Das Völkerstrafrecht steht vor allem außerhalb Europas zunehmend und zurecht in der Kritik. Zwar hat es in den letzten beiden Dekaden eine ungeheure Regelungsdichte entwickelt. Auf internationaler Ebene sind insbesondere die Statuten und die Rechtsprechung der beiden ad-hoc-Tribunale zu Jugoslawien und Ruanda sowie natürlich das Statut zum Internationalen Strafgerichtshof zu nennen. In Deutschland gilt seit mittlerweile elf Jahren das Völkerstrafgesetzbuch. Die Anzahl der akademischen Veröffentlichungen ist unübersehbar geworden. Doch die völkerstrafrechtliche Praxis ist unvollkommen, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Kritikwürdig ist insbesondere, dass es politisch selektiv und überwiegend gegen schwache, gefallene, besiegte Potentaten und Generäle angewandt wird. Zudem sind sowohl in westlichen Ländern als auch vor internationalen Tribunalen oft solche Akteure Ziele strafrechtlicher Verfolgung, die vom Westen politisch und mitunter auch militärisch bekämpft werden.
Nun ist es nichts Neues, dass gerade eingeführte Gesetze unvollständig und auch in diskriminierender Weise eingesetzt werden. Es mutet aber wenig durchdacht an, wenn Strafjuristen sich den politischen Realisten um Henry Kissinger und Theoretikern wie Carl Schmitt anschließen, die den Vorrang des Politischen bzw. der realpolitischen Interessen in den internationalen Beziehungen betonen und dem Recht allenfalls eine untergeordnete Rolle zubilligen. Dies mag gerade noch als Beschreibung des Status Quo hinhalten, sollte aber doch eher Ausgangspunkt, denn Abschluss einer Entwicklung sein, die beeinflussbar ist. Warum ist nach Ansicht vieler StrafverteidigerInnen die Verteidigung von Angeklagten im Strafverfahren die einzig akzeptable Form der Rechtsdurchsetzung? Nehmen wir den Fall des Bremers Murat Kurnaz, den die USA bekanntlich aus Pakistan entführten, um ihn fünf Jahre auf Guantanamo illegal festzuhalten und über einen längeren Zeitraum zu foltern und zu misshandeln. Nicht nur, dass hier weit mehr juristische Mittel als konventionelle Strafverteidigung gefragt waren, um ihn schließlich aus der Lagerhaft herauszubekommen. Umfassende Rechtsverteidigung verlangt noch mehr, nämlich dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die seine Inhaftierung und Folter zu verantworten haben und dass – soweit überhaupt möglich – Wiedergutmachung geleistet wird. Abhilfe könnte hier das Völkerstrafrecht schaffen.
»Das Völkerstrafrecht… schon wieder Strafrecht«, stöhnen die Puristen der Strafverteidiger-Community. Hatte nicht damals schon Sebastian Scherer das Bedürfnis vieler sozialer Bewegungen nach mehr Strafrecht, etwa Umwelt- und Sexualstrafrecht, so wunderbar als Ausdruck politischer Schwäche und fehlenden Verständnisses für die Probleme und Gefahren des Strafrechts entlarvt und als Moralpolitik gescholten? Ist ihm nicht ebenso Recht zu geben wie den vielen Chronisten der politischen Justiz, die den Einsatz des Strafrechts – zumal in Deutschland – im Kampf gegen die Arbeiterbewegung und ihre Parteien von der Bismarck-Zeit über die Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus bis heute kritisierten. So weit, so alt, so richtig.
Doch gerade in den Sozialwissenschaften hat sich in den letzten Jahren das Konzept sich kreuzender Benachteiligungslinien Bahn gebrochen, sprich: Es gibt nicht nur die von StrafverteidigerInnen immer wieder ins Zentrum gestellte Konstellation Angeklagter und Staat, diese drückt vielmehr allenfalls eine spezifisches Machtverhältnis aus. Dazu kommen vielmehr Diskriminierungen wegen Gender, Klasse und Herkunft – Menschen, die manchmal als Angeklagte, manchmal auch als Opfer von Straftaten vor Gericht stehen oder vor Gericht ziehen wollen. Man macht es sich also zu einfach, wenn man als Strafverteidiger für sich in Anspruch nimmt, ausschließlich mit der Verteidigung von Angeklagten die einzige oder vielleicht auch nur wichtigste Konstellation von Macht und Ohnmacht anzugehen. Unnötig festzuhalten, dass natürlich alle Angeklagten im Strafverfahren ihre Rechte angemessen ausüben müssen, dass auch gesetzliche Verschärfungen zum Nachteil von Tatverdächtigen nicht hinzunehmen sind, da dadurch die schützenden Formen des Strafrechts immer weiter ausgehöhlt werden. Doch wer für sich in Anspruch nehmen will, als Juristin oder Jurist nicht nur in Einzelfällen tätig zu werden, nicht nur Partikularinteressen zu unterstützen, sondern auf den politischen Feldern zu agieren, auf denen das Verhältnis Macht-Ohnmacht täglich ausgefochten wird, sollte sich auch mit der Ausübung und dem Missbrauch von Macht, gerade im Bereich schwerster Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen.
Wolfgang Naucke hat zu diesem Thema ein schönes Traktat mit dem Titel »Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat – eine Annäherung« vorgelegt. Die Entwicklung des Rechts zeichne sich dadurch aus, dass eine immer dichtere Kontrolle der Inhaber staatlicher Macht erreicht worden sei. Rechtsstaatliches Strafrecht habe, so Naucke, im Zeitalter nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen auch die Aufgabe zu erfüllen, »Macht zu verwerfen durch Bestrafung und begründbare Machtausübung«.
Neben dem grundsätzlichen Lamento über das Strafrecht findet sich häufig auch die Kritik, das Völkerstrafrecht diene ausschließlich den politischen Interessen des Westens. Die Gefahr besteht zweifelsohne. Politisch gefährlich wird es allerdings, wenn aus einer solchen Perspektive heraus Slobodan Milosevic oder Muammar Gaddafi vor dem völkerstrafrechtlichen Zugriff geschützt werden sollen und zur Erreichung dieses Zweckes mehr oder weniger gesicherte Sachverhalte in Frage gestellt werden, ohne sich in profunder Weise und kritisch in alle Richtungen mit den jeweiligen politischen Situation zu beschäftigen. Nicht dass verfehlte Entscheidungen, beispielsweise des UN-Sondertribunals für Jugoslawien oder mangelhafte Ermittlungen des Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshof, frei von Kritik bleiben sollen, aber bietet das Völkerstrafrecht insgesamt nicht differenzierte Kriterien zur Beurteilung einer historischen Situation? Wäre es nicht sinnvoller, die Situation beispielsweise in Sri Lanka daraufhin zu untersuchen, welche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Konfliktparteien LTTE und die srilankesische Armee verübt haben anstatt wie bisher eine der beiden Parteien, nur die LTTE als terroristisch einzustufen und zuzulassen, dass sie und mit ihr die gesamte tamilische Community inner- und außerhalb Sri Lankas mit administrativen, strafrechtlichen und politischen Maßnahmen bekämpft wird? Sollte man nicht vor einer Parteinahme für den syrischen Präsidenten Assad und der Warnung, sein Sturz nütze dem Westen, führe zum Chaos usw. nicht dessen Handlungen sehr genau darauf hin betrachten, wann seine Armee und Polizeikräfte friedliche Demonstranten erschossen und Oppositionelle willkürlich inhaftiert und gefoltert haben und die Tatbestände der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwirklicht wurden? Eine solche vorläufige juristische Beurteilung muss einen dann nicht davon abhalten, die Kriegshandlungen der Aufständischen ebenso kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Damit soll gesagt werden, dass eine solche Betrachtungsweise weniger ideologisch und weniger moralisch als vielmehr entlang festgestellter Fakten und Sachverhalte argumentiert. Die Anwendung völkerstrafrechtlicher Kategorien auf Sri Lanka oder Syrien, möglicherweise sogar unter Zustimmung maßgeblicher westlicher Staaten, ermöglicht es einem dann in anderem Zusammenhang das Folterprogramm, dass die USA nach dem 11. September 2001 entwickelt haben, ebenso als Kriegsverbrechen einzustufen und die Anwendung gleichen Rechts für alle zu fordern. Denjenigen, denen das Völkerstrafrecht gerade, wenn es wie so oft zu spät kommt, nutzlos erscheint, sei ein Studium der nachhaltigen Wirkung der Nürnberger Militärtribunale empfohlen – und überhaupt: Wer will heute ernsthaft den Sinn dieser Verfahren in Frage stellen? Auch die bedeutenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die lateinamerikanischen Diktaturen Chile und Argentinien in den 1970ern oder durch die Paramilitärs und die kolumbianische Regierung in den 2000ern wurden maßgeblich von Menschenrechtsorganisationen begonnen, oft auch dadurch, dass die Sachverhalte vor Gericht gebracht wurden und dann – je nach politischer Konjunktur – von mehr oder weniger aufgeschlossenen Staatsanwälten und Richtern in Anklagen und Urteilen resultierten. Nicht zuletzt diese Beispiele belegen, dass ein pragmatischer und bewusster Gebrauch des Völkerstrafrechts auch den Ohnmächtigen durchaus spannende Möglichkeiten bietet, von staatlicher Seite nicht verfolgte Verbrechen anzuzeigen, aufzuklären und zu skandalisieren sowie sich, oft erstmals, in der Öffentlichkeit zu äußern, und andere Akteure dazu zwingt, sich mit dem systemischen Unrecht auseinanderzusetzen.
Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck ist Mitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. und Generalsekretär das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Im Verlag Wagenbach erschien von ihm zuletzt das Buch Mit zweierlei Maß: Der Westen und das Völkerstrafrecht. (ISBN 978-3-8031-3642-8)
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