2024 : a court odyssey

45. Strafverteidigertag – Hamburg, 1. – 3. März 2024

2024: A COURT ODYSSEY

macht und ohnmacht vor gericht

45. Strafverteidigertag

1. – 3. März 2024  Universität Hamburg

 

zum thema  

Strafe ist Macht, das Strafverfahren in Form gebrachte Machtausübung. Von der ersten Ermittlungshandlung bis zur richterlichen Urteilsbildung ist das Verfahren zwangsläufig geprägt von der Macht staatlicher Ermittlungs-, Verfolgungs- und Justizorgane über die Beschuldigten, die ihren Höhepunkt im Entzug der Freiheit hat. Gegen diese Macht schützt die Beschuldigten einzig die Förmlichkeit des Verfahrens.

Seit Jahren wird die stete Zunahme von Tatbeständen und die Ausweitung der Strafbarkeit im materiellen Strafrecht beklagt. Kein Bereich des gesellschaftlichen und privaten Lebens, der nicht umhegt wäre durch strafrechtliche Normen, die die Grenzen des Zulässigen mittels Strafandrohung aufzeigen. Weniger Aufmerksamkeit erfährt indessen der damit korrespondierende Abbau von Verfahrensvorschriften, in der Regel solcher, die dem Schutz Beschuldigter dienen. Zugleich wehren sich die Justizverwaltungen vehement gegen die Einführung neuer Vorschriften, die den Strafprozess transparenter und überprüfbarer machen – allem voran gegen die Einführung einer technischen Dokumentation der Hauptverhandlung. Auch gegen die geplante Regelung des Einsatzes von V-Personen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, der bislang im Graubereich der Regelungslosigkeit vor sich hin wuchert, und das Verbot der staatlichen Tatprovokation setzen sich die Innen- und Justizverwaltungen verbissen zur Wehr. Macht wird aber nicht nur durch die exklusive Definitionsmacht über das Geschehen im Haupt- und Ermittlungsverfahren gesichert, sondern auch durch eine exklusive Sprache, die sich dem Verständnis eines großen Teils der Beschuldigten entzieht.

Anknüpfend an die Diskussion eines »funktionalen Strafrechts« beim letzten Strafverteidigertag in Berlin befasst sich der 45. Strafverteidigertag mit den prozessualen Freiheitsrechten und daher mit Macht und Ohnmacht vor Gericht.

 

Rechtspolitische Thesen des
45. Strafverteidigertages

Hamburg, 3. März 2024

Vom 1. bis 3. März 2024 haben mehr als 800 Strafrechtsexpert*innen – Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, Vertreter*innen der Wissenschaft und der Justiz – über aktuelle Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht beraten. 

Die Tagung hat per Mehrheitsabstimmung im Plenum beschlossen, die folgenden Thesen und Forderungen aufzustellen.

Vorab sei bemerkt: 

Das materielle Strafrecht wie auch das Prozessrecht haben in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Reformen und Überarbeitungen erfahren. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wurde dabei die Strafbarkeit ausgeweitet, während schützende Verfahrensrechte der Beschuldigten und ihrer Verteidigung abgebaut wurden. Keine dieser Reformen hat die Justiz »effizienter« gemacht oder »beschleunigt«. 

Der Strafverteidigertag hat stets darauf verwiesen, dass die geforderte »Effizienz« und »Geschwindigkeit« unangemessene Maßgaben für die Gestaltung eines Verfahrens sind, in dem staatliche Behörden Macht gegenüber Beschuldigten ausüben. Diese Macht bedarf der Kontrolle und wirkungsvoller rechtlicher Instrumente, um den Machtmissbrauch zu verhindern. Das von der Justiz stets beklagte Misstrauen gegenüber der Rechtmäßigkeit justiziellen Handelns ist daher im Strafverfahren nicht nur angebracht, sondern erste Bürgerpflicht.

Wir erleben heute, wie die ersten Reformen seit mehr als zwei Jahrzehnten, die auf eine bessere Sicherung des Verfahrens vor dem institutionalisierten Machtmissbrauch oder die Entkriminalisierung von Bürgerinnen und Bürgern abzielen – namentlich die Einführung einer technischen Dokumentation der Hauptverhandlung, eine gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Personen und die wenigstens ansatzweise Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten –, mit denselben Argumenten blockiert werden: der Überlastung der Justiz und der Klage über das der Strafjustiz und den Verfolgungsbehörden entgegengebrachte Misstrauen.

Der Strafverteidigertag appelliert an die Rechtspolitik im Bund wie in den Ländern, dringend notwendige Reformen nicht aus parteipolitischem Kalkül oder Klientelpolitik zu verhindern. Eine transparente und durch starke, die Freiheit schützende Beschuldigtenrechte gegen den Missbrauch von Macht gesicherte Strafjustiz stärkt die Demokratie und das Vertrauen der Menschen in sie. Eine starke Demokratie wiederum schützt die Freiheit, auch dann, wenn Verbote, schnelle Verfahren und eine vermeintlich harte Hand einfacher erscheinen.

Im Einzelnen fordern wir:

1. … die vollständige Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung 

Der Strafverteidigertag fordert einmal mehr die Einführung einer verpflichtenden audio-visuellen Dokumentation der Hauptverhandlung.

Dies gebietet bereits der Auftrag der »bestmögliche(n) Erforschung der materiellen Wahrheit«. Die automatisierte Transkription von Tonaufzeichnungen ist ein bewährtes und vielfach erprobtes Instrument, die vorgebrachten technischen Bedenken müssen als vorgeschoben erscheinen. 

Es ist nicht mehr zu vermitteln, dass ausgerechnet in Strafverfahren die Inhalte der Beweisaufnahme nicht festgehalten werden. Während in Fußballstadien seit Jahren mit Kamera- und Computertechnik millimetergenau darüber gewacht wird, ob der Ball in Gänze über der Linie war oder nicht, sind im Strafverfahren, wo es oft um die Freiheit und soziale Existenz von Menschen geht, weiter Bleistift und Kugelschreiber im Einsatz. Weder die Aussagen von Beschuldigten noch von Zeugen oder Sachverständigen sind am Schluss der Beweisaufnahme objektiv reproduzierbar. 

Eine wortgetreue Dokumentation würde der Gefahr einer unvollständigen, weil notwendig verkürzten Inhaltsnotiz vorbeugen, die eine Ursache von Fehlurteilen ist. Sie diente der Objektivierung und Verbesserung der Beweisaufnahme, der besseren Sachaufklärung, der Vorbeugung von Fehlern und Machtmissbrauch und damit der Wahrheitsfindung im Strafprozess.

Der Strafverteidigertag fordert daher die Länder auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben, im Vermittlungsausschuss Größe zu zeigen und dem Gesetz in der vorgelegten Entwurfsfassung doch noch zuzustimmen.

2. … die verpflichtende Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und insbesondere polizeilicher Ermittlungsmaßnahmen 

Die mangelnde Dokumentation von Ermittlungshandlungen ist eine zentrale Fehlerquelle im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Polizeiliche Vernehmungen – ob von Zeugen oder Beschuldigten – werden in der Regel nicht aufgezeichnet, auch wenn das Gesetz die (audio-visuelle) Dokumentation nicht ausschließt. Dabei würde eine lückenlose Dokumentation auch den Ermittlungsbehörden bei der Vermeidung typischer Fehler helfen und die Wahrheitsfindung fördern. 

Die Einführung einer verpflichtenden Dokumentation auch im Ermittlungsverfahren ist im Koalitionsvertrag vorgesehen; ein Gesetzentwurf liegt aber nicht vor. Auch wenn eine gesetzliche Regelung schwieriger erscheint, als die der Dokumentation der Hauptverhandlung, sieht der Strafverteidigertag die Notwendigkeit, die technische Dokumentation polizeilicher Ermittlungshandlungen ab dem Zeitpunkt des ersten Hinweises auf eine mögliche Straftat verpflichtend zu regeln und die Hoheit über die Ermittlungs»wahrheit« nicht alleine und ohne Kontrollmöglichkeit den ermittelnden Beamten zu überlassen.

3. … die gesetzliche Regelung des Einsatzes sog. V-Personen

Der Einsatz privater (sog. V-Personen) zu strafrechtlichen Ermittlungen stößt seit jeher auf verfassungsrechtliche Bedenken; der Verweis auf die Ermittlungsgeneralklauseln kann den mit der Maßnahme einhergehenden Grundrechtseingriff alleine nicht rechtfertigen. Eine gesetzliche Regelung ist schon von daher unabdingbar und kann nicht mit dem Glauben an die Vertrauenswürdigkeit der Ermittlungsbehörden abgetan werden. 

Der Strafverteidigertag missbilligt grundsätzlich den Einsatz von V-Personen – also Privater, denen staatliche Institutionen Vertrauen schenken, um das Vertrauen anderer auszunutzen – zum Zwecke der Strafverfolgung. 

Eine gesetzliche Regelung aber müsste mindestens folgende Kriterien erfüllen:

– Der Einsatz von V-Personen muss – dem Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsgrundsatz entsprechend – auf bestimmte Deliktsbereiche und besonders schwere Straftaten beschränkt werden.

– Voraussetzung für den Einsatz von V-Personen muss immer die Aufklärung einer konkreten, bereits begangenen Straftat sein. Für deren Verwirklichung müssen (mindestens) zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.

– Der Einsatz von V-Personen muss aufgrund seiner besonderen Eingriffsintensität unter einem Richtervorbehalt stehen.

– Die Voraussetzungen für die Erteilung von »Vertrauen« müssen überprüfbar sein und dokumentiert werden.

– Eine VP, deren Angaben zur Beweisführung im Strafprozess genutzt werden sollen, muss zur Wahrung des Konfrontationsrechts des Angeklagten grundsätzlich in der Hauptverhandlung vernommen und durch die Verteidigung konfrontativ befragt werden können.

Zur Tatprovokation:

Die staatliche Tatprovokation ist der Sündenfall des Rechtsstaats; sie muss in jeder Form unzulässig sein. 

Der staatliche Auftrag zur Strafverfolgung und die Verleitung zu Straftaten durch staatliche Stellen schließen sich grundsätzlich aus. Strafrechtliche Normen werden entwertet, wenn staatliche Stellen oder in ihrem Auftrag handelnde Private durch die Verleitung zu einer Straftat den Rechtsbruch initiieren. 

Der nicht-autoritäre Rechtsstaat hat seine Bürger in Frieden zu lassen, solange sie sich nicht erwiesenermaßen einer Normverletzung schuldig gemacht haben oder ein konkreter Anfangsverdacht dahingehend besteht; er darf insbesondere nicht die Normtreue seiner Bürger durch Schaffung von Tatanreizen auf die Probe stellen.

Der Strafverteidigertag fordert daher ein Verbot der staatlichen Tatprovokation.

4. … die Legalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten

Der Strafverteidigertag hat immer wieder einen anderen Umgang mit Rausch- und Suchtmitteln und eine weitgehende Entkriminalisierung des Umgangs mit sog. Betäubungsmitteln gefordert. Das vom Bundesgesundheitsministerium vorgelegte Gesetz geht aus Sicht des Strafverteidigertages daher bei weitem nicht weit genug. Es ist dennoch als ein erster Schritt und ein Versuch zu unterstützen, gegen die kontraproduktiven und sozialschädlichen Wirkungen der Kriminalisierung des Umgangs mit Cannabis-Produkten vorzugehen. 

Der Strafverteidigertag fordert daher die Länder auf, die angekündigte Blockade aufzugeben und dem Gesetz zuzustimmen. 

5. … Gesinnungen und Meinungen dürfen keine Strafe begründen

Der Strafverteidigertag sieht mit Sorge, dass der erforderliche Kampf gegen rechte, rechtsradikale und antisemitische Gesinnungen und Handlungen einmal mehr mit dem Ruf nach einer Ausweitung der Strafbarkeit einhergeht. 

Es ist ein Grundübel des Staatsschutzstrafrechts, über objektive Tatbestandsmerkmale bereits eingetretener Rechtsgutsverletzungen hinaus an der subjektiven Motivation anzuknüpfen und die Strafbarkeit auf subjektive Merkmale weit im Vorfeld einer möglichen Tat auszuweiten. Neben der weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit in einen Bereich objektiv rechtskonformen Verhaltens (§ 89 a,b StGB) tragen aus Sicht des Strafverteidigertages auch die §§ 129, 129 a,b StGB gesinnungsstrafrechtliche Elemente und sind dringend reformbedürftig, wenn nicht sogar endlich abzuschaffen.

Die Ausweitung einer solchen, an subjektive Motivation und Gesinnung anknüpfenden Strafbarkeit stellt eine Gefahr für den Rechtsstaat und damit die Demokratie selbst dar, statt sie zu schützen. Gesinnung, auch üble und menschenfeindliche, darf kein Anknüpfpunkt für Strafbarkeit sein.

ARBEITSGRUPPEN 

1 : DOKUMENTATION DES ERMITTLUNGSVERFAHRENS

Referent*innen: RA Prof. Dr. Jan Bockemühl (Regensburg) / Att. Owen Davis QC (London) / N.N. (Vernehmungspsycholog*in))  / KHK Ingo Thiel (Mönchengladbach) / Moderation: RA Stefan Conen (Berlin)

Falsch, unvollständig, verzerrend zusammengefasste oder wertend protokollierte Vernehmungen sind eine zentrale Fehlerquelle im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Dies betrifft sowohl die Ermittlungstätigkeit selbst, die sich i.d.R. auf konsekutiv zusammenfassende Inhaltsprotokolle bezieht, als auch das spätere Hauptverfahren, in das die Ergebnisse dieser Vernehmungsprotokolle einfließen. Eine möglichst lückenlose (audio-visuelle) Dokumentation soll Vernehmungssituation und -verlauf dokumentieren und der Wahrheitsfindung im Strafprozess dienen, weil Vernehmungsfehler (wie Suggestivbefragungen), ausgebliebene oder mangelhafte Belehrungen und Protokollierungs- oder Verständnisirrtümer anhand der Aufzeichnung oder Wortprotokolls aufgedeckt werden können.

Die Einführung einer Dokumentation des Ermittlungsverfahrens wird daher auch von Strafverteidiger*innen und der Rechtswissenschaft gefordert – und hat Eingang auch in den Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung gefunden.

Wie aber sollte eine Dokumentationspflicht von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren ausgestaltet werden? Konkret: Für wen sollte sie gelten und bei welchen möglichen Tatbeständen sollte sie obligatorisch sein? Wie kann verhindert werden, dass die Pflicht zur Dokumentation regelhaft mit Verweis auf eine Gefährdung der Ermittlungsziele umgangen wird oder (später) Beschuldigte vorab als Zeugen undokumentiert vernommen werden? Und: Droht mit einer besseren Dokumentation des Ermittlungsverfahrens auch ein erweiterter Transfer?

2 : GESETZLICHE REGELUNG DES EINSATZES VON V-PERSONEN

Referent*innenProf. Dr. Robert Esser (Passau) / RA Dr. Yannik Hübner (Frankfurt/Main) / RA Mag. Dr. Roland Kier (Wien) / MDg Dr. Matthias Korte (Bundesministerium der Justiz) / N.N. (Justiz) /  Moderation: RA Dr. Toralf Nöding (Berlin)

  

Die Bundesrepublik ist vom EGMR – wegen Tatprovokation durch Lockspitzel – wiederholt wegen des Verstoßes gegen das Fair-Trial-Gebot verurteilt worden (zuletzt 2020 – Urt. v. 15.10.2020, Az. 40495/15, 40913/15 und 37273/15). Auch die in der 18. Legislaturperiode einberufene Expertenkommission zur effektiven und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens hat die fehlende gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Personen bemängelt (Bericht, 2015, 83). Im Frühjahr 2020 stellte das BMJ (damals: BMJV) ein (bereits 2017) beim Deutschen Richterbund in Auftrag gegebenes Gutachten zur gesetzlichen Regelung des V-Personeneinsatzes vor. Die Vorbereitungen für eine gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Personen laufen also seit langem, nun ist mit einem Gesetzentwurf zu rechnen. Daran wird neben dem BMJ auch das Bundesinnenministerium beteiligt sein.

Die Arbeitsgruppe wird sich mit der derzeitigen V-Personenpraxis sowie dem seit Ende Dezember vorliegenden Gesetzentwurf der Regierung und seine Folgen für die strafrechtliche Praxis befassen. 

3 : BEFANGENHEIT, AUSSETZUNG, UNTERBRECHUNG 
      – Wirksame Anträge in Umfangsverfahren?!

Referentinnen: RAin Dr. Sabine Stetter (München) / RAin Dr. Kerstin Stirner (Köln) / VorsRi‘inLG Dr. Kathleen Mittelsdorf (Wiesbaden) / VorsRi’inLG Dr. Eva-Marie Distler (Frankfurt a.M.) /  Moderation: RAin Dr. Carolin Weyand, Frankfurt a.M.

Kaum ein anderer Bereich des Strafrechts wächst so rasant wie das Wirtschaftsstrafrecht. Ob Wirecard, Diesel-Skandal, Cum-Ex oder Cybercrime – die strafrechtliche Hauptverhandlung ist mehr denn je fester Bestandteil der Beratung und Verteidigung im Wirtschaftsstrafrecht. Eine Umkehr ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Zukünftig werden Verteidiger*innen im Wirtschaftsstrafrecht aller Voraussicht nach noch mehr Zeit in den Gerichtssälen der Republik verbringen. Hier sind besondere strafprozessuale Kenntnisse zwingend. Oder nicht?

Welche Konfliktsituationen treten typischerweise in Umfangsverfahren auf? Wie kann/muss ich mich als Verteidiger*in aufstellen? Welche Anträge sind unter welchen Umständen erfolgversprechend? Wie gehen Gerichte in Konfliktsituationen mit Anträgen von Verteidiger*innen um, die die Möglichkeiten der Strafprozessordnung ausschöpfen?

In der AG werden einzelne Verteidigungsstrategien und Anträge mit deren Wirksamkeit und Vor- und Nachteilen (auch) anhand aktueller Praxisbeispiele diskutiert.

4 : VOM REFORMIERTEN STRAFPROZESS ZUM FEHLURTEIL

Referent*innen: RAin Dr. Carolin Arnemann (München) / RAin Regina Rick (München) / Prof. Dr. Christian Rückert (Universität Bayreuth) / RiBGH Prof. Dr. Ralf Eschelbach  / Laura F. Diederichs (Wissenschaftl. Mitarbeiterin FU Berlin, Projekt Fehlurteil und Wiederaufnahme) / Moderation: RA Daniel Amelung (München)

Erst mit dem reformierten Strafprozess ab 1848 fanden heute anerkannte Verfahrensgrundsätze (Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Recht auf Verteidigung, Einführung einer Staatsanwaltschaft, Trennung von Staatsanwaltschaften und unabhängigen Gerichten) Einzug in das deutsche Strafverfahren, insbesondere auch in die 1879 in Kraft getretene RStPO.

Zahlreiche Reformen der StPO in den vergangenen Jahrzehnten wurden heftig wegen drohender Rechtsverluste für die Beschuldigten und Angeklagten und ihre Verteidigung kritisiert. Prinzipien des reformierten Strafprozesses wurden zunehmend ausgehöhlt.

Die AG wird einerseits die Linien der vergangenen Reformen kritisch nachzeichnen und ihre Auswirkungen auf die Praxis der Strafprozesse untersuchen.

Dabei wird zum einen eine Bestandsaufnahme vor dem Hintergrund der Bedingungen von Fehlurteilen vorgenommen (vormittags) und darüber hinaus gefragt werden, wie der Gefahr von Fehlurteilen strukturell und verfahrensrechtlich begegnet werden kann (nachmittags).

 

5 : KLIMA UND STRAFRECHT

Referent*innen: RAin Anna Busl (Bonn) Prof Dr. Sophia Hunger (Universität Bremen) / LOStA Arnold Keller (Leitender Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg) / RA Dr. Ulrich Leimenstoll (Köln) / Prof. Dr. Anja Schiemann (Universität Köln) / Moderation: RA Christian Mertens (Köln)

Klima und Strafrecht – Das Spannungsfeld zwischen dem (straf)gesetzgeberischen Anspruch an Klimaschutz auf der einen und der strafrechtlichen Verfolgung von Klimaaktivist*innen auf der anderen Seite scheint unauflöslich. Während friedliche Klimaprotestierende als kriminelle Vereinigung verfolgt werden, werden Gesetze zum Umweltschutz stetig verschärft. Die Klimakrise prägt damit nicht nur den gesellschaftlichen Alltag, sondern hat auch Eingang in den rechtswissenschaftlichen Diskurs und die Gesetzgebung gefunden. Die Verfolgung der letzten Generation als kriminelle Vereinigung, die europarechtlichen Entwicklungen zum Umweltstrafrecht und die wachsenden umweltrechtlichen Anforderungen für Unternehmen zeigen die Berührungs- und Konfliktpunkte von Klimaschutz und Strafrecht prägnant auf. Die Arbeitsgruppe nähert sich diesem hochaktuellen Thema aus unterschiedlichen Perspektiven.

 

6 : § 64 STGB – REFORM UND WAS NUN?

Referent*innen: Dr. med. Frederike Höfer (Zürich)  / Inge Schulten, Leitung Suchtberatungsdienst JVA Lingen / Frau Prof. Dr. med. Birgit Völlm, Leiterin Klinik für Forensische Psychiatrie Rostock (angefragt) / RA Prof. Dr. Helmut Pollähne (Bremen) /  Moderation: RA Jan Th. Rosenbusch (Hannover).

Das Betäubungsmittelstrafrecht unterliegt in einigen Teilbereichen in den nächsten Jahren einem Wandel. Das Gesetz zur Reform des Sanktionenrechts beabsichtigt eine Änderung des § 64 StGB, mit der die Zahl der Unterbringungen im Maßregelvollzug spürbar reduziert werden soll.

Hinsichtlich der hoch kontrovers diskutierten Legalisierung von Cannabis bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form diese erfolgen wird. Die beabsichtigten Änderungen des § 64 StGB werden zu einer Verschiebung der Problematik vom Maßregelvollzug in den Strafvollzug führen. Es gilt zu vermeiden, dass suchtkranke Straftäter im Strafvollzug ›verwahrt‹ werden.

Angesichts der aktuellen Reformpläne ist es rechtspolitisch sinnvoll, sich mit den reformbedingten Problemfeldern zu befassen und einmal über den Tellerand unserer Republik zu schauen um Anknüpfungspunkte/Alternativen für eine problemorientierte Lösung zu finden. Einige europäische Länder gehen gänzlich andere Wege. Ziel der AG ist die reformbedingten Problemfelder aufzuzeigen und Lösungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der Drogenpolitik anderer europäischer Länder zu diskutieren

 

7 : SPRACHE VOR GERICHT

Referent*innen: RAin Gabriele Heinecke (Hamburg) / Dr. Oliver Harry Gerson (Universität Passau) / Prof. Dr. Mustafa Oğlakcıoğlu (Universität des Saarlandes / Moderation: RA Arne Timmermann (Hamburg)

Das Verständnis von Aktionen und Interaktionen vor Gericht hängt nicht nur von den jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten ab, sondern hat insbesondere mit Sprache zu tun. Aktive Sprachbeherrschung und passives Sprachverständnis sind nicht nur notwendige Bedingung der Teilhabe am Verfahren als dessen Subjekt und der intersubjektiven Vermittlung von Tatsachen, Perspektiven und Argumenten, sie können auch nicht zuletzt Instrument der Machtausübung und der Manipulation sein. Der Begriff Sprachmächtigkeit kennzeichnet den zweiten wesentlichen Aspekt. Das Sprechen in Codes und in möglichst geschliffener Sprache ist unter Jurist:innen geradezu selbstverständlich, schließt allerdings Laien und damit Schöff:innen und vor allen Dingen Angeklagte ggf. weitgehend aus. Machtverhältnisse vor Gericht sind daher ganz besonders auf unterschiedlichen Umgang mit Sprache zurückzuführen.

8 : AKTUELLES ZUM AUSLIEFERUNGSRECHT – VERTEIDIGUNG GEGEN AUSLIEFERUNGSERSUCHEN UND LÄNDERSPEZIFISCHE BESONDERHEITEN IN U-HAFT UND STRAFHAFT

Referent*innen: RAin Dr. Anna Oehmichen (Berlin) / RA Sören Schomburg (Berlin) / Prof. Dr. Robert Esser (Universität Passau) / Dr. Anna-Katharina Pieronczyk (Universität Kiel) / RD’in Johanna Sprenger (Bundesministerium der Justiz, Berlin) / Moderation: RA Nico Werning (München)

Die Arbeitsgemeinschaft soll in das Auslieferungsrecht einführen, praktische Hilfestellungen zur Verteidigung gegen ein Auslieferungsersuchen anbieten und über die Besonderheiten im ausländischen Strafvollzug (U-Haft / Strafhaft) informieren, die sich die Verteidigung im Einzelfall zunutze machen kann.

Im ersten Teil der AG soll zunächst der Verfahrensgang (insb. Unterschied zwischen europäischem Haftbefehl (EuHB) und Auslieferungsübereinkommen), das vertragslose Auslieferungsverfahren, die Besonderheiten des Auslieferungsverfahrens und die Rechtsprechung des BVerfG sowie des EMGR in Auslieferungssachen beleuchtet und Verteidigungsansätze dargestellt werden.

Im zweiten Teil sollen die Besonderheiten im ausländischen Strafvollzug (U-Haft und Strafhaft) dargestellt werden (etwa bessere Haftbedingungen in Italien, häufige Entlassung vor der Halbstrafe in Frankreich, vorzeitige Entlassung in den Niederlanden bei BtM-Delikten etc).

Auf Basis der Erkenntnisse der AG sollen rechtspolitische Vorschläge für den deutschen Strafvollzug entwickelt werden.

Halbtägige Panels

 

Die AGs 9 und 10 finden jeweils nur halbtags statt. Die übrigen AGs sind so strukturiert, dass Ihnen ein Wechsel zur Mittagspause möglich sein soll. Sie können bspw. am Vormittag AG 7 und am Nachmittag AG 10 besuchen. Bitte beachten Sie, dass Sie Ihre Teilnahme durch Eintrag vor Ort sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag nachweisen müssen.

 9 : VOR DEM GESETZ SIND (NICHT) ALLE GLEICH – DIE DREI-KLASSEN-STRAFJUSTIZ IN DEUTSCHLAND

Referent*innen: RA Dr. Karl Sidhu (München) / Klaus Ott (Süddeutsche Zeitung) / RA Dr. Richard Beyer (München) / Moderation: RAin Ricarda Lang (München)

Die AG beschäftigt sich mit der Phänomenologie von wahl-, pflicht- und unverteidigten Verfolgten im Strafverfahren. Dabei werden auch neben empirischen Erkenntnissen die strukturellen Bedingungen einer Ungleichbehandlung untersucht. Werden Beschuldigte in Wirtschaftsstrafverfahren privilegiert? Sitzen unverteidigte Beschuldigte in der Holzklasse der Strafrechtspflege? Muss ein Beschuldigter Pflichtverteidigung fürchten?

Neben den Befunden wird sich die AG auch mit der Suche nach Lösungen beschäftigen.

 

10 : DOLMETSCHER/DEUTSCHMESSER
– Übersetzungsautomat oder Verfahrensbeteiligter? 

Referent*innen: Prof. Dr. Christiane Driesen (u.a. Autorin zahlreicher Publikationen zum Thema Gerichtsdolmetschen und Dolmetscherausbildung, Hamburg) / Dietlind Broders, Dolmetscherin (Bordesholm) / RAin Antonia von der Behrens (Berlin) / Moderation: RAin Alexandra Elek (Hamburg)

Die Gerichtssprache ist Deutsch. Was selbstverständlich erscheint, ist seit 1877 gesetzlich im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. Der einheitliche Sprachgebrauch vor Gericht soll den Erkenntnisprozess vereinfachen und damit der Wahrheitsfindung dienen. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist also eine Notwendigkeit, um effektiv am Verfahren teilhaben zu können. Schon seit Inkrafttreten der Norm gilt, dass ein Dolmetscher hinzuzuziehen ist, wenn ein Beteiligter am Verfahren die deutsche Sprache nicht versteht. Doch ist damit eine Heilung des sprachlichen Defizits gewährleistet? Die Frage, wie die Qualität einer Dolmetscherleistung sichergestellt werden kann, ist nun erstmals mit Inkrafttreten des Gerichtsdolmetschergesetzes zum 01.01.2023 geregelt. Mit der Frage, ob das Gesetz die erhoffte Verbesserung realisieren kann und weiteren strukturellen Problemen des Dolmetschens bei Polizei und vor Gericht setzt sich die Arbeitsgruppe auseinander.

 

Programm

Freitag, 1. März 2024

Audimax der Universität Hamburg 

ab 17.00 Uhr
Anmeldung und Akkreditierung 

18.30 Uhr:
Eröffnung und Begrüßung

Eröffnungsvortrag
Rechtsanwältin Dr. Margarete Gräfin von Galen, Berlin
»Macht und Ohnmacht vor Gericht« 

im Anschluss
Empfang für die Gäste & Teilnehmer*innen des Strafverteidigertages im Foyer des Audimax

Samstag, 2. März 2024

Universität Hamburg

9.00 – 12.30 & 14.00 – 17.00 Uhr
Arbeitsgruppen 

Sonntag, 3. März 2024

Audimax der Universität Hamburg

10.00 – 12.30 Uhr
Schlussdiskussion
Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung

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