Osnabrück
Antonia Schneider, Studentin, Freie Universität Berlin
Richter am Bundesgerichtshof a.D. u. Richter am IStGHJ a.D. u. IStGHR a.D. Dr. h.c. Wolfgang Schomburg
Gilda Schönberg, Rechtsanwältin, Berlin
Dr. Theresa Schweiger, Akademische Rätin a.Z., Ludwig-Maximilians-Universität München
Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Goethe-Universität Frankfurt
Prof. Dr. Richard Soyer, Universität Linz
Dr. Wolfgang Staudinger, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg
Prof. Dr. Carl-Friedrich Stuckenberg, LL.M. (Harvard), Universität Bonn
Prof. Dr. Michael Tsambikakis, Rechtsanwalt und Universität Passau
Prof. em. Dr. jur Heinz Wagner, Universität Kiel
Adrian Wedel, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. Carsten Wegner, Rechtsanwalt und Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Prof. Dr. Kilian Wegner, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Wiss. Mit. Fynn Wenglarczyk, Goethe-Universität Frankfurt
Nina Wittrowski, Rechtsanwältin Berlin
Prof. em. Dr. Gerhard Wolf, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Dr. Lara Wolf, Rechtsanwältin, Berlin
Prof. Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW-Madison), Universität Konstanz
Dr. Kersten Woweries, Rechtsanwältin, Berlin
Lilli Wunsch, Referendarin, Kammergericht
Fachschaft Jura Universität Würzburg
Prof. Dr. Frank Zimmermann, Universität Freiburg