Eröffnungsvortrag zum 35. Strafverteidigertag, Berlin 2011

Abschied von der Wahrheitssuche

Rechtsanwalt Dr. Klaus Malek

Sehr geehrte Gäste des Strafverteidigertages, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Noch bis zum gestrigen Tage hatte ich nicht die Absicht, ein Zitat von Max Alsberg an den Beginn meines Vortrages zu stellen. Doch der legendäre Satz vom „hochmütigen, voreiligen Griff nach der Wahrheit“ hat sich mir aufgedrängt, als ich vom Fortgang des unsäglichen Verfahrens gegen den Kollegen Stephan Lucas beim Landgericht Augsburg gehört und gelesen habe. Dieses Verfahren, das mich und mit mir eine große Zahl von Kollegen empört hat, nicht nur aus Solidarität mit dem betroffenen Kollegen, sondern auch und gerade weil sich das Verfahren gegen die freie Strafverteidigung insgesamt richtet, dieses Verfahren lässt es nicht zu, kommentarlos zur Tagesordnung überzugehen. Ich hoffe, dass unsere Empörung auch von vielen Angehörigen der Justiz und der Wissenschaft geteilt wird

Ich erlaube mir daher, zunächst einige Anmerkungen hierzu zu machen und anschließend zu meinem ursprünglichen Thema zu kommen. Sie werden selbst feststellen können, wie viel das Verfahren gegen Stephan Lucas mit dem Motto und Thema dieses Strafverteidigertages zu tun hat.

Der 35. Strafverteidigertag hat eine ad hoc – Arbeitsgruppe zum Verfahren gegen den Kollegen Lucas eingerichtet, in der seine Verteidiger über den Fall und den derzeitigen Stand des Verfahrens berichten. Es ist auch eine Resolution des Strafverteidigertages vorbereitet. Soweit ich informiert bin, soll am 1. April 2011 das Urteil gesprochen werden. Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten und ein Berufsverbot von 3 Jahren beantragt.

Für diejenigen, die den Fall nicht kennen, nochmals in der gebotenen Kürze: Stephan Lucas hatte beim Landgericht Augsburg einen Angeklagten verteidigt, der wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurde. Die Revision gegen das Urteil begründete er damit, dass die beiden Berufsrichter der Strafkammer ihm ein Strafmaß „mit einer vier vor dem Komma“ für den Fall eines Geständnisses in Aussicht gestellt hätten. Da der Angeklagte dazu nicht bereit gewesen sei, habe das Urteil letztlich achteinhalb Jahre betragen. Dieses Verhalten der Richter, so die Revisionsbegründung des Kollegen, stelle unter dem Aspekt des Aufzeigens der so genannten Sanktionenschere einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar. Die beiden Richter bestritten diese Darstellung. Der 1. Strafsenat unter seinem Vorsitzenden Armin Nack, teilte mit, seinen Kollegen zu glauben.

Es sei befremdlich, so der 1. Strafsenat in seinem Verwerfungsbeschluss, dass das Revisionsgericht mit „unwahrem Sachvortrag“ der Verteidigung konfrontiert worden sei. Ein obiter dictum der eigenen Art, das einer Strafanzeige gleich kam, mehr noch einem Auftrag zur Strafverfolgung. Und der Staatsanwaltschaft Augsburg war der Wunsch von höchster Stelle ein Befehl. Am letzten Verhandlungstag kam es nun zu der Aussage einer mutigen Staatsanwältin (ihr beruflicher Werdegang sollte beobachtet werden) und der Vorlage eines zunächst geheim gehaltenen Sitzungsberichtes der Staatsanwaltschaft. Auf diesem befand sich ein handschriftlicher Vermerk des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft „evtl. auch 4 J. 10 Mo.“ was sich unschwer als „eventuell auch 4 Jahre und 10 Monate“ dechiffrieren lässt. Obwohl sich die Richtigkeit des Revisionsvorbringens geradezu aufdrängt, beantragte Oberstaatsanwalt Zechmann (auch sein Werdegang sollte beobachtet werden) eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten, die nur bei einem dreijährigen Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt werden könnten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich bei aller Empörung über diese Vorgänge, die sich dem „trockenen Ton“ eines Fachvortrages entgegenstemmt, einiges „Juristische“ zur Causa Lucas ausführen, womit ich, wie viele unter Ihnen, die Hoffnung verbinde, dass es nicht bei der Causa Lucas bleibt.

Warum hat der 1. Strafsenat mit seinem Vorsitzenden Nack den beiden Augsburger Richtern mehr geglaubt als dem Kollegen Lucas? Oder besser gefragt: Gab es nicht von Anfang an bessere Gründe für die umgekehrte Beurteilung dieser, wenn man so will, „Aussage gegen Aussage“ – Konstellation?

Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen, das einem bekannten Lehrbuch zur Glaubwürdigkeits- und Beweislehre entnommen ist. Einer der Autoren ist Vorsitzender Richter eines Strafsenats am Bundesgerichtshof. Die zitierte Stelle befindet sich im 2. Kapitel des Werkes mit der Überschrift „Die Lüge“. Sie lautet:

„Manchmal haben Personen, die als charakterlich unverdächtig erscheinen, gerade einen triftigen Grund zur Lüge: Wenn sie die Wahrheit sagten, wäre es um ihren guten Ruf geschehen.“

Dieses Zitat, das inhaltlich natürlich völlig richtig ist, gibt Grund zum Nachdenken. Wie wäre denn die Situation zu beurteilen gewesen, wenn die beiden Augsburger Richter, anstatt den Revisionsvortrag des Kollegen Lucas zu bestreiten, diesen eingeräumt hätten, wenn also das Aufzeigen der „Sanktionenschere“ tatsächlich stattgefunden hätte?

Nach meiner Rechtsauffassung von der strafrechtlichen Einordnung der so genannten Sanktionenschere stünde hier weitaus mehr auf dem Spiel als der „gute Ruf“ der Richter. Ich habe bei anderer Gelegenheit, nämlich auf dem Strafverteidigertag 2005 in Aachen, ein Referat zu diesem Thema gehalten. Sie finden es im Dokumentationsband zum 31. Strafverteidigertag und leicht überarbeitet im StraFo 2005, Seite 441 ff.

Ich habe damals eine erkleckliche Reihe von offensichtlich rechtswidrigen, laut BGH sogar rechtsstaatswidrigen und daher vom Bundesgerichtshof, auch vom 1. Strafsenat, in der Revision aufgehobenen Urteilen im Hinblick auf eine Strafbarkeit gemäß § 343 StGB untersucht. So wie sich der Fall des Kollegen Lucas darstellt, würde auch das Ausgangsverfahren des Landgerichts Augsburg in diese Reihe passen, die ja keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhoben hatte. Meine These war, dass das Aufzeigen der Sanktionenschere im Verlaufe von Verständigungsgesprächen einen strafbaren Verstoß gegen § 343 StGB darstelle, und alleine die Urteilsaufhebung in der Revision keine ausreichende Reaktion auf einen solchen Rechtsverstoß darstelle. Eine Reaktion ist hierauf bis heute nicht erfolgt, sieht man von einer zustimmenden Anmerkung von Gerhard Jungfer auf dem Herbstsymposium 2005 und einer Bemerkung im Löwe/Rosenberg ab, wonach die Meinung eines „einzelnen Autors“, § 343 StGB gehöre zum strafgerichtlichen Alltag, völlig überzogen sei. Dass auch meine strafrechtliche Einschätzung völlig überzogen oder gar einer unzutreffenden Subsumtion geschuldet sei, wird allerdings nicht gesagt.

Seit Veröffentlichung meines Aufsatzes waren gerade einmal zwei Jahre vergangen, als der Bundesgerichtshof wiederum ein Urteil wegen des rechtsstaatswidrigen Aufzeigens der Sanktionenschere aufheben musste. Dieses Urteil enthält keine einzige Bemerkung zur strafrechtlichen Seite der Angelegenheit, ganz im Stile der bisherigen Entscheidungen. Dabei darf, spätestens seit dem Verfahren gegen den Kollegen Lucas, angenommen werden, dass die Richter des Bundesgerichtshofs den Weg zur zuständigen Staatsanwaltschaft kennen, wenn sie der Auffassung sind, der im Revisionsverfahren zu Tage getretene Sachverhalt gebe Anlass zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.

Ich bin der Auffassung, dass Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze bei Verständigungen, und als solche stuft der Bundesgerichtshof die Sanktionenschere durchaus ein, oder jetzt gegen die Regelung der §§ 257b ff. StPO, gehören strafrechtlich sanktioniert, weil anders eine Änderung der Praxis völlig illusorisch ist. Und wer weiß denn über die generalpräventive Wirkung der Strafe besser Bescheid als der Strafrichter selbst?

Seit einiger Zeit befinde ich mich mit dieser Forderung nicht mehr allein. Vom Vorsitzenden Richter am BGH Thomas Fischer sind Sanktionen gegen die Richter in die Diskussion geworfen worden (welche genau er meint, weiß ich nicht), Jahn und Müller haben in einem Aufsatz in der NJW 2009, 2625, 2631 in der dem Amt und der Würde der Betroffenen angemessenen Zurückhaltung, aber im Vergleich doch recht deutlich, darauf hingewiesen, dass bei absprachebeteiligten Richtern und Staatsanwälten als „mögliche Folgeeffekte des Verständigungsgesetzes für das materielle Strafrecht“ die Strafbarkeit wegen Strafvereitelung im Amt und wegen Rechtsbeugung in Betracht kommen könnte.

Ich fasse zusammen: In einem Verfahren, in dem das Gericht die so genannte Verfahrensschere aufzeigt, ist nach meiner Meinung der Tatbestand der Aussageerpressung nach § 343 StGB, nach Auffassung von Jahn/Müller möglicherweise der der Rechtsbeugung in Betracht zu ziehen, nach Meinung von Thomas Fischer eine nicht näher benannte „Sanktion“ in Betracht zu ziehen. Allen Auffassungen ist gemein, dass jedenfalls der beteiligte Strafverteidiger, der mit dem Gericht nicht gemeinsame Sache gemacht hat, die falsche Person auf der Anklagebank ist.

Im Verfahren Lucas kommt hinzu und steht im Mittelpunkt unserer Empörung, dass es die beiden Richter bei ihren, wie es jetzt aussieht, falschen Erklärungen gegenüber dem Revisionsgericht in Kauf genommen haben, dass gegen den Kollegen ein Verfahren eingeleitet werden könnte. Spätestens als dies zur Gewissheit wurde und die Folgen für den Kollegen absehbar wurden, hätten sie klar stellen müssen, dass ihre Stellungnahmen nicht der Wahrheit entsprachen. Doch trifft dieses Verhalten ja nicht nur den Kollegen, was schlimm genug wäre. Trifft das Revisionsvorbringen zu, und es ist hier tatsächlich mit der Sanktionenschere gedroht worden, dann ist auch der Angeklagte des Ursprungsverfahrens Leidtragender in dieser Sache.

Ich denke, wir können nur hoffen, dass das Landgericht Augsburg die Suche nach der Wahrheit nicht verabschiedet hat, und dass auch danach das letzte Wort in dieser Angelegenheit nicht gesprochen ist. Ich kann Sie nur alle auffordern, morgen Nachmittag zu der ad hoc- Veranstaltung zu kommen und sich aus erster Hand berichten zu lassen.

„Wahrheit und Gerechtigkeit als Intention der Strafrechtspflege“ – so lautete der Vortrag, mit dem der Kollege Gerhard Strate im Jahre 1992 den 16. Strafverteidigertag in Hamburg eröffnet hat. Seine Ausführungen endeten mit den prophetischen Worten: „… ihre (nämlich der Wahrheit und Gerechtigkeit) Bedeutung ist nicht gemindert, ihre Gefährdung vielgestaltig, ihre Zukunft ungewiss“.

„Abschied von der Wahrheitssuche.“ – So lautet heute, fast 20 Jahre später, das nicht einmal mit einem Fragezeichen versehene Motto des 35. Strafverteidigertages in Berlin. Und so lautet auch das Thema, zu dem ich sprechen soll. Genauer gesagt: „Abschied von der Wahrheitsfindung“ sollte der Vortrag zunächst heißen, aber ich habe mir erlaubt, um eine kleine Änderung zu bitten. Denn wem soll die Wahrheitsfindung gelingen bei all den Hindernissen, die schon der Suche entgegen stehen, und dies angesichts der Tatsache, dass wir Juristen uns noch nicht einmal darauf verständigen können, was die Wahrheit sei. Bekanntlich wusste ja auch Jesus die Frage des scheinheilig fragenden Pilatus „Was ist Wahrheit?“ nicht zu beantworten. Und selbst diese Geschichte, in Gestalt des Johannesevangeliums auf uns gekommen, kann wahr sein oder auch nicht.

Bei der Suche nach der Wahrheit sieht das schon etwas anders aus, und wenn auch der große Goethe in seinem Faust bereits demjenigen, der „immer strebend sich bemüht“, die Erlösung in Aussicht stellt, so wollen wir nicht päpstlicher sein als der Dichterpapst und es bei der Forderung nach der redlichen Suche belassen. – Kurz und gut: Mein Argument hat überzeugt, und so kam die Suche ins Motto und auf das schöne nostalgische Plakat des Strafverteidigertages.

Nun ist aber auch der „Abschied von der Wahrheitssuche“ ein provokanter Programmsatz. Doch wenn man bedenkt, auf der Strafrechtslehrertagung im Mai 2007 alleine unter dem Aspekt der damals noch drohenden gesetzlichen Regelung der Absprachen gar über den „Abschied vom Rechtsstaat“ diskutiert wurde , dass Schünemann die StPO durch einen Federstrich des Gesetzgebers als zur Makulatur geworden, und König sämtliche Prinzipien der Hauptverhandlung außer Kraft gesetzt sieht – dann ist unser Thema ja noch eher zurückhaltend formuliert.

Derjenige, der den Strafprozess schon eine Weile und vielleicht auch etwas intimer kennt, mag ja ahnen, was mit dem Abschied von der Wahrheitssuche gemeint sein könnte, und dies ist, um es gleich vorwegzunehmen, weiß Gott nicht nur der Weg in die strafprozessualen Absprachen! Andere Teilnehmer könnten irritiert sein und sich womöglich fühlen wie auf einem Medizinerkongress, bei dem sich eine Versammlung von Chirurgen mit dem Thema „Operieren ohne Diagnose“ befasst.

Wer ist denn gemeint mit der Verabschiedung der Wahrheitserforschung? Der Verteidiger wird es nicht sein, denn da er einseitig die Interessen seines Mandanten wahrzunehmen hat, und sich bei Verletzung dieser Pflicht sogar strafbar machen kann, ist er selbstredend kein Garant für die Suche nach der Wahrheit. Der Verteidiger ist selbst dann nicht zur Wahrheitssuche verpflichtet, wenn man ihn, wie es die neuere Rechtsprechung zu tun beliebt, für den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens in die Pflicht nehmen will.

Bleibt als Verdächtiger der Richter. Er ist es schließlich auch, der zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn den Diensteid gemäß § 38 des Deutschen Richtergesetzes darauf geleistet hat, “ … nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen,“ auch wenn dieses Versprechen bei näherer Betrachtung nur für den Dienst an der Gerechtigkeit wirklich Sinn macht. Die Wahrheit, nimmt man sie naiv als Spiegelung der Wirklichkeit, wie es die Schöpfer des Richtergesetzes sicherlich gesehen haben, bedarf keines Dieners.

Die Strafprozessordnung selbst geht sparsam um mit dem Begriff der Wahrheit. So soll gemäß § 59 StPO zum Beispiel der Zeugeneid geeignet sein, eine „wahre“ Aussage herbeizuführen. Eine ausdrückliche Vorgabe an den Richter, die Wahrheit zu erforschen, enthält alleine § 244 Abs.2 StPO, wo es heißt:

„Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“

Dieser so genannte Amtsermittlungsgrundsatz setzt allerdings die Wahrheitssuche als Aufgabe des Richters voraus. Er definiert nicht die Wahrheit. Das Gesetz enthält zwar Regelungen, auf welchem Weg die „Wahrheit“ zu suchen sei, es enthält auch Regelungen darüber, welche Wege nicht beschritten werden dürfen, zu denken ist hier an die Beweisverbote, die teilweise schon die Art der Wahrheitssuche selbst (etwa die Geständniserlangung mittels Folter), teilweise nur deren Verwertung untersagen; aber mit der Frage, was denn die Wahrheit sei, lässt es den Richter allein.

Wer von der Wahrheitssuche spricht, dem muss selbstredend auch der Begriff der Wahrheit einige Bemerkungen wert sein. „Wahrheit und Gerechtigkeit“ gelten seit jeher als die zentralen Anliegen, als die eigentlichen Ziele des Strafverfahrens.

Richtigerweise wird (etwa von Müller-Dietz und Ulfried Neumann ) allerdings auf die unterschiedliche Wertigkeit des Begriffspaares „Wahrheit und Gerechtigkeit“ hingewiesen. Die Erforschung und Ermittlung der Wahrheit an sich mag für den Naturwissenschaftler ein Ziel sein, das keine hinter ihr liegende Absicht benötigt. Als strafprozessuales (Zwischen-) Ziel bedarf die Wahrheitssuche dagegen stets der Rechtfertigung durch ein ihr übergeordnetes Ziel, weil sie ansonsten zum einen in sinnloser Weise Steuergelder verschwenden würde (ein wichtiger Aspekt in heutiger Zeit) und andererseits, wenn sie etwa mit Eingriffen in Rechtsgüter des Bürgers verbunden ist, mangels Notwendigkeit der Maßnahme verfassungswidrig wäre (also eher ein Nebenaspekt in heutiger Zeit). Es ist daher zumindest ungenau, wenn das Bundesverfassungsgericht die Ermittlung des wahren Sachverhalts immer wieder als „das zentrale Anliegen des Strafprozesses“ bezeichnet. Denn das der Wahrheitssuche übergeordnete strafprozessuale Ziel ist die Herbeiführung einer „richtigen“, einer „gerechten“ Entscheidung im Sinne des materiellen Rechts, die Wahrheit dient mithin der Verwirklichung von „Gerechtigkeit.“ Wahrheit ist die Voraussetzung von Gerechtigkeit.

Aber möglicherweise ist ja auch die Gerechtigkeit nur ein Zwischenziel, zur „Schaffung von Rechtsfrieden“ etwa, oder – wie es Murmann formuliert – „zur Wiederherstellung oder Verwirklichung des Rechts unter den Bedingungen der Unsicherheit.“ – Doch das wäre ein eigenes Thema. Lassen wir die Gerechtigkeit für heute beiseite. Sie ist eine solche Behandlung gewohnt.

Die Frage nach der Wahrheit ist nun so alt wie der Mensch denken und philosophieren kann. Die Spannbreite der erkenntnistheoretischen Positionen zum Wahrheitsbegriff, der zunächst einmal mit dem Beruf des Richters nicht mehr zu tun hat als mit jeder anderen Daseinsweise auch, ist auf der einen Seite abgesteckt durch die Philosophie des subjektiven Idealismus, in seiner reinsten Form Solipsismus genannt („Nichts existiert außer mir“), die jede Realität außerhalb des wahrnehmenden Individuums leugnet. Sie eignet sich schwerlich für den Strafprozess, da der Strafrichter Entscheidungen zu treffen hat, die dem Rechtsunterworfenen vermittelbar sein müssen. Nur sehr selten handelt es sich bei dem Angeklagten um einen Professor der Philosophie, und auch bei diesem wäre die Akzeptanz eines Urteils, das auf einer eingestandenen Illusion des Richters basiert, sehr fraglich. Der Filmregisseur Woody Allen hat das Dilemma des subjektiven Idealismus, und damit soll es dann auch sein Bewenden haben, in der ihm eigenen Art auf den Nenner gebracht: „Was, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? Dann hätte ich für meinen Teppich aber wirklich zuviel bezahlt.“

Die Position Woody Allens in der Erkenntnistheorie nimmt der philosophische Materialismus ein, der eine vom wahrnehmenden Individuum unabhängige Realität und deren prinzipielle Erkennbarkeit annimmt. Diese Auffassung dürfte prinzipiell der des Gesetzgebers von 1877, und dem des praktizierenden Strafjuristen nahe kommen.

Sie steht, jedenfalls in ihren praktischen Konsequenzen, auch im Einklang mit der Aristotelischen „adaequatio rei et intellectus“, also der prinzipiellen Übereinstimmung von erkennendem Geist und erkannter Sache. In der Formulierung des Aristoteles, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, hört sich das so an: „Falsch ist es, vom Seienden zu sagen, es sei nicht und vom Nichtseienden, es sei. Wahr ist es, vom Seienden zu sagen, es sei und vom Nichtseienden, es sei nicht. Also wird jeder, der sagt, etwas sei, oder sagt, etwas sei nicht, entweder wahr oder falsch reden.“ – So einfach könnte alles sein.

Doch ist diese „einfache“ Definition von Wahrheit, die auch als Korrespondenztheorie bezeichnet wird (gemeint ist die Korrespondenz zwischen Wahrnehmung und Realität) aus der Mode gekommen und steht nicht mehr im Einklang mit den vom Erkenntniszweifel geprägten prozessualen Theorien des 20. Jahrhunderts. Die Gründe hierfür sind zumindest so strittig wie die Wahrheitstheorien selbst. Während die neuen Theorien das materialistische Weltbild für naiv und simplifizierend halten, wurde ihnen von der Gegenseite, die allerdings als politische Kraft praktisch nicht mehr existiert, der Vorwurf entgegen gebracht, als Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft nur dazu zu dienen, deren Herrschaft zu stützen. Wie dem auch sei: Das materialistische Weltbild – auch das des Strafrichters, falls man (entgegen Kunert GA 1979, 423, der derartige „Grenzüberschreitungen“ ablehnt) überhaupt davon ausgehen darf, dass sich dieser mit philosophischen Positionen auseinandersetzt – kann immerhin für sich in Anspruch nehmen, erkenntnistheoretische Position und praktische Arbeit in Einklang zu bringen.

Unter den der Korrespondenztheorie entgegen stehenden Positionen seien lediglich die Auffassungen erwähnt, die man zusammenfassend und vereinfachend als „Intersubjektivitätstheorien“ bezeichnen könnte. Hassemer hat diese in Anlehnung an die Kritische Theorie, hier ist insbesondere Habermas zu nennen, für die Rechtsphilosophie fruchtbar gemacht und insbesondere das Beweisantragsrecht der Verteidigung als unverzichtbares Instrument der Wahrheitsfindung erkannt.

Kennzeichnend für diese Auffassungen ist es, dass die Wahrheit unabhängig von der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit definiert wird. Wahrheit wird nicht gefunden, Wahrheit wird definiert, sie wird erfunden. Oder wie Hassemer sagt: „Was wir bei der Feststellung von Tatsachen erwarten können, ist nicht Objektivität, sondern bestenfalls Intersubjektivität.“

Dies geschieht jedoch nicht beliebig. Entscheidend sei, – und zwar im Idealfall in einem „herrschaftsfreien Diskurs“ – dass Übereinstimmung zwischen den Beteiligten über die Wirklichkeit erzielt werde, etwa durch „interpersonale Verifizierung“. Ob diese Theorien zielführend sind, vermag ich als einfacher Strafrechtspraktiker nicht zu entscheiden; ich nenne sie aber deswegen, weil gerade die Strafprozessordnung den Dialog zwischen den Beteiligten, der bekanntermaßen schon für Sokrates das probate Mittel zur Wahrheitsfindung war, geschweige denn den „herrschaftsfreien Diskurs“ im Sinne Hassemers, schlicht nicht vorsieht. Die Strafprozessordnung enthält keine Regeln oder gar Gebote zur verbindlichen Herstellung einer intersubjektiven Überprüfbarkeit des entscheidungsrelevanten Sachverhalts. Wäre dies anders, dann hätten wir Strafverteidiger niemals die aus schierer Verzweiflung gespeisten Versuche unternehmen müssen, uns praeter oder contra legem mehr oder weniger erfolgreiche Strategien zur „Festschreibung des Sachverhalts“ (etwa durch so genannte affirmative Beweisanträge) oder zur „Früherkennung richterlicher Beweiswürdigung“ (eine Art praenatale Urteilsdiagnostik) ausdenken müssen. Ein Mythos, wie Ventzke vor kurzem in der HRRS desillusionierend festgestellt hat.

Aber nicht nur die Wissenschaft, auch die Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts hat den Skeptizismus in Bezug auf die Zuverlässigkeit der Wirklichkeitswahrnehmung entdeckt. Ich beschränke mich zum Nachweis auf einige wenige höchstrichterliche Judikate, in denen dieser Zweifel zum Ausdruck kommt, wobei ich diesen Entscheidungen mehr die bedauernde Feststellung der Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten als den grundsätzlichen Zweifel an der Erkennbarkeit der Realität entnehme.

So formuliert etwa schon das Reichsgericht in einer frühen zivilrechtlichen Entscheidung aus dem 15. Band:

„Vermöge der Beschränkung der Mittel menschlichen Erkennens kann niemand (selbst im Falle eigener unmittelbarer Anschauung eines Vorganges) zu einem absolut sicheren Wissen von der Existenz eines Tatbestandes gelangen. Abstrakte Möglichkeiten der Nichtexistenz sind immer denkbar. Wer die Schranken des menschlichen Erkennens erfasst hat, wird nie annehmen, dass er in dem Sinne zweifellos von der Existenz eines Vorganges überzeugt sein dürfe, dass ein Irrtum absolut ausgeschlossen wäre“ (RGZ 15, 338, 339).

Und in einer Entscheidung des 1. Strafsenat des Reichsgerichts vom 15.2.1927 (RGSt 61, 202, 206) heißt es:

„Ein „absolut sicheres“ Wissen – demgegenüber das Vorliegen eines gegenteiligen Tatbestandes „absolut ausgeschlossen“ wäre – ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen.“

Und schließlich meint der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 9.2.1957 (BGHSt 10, 208, 209):

„… im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen.“

Dass die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen begrenzt sind und damit der Erforschung der objektiven Wirklichkeit Grenzen gesetzt sind, ist unbestreitbar und wird auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht bezweifelt. Allerdings ist die Tatsache der Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens nicht gleichzusetzen mit der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Realität. Und so gerät manche vermeintlich erkenntnistheoretische Abhandlung unfreiwillig in den Bereich der Kriminalistik, wenn etwa Walter oder Herdegen einerseits auf die Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens, andererseits aber auf so extrem eindeutige Fälle hinweisen, dass die „adaequatio rei et intellectus“ erreicht werde. (Beispiel: ein Banküberfall wurde gefilmt, Banknoten aus der Beute beim Täter gefunden, und der Täter legt ein Geständnis ab). Das lockt natürlich keinen prinzipiellen Leugner der Korrespondenztheorie hinter dem – ohnehin nur in seiner Vorstellung existierenden – Ofen hervor.
II.

Wenn nun der provokante Tatbestand des „Abschieds von der Wahrheitssuche“, gleichbedeutend sein soll mit der Aufgabe oder zumindest mit der Vernachlässigung eines elementaren Anliegens des Strafverfahrens, nämlich der Feststellung der materiellen Wahrheit, dann bedarf der darin liegende Vorwurf der Begründung. Ich nehme es vorweg, dass ich den Vorwurf als solchen in der Tendenz für zutreffend halte. Er gilt nicht für jedes Verfahren, er gilt nicht für jeden Richter, aber er zeigt eine beängstigende Entwicklung unseres Strafverfahrens.

– Ist dies richtig, und wenn ja, welche Ursachen sind dafür auszumachen?

Das Kind hat viele Väter, und ich muss vorausschicken, dass meine Ausführungen, schon aus Zeitgründen, notwendigerweise selektiv sein müssen. Einige Gründe für die Vernachlässigung der Wahrheitssuche sind „hausgemacht“, etwa die fehlende Ausbildung des Strafrichters zur Erforschung der Wahrheit, ein juristisches Tabuthema erstens Ranges, sozusagen ein Fettnäpfchen, das man nicht auslassen darf, und schon aus diesem Grunde ein Thema, das auch auf einem Strafverteidigertag einmal anzusprechen ist.

Ein anderes ist die bereits genannte fehlende strafprozessuale Regelung verbindlicher Sachverhaltsfeststellung. Weitere Ursachen, darunter die Absprachenpraxis und ihre Legalisierung im Herbst 2009, die neben der Aufgabe elementarer Grundsätze unseres Strafprozesses mit ihrem Geständniszwang gerade der in Rede stehenden Wahrheitssuche diametral entgegen steht, sowie die neue Kronzeugenregelung, zu der ich gerne auf die Arbeitsgruppe 2 dieses Strafverteidigertages verweisen möchte, diese Kooperation der Strafverfolgung mit dem Verbrecher, bei der der Anreiz zum wahrheitswidrigen Zeugnis ja geradezu auf der Hand liegt, spiegeln eine Entwicklung, die ich als „Amerikanisierung“ des deutschen Strafverfahrens bezeichnen möchte. Sie betrifft mittlerweile unser gesamtes Strafverfahren. Sie beginnt mit der immer mehr zunehmenden Privatisierung originär staatlicher Ermittlungstätigkeit (Hinrich de Vries, VorsRi am Landgericht Bonn hat sich in der Februarausgabe der „Kriminalistik“ hierzu sehr kritisch geäußert), und setzt sich fort mit der noch vor zwei Jahrzehnten undenkbaren Privatisierung von Bewährungshilfe und Strafvollzug, und mit der aus den USA zu uns gekommenen Renaissance der harten Bestrafung. Die „three strikes and you are out“- Gesetzgebung, die dem deutschen Strafrechtler so unwirklich wie ein Horrorfilm aus Hollywood erscheint, hat bei uns bereits ihren Niederschlag in der populistischen Gesetzgebung zur Sicherungsverwahrung gefunden.

Damit sind die mir wesentlich erscheinenden Themen angerissen. Im Einzelnen:

1. Die fehlende Ausbildung des Strafrichters

Die fehlende Ausbildung des Strafrichters, und der Strafrichter ist hier nicht im prozessualen Sinn gemeint, er reicht vom Einzelrichter bis zu den Mitgliedern der Revisionssenate, sie stellt eines der größten Probleme auf dem Weg zur Erforschung der Wahrheit dar. Der Mangel ist besonders eklatant im Bereich der Beurteilung von Zeugenaussagen, des immer noch wichtigsten und dabei umstrittensten Beweismittels. Dass über diese evidente Tatsache mittlerweile nicht einmal mehr diskutiert wird, ist rational kaum nachvollziehbar. Welcher Patient würde es beispielsweise akzeptieren, dass ihm sein Zahnarzt erklärt, er habe zwar in seiner Ausbildung noch keinen Zahn selbst gezogen, er habe aber davon gehört und er freue sich darauf, das Prinzip „learning by doing“ nunmehr in Angriff zu nehmen?

Dabei ist die Klage über die mangelhafte Ausbildung des Strafrichters keineswegs neu; sie ist heute nur fast in Vergessenheit geraten.

So bedauert Gustav Radbruch schon im Jahre 1949 in seinem Aufsatz über „Fachliche und charakterliche Voraussetzungen des Rechtsberufes“, dass „die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen während des Studiums in keiner Weise geübt wird“ und “ … die vorgelegten Rechtsfälle nur eine Rechtsanwendung am Phantom bedeuten“.

Im Vorwort zur 1. Auflage des Standardwerkes von Bender/Nack zur „Tatsachenfeststellung vor Gericht“ stellen die Autoren fest:

„Die Klagen über die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises wollen kein Ende nehmen … und doch hat dieser mangelhafte Zeugenbeweis seine überragende Bedeutung für das Gerichtsverfahren nahezu unangefochten behalten … Verbessern aber ließe sich die Treffsicherheit der Beurteilung von Zeugenaussagen, wenn die Wissenschaft von der Aussagepsychologie energischer vorangetrieben würde, wenn die Juristen schon auf der Universität mit der Aussageforschung vertraut gemacht und ihr hier gewonnenes Wissen durch wissenschaftliche Ausbildungs- und Fortbildungskurse vertieft würde.“

Diese Feststellung stammt aus dem Jahr 1981.

14 Jahre später, 1995, werden die Autoren in der zweiten Auflage des selben Werkes noch deutlicher:

„Die Glaubwürdigkeit- und Beweislehre ist seit dem Erscheinen der ersten Auflage für die gerichtliche Praxis sehr viel wichtiger geworden, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung an die Beweiswürdigung der Instanzgerichte erhöhte Anforderungen stellt … umso verwunderlicher ist es, dass die Justizministerien der Länder der Ausbildung der angehenden Juristen im Fach „forensische Aussagepsychologie“ noch immer kaum Beachtung schenken. Künftige Richter und Rechtsanwälte lernen noch immer fast nur Rechtsanwendung, nichts als Rechtsanwendung.“

Dieser Klage muss man leider beipflichten.

Und dabei wird der Tatbestand noch verharmlost, wenn von einer mangelhaften Ausbildung des Strafrichters auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung gesprochen wird. Es ist die fehlende Ausbildung, die die Wahrheitssuche erschwert. Vom ersten Tag seines Studiums bis zum letzten Tag des Assessorexamens hat es der angehende Strafjurist, natürlich auch der zukünftige Strafverteidiger, mit vorgefertigten Sachverhalten zu tun, an denen nicht zu rütteln ist, und die in Frage zu stellen, den typischen juristischen Laien entlarvt. Es erstaunt den in der Ausbildung stehenden Juristen keineswegs, dass er etwa den Fall eines Möchte-Gern-Mörders X subsumieren soll, der mit seinem Erzfeind Y bei aufkommendem Gewitter einen Spaziergang in den Wald unternimmt, in der stillen Hoffnung, diesen möge der Blitz erschlagen, eine Hoffnung, die sich – man ahnt es – alsbald verwirklicht. Hat sich, und wenn ja, wie, so wird der junge Jurist gefragt, der X strafbar gemacht? Der vorsichtige Einwand des fachfremden Freundes, Student der Forstwirtschaft, dem der Fall vorgetragen worden ist, woher denn der Richter wissen wolle, was der X gedacht habe, wird mit der Bemerkung zum Verstummen gebracht, das tue hier nichts zur Sache.

Eine solche Ausbildung, die sich ausschließlich mit vorgefertigten Sachverhalten und niemals, und ich behaupte, es geschieht niemals, wenn nicht auf freiwilliger und nicht examinierter Basis, mit der Problematik der Wahrheitserforschung befasst, hat den angehenden Strafrichter, bevor er sich an seine – laut höchstrichterlicher Rechtsprechung – „ureigenste Aufgabe“ macht, bereits tief geprägt. Wir Verteidiger erleben dies laufend. Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis gefällig? – Aus einem nicht ganz unbekannten, derzeit beim Landgericht Mannheim anhängigen Verfahren wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs wird in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ vom 24. Februar 2011 Folgendes berichtet:

„Auch der Haftrichter, der am 20. März 2010 die Untersuchungshaft … anordnet, offenbart bei seiner Zeugenaussage vor dem Landgericht Mannheim eine Gutgläubigkeit und Weltferne, die man bei einem Richter zuletzt erwartet hätte. Die Version des Beschuldigten K., wonach er mit Simone D. erst einvernehmlich sexuell verkehrt, nach einer Eifersuchtsszene ihrerseits dann aber für immer gegangen sei, sei ihm schlicht „nicht einleuchtend“ erschienen, begründet der Richter seinen Haftbefehl. Außerdem gehe er grundsätzlich davon aus, „dass jemand, der einen anderen einer Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht.“

Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis darauf, dass der Staatsanwalt im Verfahren gegen Rechtsanwalt Lucas in seinem Schlussvortrag sinngemäß geäußert haben soll, eine falsche Aussage sei dem Berufs´des Richters wesenfremd.

Das Zitat aus dem Kachelmann-Verfahren stammt von Sabine Rückert und ich gehe davon aus, dass es korrekt ist. Es dokumentiert eine Einstellung des Strafrichters, die uns Strafverteidigern aus der täglichen Arbeit im Gerichtssaal oder in der Haftanstalt natürlich bestens bekannt ist. Reinecke hat sie vor 25 Jahren (in der MDR 1986, 630) eine „geheime“ Beweisregel genannt. Die Opfer einer Straftat lügen nicht (deshalb nennt man sie auch von Anfang an Geschädigte und nicht einfach Zeugen), Polizeibeamte lügen nicht, Kronzeugen lügen nicht, und wie wir jetzt wissen, auch Richter lügen nicht. Auch das ist eine Form der Wahrheitsfindung. Dass sie wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht, nimmt allerdings nur derjenige wahr, der sich mit diesen Erkenntnissen auch befasst hat.

Noch immer scheint die Kenntnis sämtlicher Theorien zur Wegnahme im Sinne des § 242 StGB für den angehenden Strafrichter wichtiger zu sein als etwa die Lektüre der aussagepsychologischen Werke von Arntzen, Bender/Nack/Treuer, Köhnken/Deckers, Trankell, Undeutsch, um nur einige der wichtigsten zu nennen, oder etwa des Standardwerkes von Karl Peters zu den Fehlerquellen im Strafprozess. Diese Werke sollten eigentlich zur Pflichtlektüre im Studium und zum Prüfungsstoff im Examen gehören. Es ist aber offenbar auch ehrenvoller, revisionssichere Urteile zu schreiben als materiell richtige: „Föhrig wird nicht aufgehoben“, schreibt etwa Monika Harms im Vorwort zum mittlerweile mit Kultstatus versehenen Kleinen Strafrichterbrevier des ehemaligen Kammervorsitzenden Friedrich-Karl Föhrig und lobt die Standfestigkeit seiner Urteile gegenüber der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Für mich ein Lob mit einem faden Beigeschmack. Das Lob, ein Vorsitzender habe sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er durch besondere Kenntnisse der Aussagepsychologie so manches Fehlurteil vermieden habe, ein solches Lob habe ich dagegen noch in keiner Laudatio gelesen.

Der Hinweis darauf, der angehende Strafjurist habe doch alle Möglichkeiten, sich in Eigeninitiative fortzubilden, verfängt nicht. Mit diesem Argument könnte man auch gleich die ganze universitäre Ausbildung samt Prüfungen abschaffen und die Angelegenheit dem Repetitor überlassen. Im Übrigen scheint es aber auch mit der Eigeninitiative so weit nicht her zu sein, wenn man die Klagen der Justizministerien über die fehlende Inanspruchnahme von Ausbildungsangeboten zur Kenntnis nimmt.

Aber gleicht nicht die Lebenserfahrung des Richters, diese Allzweckwaffe richterlicher Beweiswürdigung, mangelndes handwerkliches Rüstzeug aus? Immerhin gilt sie der höchstrichterlichen Rechtsprechung als „unabdingbare Voraussetzung zur Wahrheitsfindung, ohne die die Erfüllung des Richteramts … nicht möglich“ ist und die „keiner sachverständigen Hilfe zur Findung eines gerechten Urteils“ bedarf (BGHSt 3, 28). Der BGH macht im Übrigen, und dies vielleicht sogar zu Recht, bei dieser Einschätzung keinen Unterschied zwischen dem 28jährigen Assessor und dem 60jährigen Schwurgerichtsvorsitzenden. Hätte er als „unabdingbare Voraussetzungen zur Wahrheitsfindung“ die Kenntnis der Grundsätze der Wahrnehmungspsychologie genannt, das gesicherte Wissen um Wahrnehmungsverfälschungen und Erinnerungsfehler, um Minder- und Falschleistungen des Gedächtnisses, hätte er die Grundlagen der Vernehmungs- und Glaubwürdigkeitslehre genannt, die der Strafrichter zur Ausübung seines Amtes beherrschen müsse, so wäre dies nachvollziehbar. Aber ausgerechnet die „Lebenserfahrung“, dieser Begriff, der alles und nichts sagt.

Ulrich Sommer hat sich in seinem Beitrag zur Festschrift für Riess im Jahre 2002 mit der Lebenserfahrung des Strafrichters befasst und diese als Kriterium richterlicher Beweiswürdigung als rechtsstaatlich inakzeptabel zurück gewiesen. Zu Recht stellt er fest, es könne von keinem Angeklagten verlangt werden, eine Beweiswürdigung zu tolerieren, die von der höchstpersönlichen Lebenserfahrung des Richters geprägt sei.

Dem kann man nur zustimmen.

Ich fasse vorläufig zusammen:

Eine professionelle Ausbildung des Strafrichters, wie sie anderen Berufen eigen ist, zur Bewältigung seiner „ureigensten“ Aufgabe, der Feststellung der materiellen Wahrheit, mit anderen Worten: der Wahrheitssuche, ist nicht vorgesehen. Statt dessen gilt das Prinzip „learning by doing“. Das Problem ist seit langem bekannt. Eine Änderung ist nicht in Sicht.

2. Die Wahrheitssuche und die fehlende Sachverhaltsfestschreibung

Soweit die Strafprozessordnung der Wahrheitssuche rechtstaatliche Schranken setzt, etwa im Bereich der Beweisverwertungsverbote, ist sie uns allen, auch und gerade uns Strafverteidigern, ein hohes und verteidigenswertes Gut. Ich übersehe dies keineswegs, wenn ich ansonsten Grundsätzliches zu kritisieren habe.

Man muss kein Anhänger der Konsenstheorie in dem vorhin beschriebenen Sinne sein, um in diesem Bereich erhebliche Defizite in der Strafprozessordnung festzustellen. Auch wer als Mindeststandard eines sinnvollen Strafverfahrens, an dessen Ende die Sanktionierung des Beschuldigten für sein strafbares Verhalten steht, nicht die Erforschung der Wahrheit, sondern lediglich die intersubjektiv überprüfbare Sachverhaltsfeststellung anerkennt, wird von der Strafprozessordnung enttäuscht. Denn eine für die gerichtliche Entscheidung verbindliche Feststellung von Wahrheit sieht das Gesetz nicht vor. Und wenn vom „Rekonstruktionsverbot“ im Revisionsverfahren die Rede ist, so lädt die Rechtslage regelrecht dazu ein, von einem „Konstruktionsverbot“ in der Tatsacheninstanz zu sprechen.

Bekanntermaßen gibt es im Ermittlungsverfahren keine Verpflichtung des Vernehmungsbeamten, eine wörtliche Protokollierung vorzunehmen oder die Vernehmung in Bild und/oder Ton aufzuzeichnen. Jedem Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sind die unwürdigen zeit- und nervenaufreibenden Auseinandersetzungen bei der Einführung protokollierter Aussagen in die Hauptverhandlung ein Gräuel. Es liegt auf der Hand, dass bei offenkundiger Paraphrasierung der Aussage durch den Vernehmungsbeamten (etwa weil dem in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen erkennbar jede Fähigkeit abgeht, sich in der Weise auszudrücken, wie das Protokoll dies vermitteln will), dass die Auslassung der zu einer Antwort gehörenden Frage (wir lesen dann: „auf Frage antwortet der Zeuge: …“) und dass der durch ein schriftliches Vernehmungsprotokoll oder die Anhörung des Vernehmungsbeamten nicht vermittelbare Eindruck von der Verfassung des Zeugen bei der Aussage einen erheblichen Teil an Information verloren gehen lässt, der für die Wahrheitsfindung wesentlich ist.

Nicht besser ist die Situation in der Hauptverhandlung. Im Verfahren vor der Strafkammer wird kein Wortprotokoll geführt (ob das Protokoll beim Amtsgericht im Sinne des § 273 Abs. 2 StPO diesen Namen verdient, sei dahin gestellt). § 273 Abs. 3 StPO ersetzt das Wortprotokoll nicht, denn erstens bezieht sich die Vorschrift immer nur auf einzelne Aussagen oder Äußerungen an, und zweitens soll die wörtliche Protokollierung nach ganz herrschender Meinung nur dann zwingend sein, wenn es nicht nur auf den Inhalt der Aussage, sondern auf deren genauen Wortlaut ankommt. Der Versuch, über einen Protokollierungsantrag die nach Auffassung der Verteidigung getätigte Aussage in die Verhandlung einzuführen und so den Sachverhalt festzuschreiben, scheitert daran, dass das Gericht nicht gezwungen ist, sich in einem die Protokollierung ablehnenden Beschluss zu seinem Verständnis der Aussage zu äußern, und somit eine vorläufige Bewertung der Beweisaufnahme vorzunehmen. Selbstverständlich ist das Gericht auch nicht verpflichtet, von der vom Verteidiger vorgetragenen Auffassung auszugehen. Die „Waffe“ des Protokollierungsantrags ist, abgesehen von einem Rest an kleiner psychologischer Wirkung, stumpf. Ich verweise nochmals auf die Ausführungen von Ventzke hierzu.

Aber wie erfolgt die Beweisaufnahme tatsächlich? Kein Richter ist verpflichtet, sich irgendwelche Aufzeichnungen über die Beweisaufnahme, insbesondere über den Inhalt von Zeugenaussagen zu machen. Und manche Laienrichter schaffen es allerdings tatsächlich auf unerklärliche Weise, die Beweisaufnahme in umfangreichen und langwierigen Verfahren über Wochen oder Monate zu verfolgen, ohne sich auch nur eine einzige Notiz zu fertigen. Als Verteidiger stelle ich immer wieder fest, dass es mir auch bei größter Anstrengung nicht gelingen will, handschriftlich den Verlauf einer Zeugenvernehmung durch eine dritte Person, sei es den Richter, den Staatsanwalt oder durch einen Mitverteidiger auch nur annähernd vollständig aufzuzeichnen. Und so wundert mich um so mehr, was mir mancher Vorsitzende oder Berichterstatter in dieser Beziehung voraus haben. Geradezu mittelalterlich und angesichts der Möglichkeiten moderner Technik nicht nachvollziehbar mutet deren Bemühen an, die Befragung, das aufmerksame Zuhören und die Niederschrift des Gehörten so unter einen Hut zu bringen, dass die Vernehmung wie eine flüssige Unterhaltung erscheint. Und nichts Wesentliches geht verloren. Oder doch? Wie dem auch sei: Beste Voraussetzung für eine fundierte Sachverhaltfeststellung ohne lästige Technik ist doch eine solide stenographische Ausbildung.

Diesem Unfug entgegen zu steuern und eine bessere und zuverlässigere Dokumentation der Beweisaufnahme im Sinne auch einer fundierteren Wahrheitsfindung zu gewährleisten, hat der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer im Februar 2010 einen „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik“ präsentiert. Der Entwurf war Gegenstand einer Arbeitsgruppe auf dem letztjährigen Strafverteidigertag, so dass ich insoweit auf den entsprechenden Dokumentationsband verweisen kann. Man kann über Einzelheiten des Entwurfs streiten. Wichtig erscheint mir aber die Erkenntnis der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Änderung der Beweisdokumentation, die dem heutigen Stand der Technik entspricht, und die die vollständige Aufzeichnung der Verhandlung in Bild und Ton zur Regel macht. Nur auf diese Weise können die Voraussetzungen geschaffen werden, von einer für alle Beteiligten intersubjektiv überprüfbaren und verbindlichen Wahrheit als Voraussetzungen einer gerechten Entscheidung ausgehen zu können.

Die inhaltliche Stärke des Gesetzentwurfs, dem kaum vernünftige Argumente entgegen gehalten werden können, ist aber gleichzeitig ihr Untergang. Denn es ist leider kaum zu erwarten, dass die Vorlage in absehbarer Zeit umgesetzt wird.

Worin liegt dies? –

Ganz unabhängig davon, ob ein solches Gesetz die Beweisaufnahme in der Tatsacheninstanz einer höheren Kontrolle in der Revision zugänglich machen könnte (die Verfasser des Entwurfs weisen jedenfalls auf die Möglichkeit der Überprüfung von Tatsachen bei Verfahrensrügen hin) und in welchem Verhältnis die neuen Regeln der Beweisaufnahme zum so genannten Rekonstruktionsverbot stehen würden, in jedem Fall wären eine hohe Transparenz und damit die intersubjektive Überprüfbarkeit der Sachverhaltsfeststellung garantiert. Die Prozessbeteiligten hätten jederzeit die Möglichkeit der Überprüfung des Beweismaterials. Schon das könnte die Wirkung zeitigen, dass offensichtliche Abweichungen vom tatsächlichen Ablauf der Beweisaufnahme (Stichwort: „Ich war im falschen Film“) seltener würden.

Die Einführung intersubjektiver Überprüfbarkeit des festgestellten Sachverhalts durch eine vollständige audiovisuelle Aufzeichnung wäre aber eine derart einschneidende Änderung der strafgerichtlichen Praxis, dass mir ihre Verwirklichung geradezu revolutionär erschiene. Die Alleinherrschaft des Richters über die prozessuale Wahrheit ist doch gerade ein Kennzeichen unserer strafgerichtlichen Wirklichkeit. Es steht dem Richter zu und keiner kann ihn daran hindern, „seine“ Wahrheit bis zur Urteilsverkündung als eine Art Geheimnis zu bewahren. Dass diese Praxis nicht auf jeden Richter zutrifft, ändert nichts am Prinzip. Und jeder Versuch der Verteidigung, dem Gericht diese Herrschaft zu entreißen, wird argwöhnisch betrachtet und im Zweifelsfall revisionsrechtlich abgeblockt. So hat die Verteidigung keinen Anspruch darauf, etwa im Rahmen eines Beweisantrages oder durch die schlichte Bitte um Auskunft, von Seiten des Gerichts eine vorläufige Einschätzung des Beweisergebnisses in Erfahrung zu bringen. Mit Misstrauen wird es gesehen, wenn ein Prozessbesucher auf die Idee kommt, sich allzu umfangreiche Notizen über die Beweisaufnahme anzufertigen. Unzulässig ist auch der Beweisantrag der Verteidigung auf Verlesung richterlicher Aufzeichnungen über die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung. Diese Niederschriften seien, so der Bundesgerichtshof in Übereinstimmung mit dem OLG Hamm, Teil des Beratungsgeheimnisses und daher der Beweisaufnahme nicht zugänglich. Auch an dieser Stelle nochmals eine Bemerkung zum Verfahren gegen Stephan Lucas: Ein Glück, dass die genannte Anmerkung über die Erörterung („4 J. 10 mo.“) nicht nur in einem Mitschrieb der Instanzrichter zu finden war.

Was dem Gericht erspart bleiben soll, nämlich mit offenen Karten zu spielen, wird dem Verteidiger, besonders durch die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Beweisantragsrecht und zur Rügepräklusion abverlangt. Die Hassemer´sche These von der Wahrheitsfindungsqualität des Dialogs wird so konterkariert. Dies gilt etwa für das Urteil des 5. Strafsenats vom 10.6.2008, mit dem zu der ohnehin verteidigungsfeindlichen Rechtsprechung zur Konnexität dem Verteidiger auferlegt wird, bei der Darlegung der Konnexität zusätzlich Ausführungen zur Relation des Beweisthemas zum bisherigen Beweisergebnis zu machen. In einer kritischen Besprechung dieser Entscheidung stellen Habetha/Trüg fest, „dass ein Dialog zwischen dem Tatgericht und den Verfahrensbeteiligten über beantragte Beweiserhebungen regelmäßig sinnvoll“ sei. Dem ist beizupflichten. Allerdings besteht ein Dialog aus zwei Teilnehmern, soll er der Wahrheitsfindung dienen.

Auch die Entscheidung des 1. Strafsenats vom 23.9.2008 zur Fristsetzung im Beweisantragsrecht, die hier nicht weiter vertieft werden soll, widerspricht der Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit, die gemäß § 246 Abs. 1 StPO Vorrang vor der Beschleunigung des Verfahrens hat. Die Rechtsprechung hat sich auch hier gegen die Wahrheitssuche entschieden.

3. Die Absprachenpraxis und ihre Auswirkungen auf die Wahrheitssuche

Die Literatur zur strafprozessualen Verständigung ist Legion. Ich kann an dieser Stelle nicht einmal annähernd die berechtigten Kritikpunkte referieren, die hierzu geäußert worden sind. Stattdessen verweise ich auf die Arbeitsgruppe 2 dieses Strafverteidigertages, die sich sowohl mit der gesetzlichen Regelung der Verständigung als auch mit der neuen Kronzeugenregelung auseinandersetzen wird.

Meinem Thema und der eingeschränkten Zeit entsprechend, möchte ich mich auf drei Aspekte beschränken, die mir wesentlich erscheinen, und die ansonsten in der Diskussion nicht immer im Zentrum stehen. Da ist zum einen die Lüge von den fehlenden Ressourcen, zum anderen die Entwertung des Geständnisses als Mittel der Wahrheitsfindung, und zuletzt zu einer schleichenden Veränderung des gesamten Strafverfahrens, das ich dessen „Amerikanisierung“ nennen möchte.

a. Die Lüge von den fehlenden Ressourcen

Am Anfang der Absprachenpraxis steht eine Unwahrheit: Die Lüge von den fehlenden Ressourcen der Justiz. Das Dogma, unsere Justiz sei wegen mangelnder Ressourcen überlastet, ausreichende finanzielle Ausstattung vollkommen ausgeschlossen und der Deal zur Rettung der Strafrechtspflege daher „alternativlos“, wurde bisher in einer Weise unhinterfragt übernommen, wie ich das sonst nur von dem angeblichen Atomwaffenbesitz eines irakischen Staatschefs kannte. Selbst die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll, so der Vorsitzende des 5. Strafsenats Basdorf im April 2010 auf dem Symposion des „Strafverteidiger“, „zur unerlässlichen Schonung der „knappen Ressource Recht“ beizutragen haben. Ich habe erhebliche Zweifel an dieser Unerlässlichkeit. Und wenn man, ohne große Mathematik anwenden zu müssen, zu dem Ergebnis kommt, dass die 10%ige Erhöhung der Strafrichterstellen in Deutschland (wir haben davon nur die erstaunlich geringe Zahl von 4700) gerade einmal dem Jahresetat eines durchschnittlichen Fußballvereins in der Bundesliga entspricht, dann verstärkt das diese Zweifel noch. Sollte dieser finanzielle „Kraftakt“ einer der reichsten Industrienationen der Welt nicht möglich sein, wenn ansonsten der Rechtsstaat zur Debatte steht?

Im übrigen ist auch das Argument der fehlenden Ressourcen zum Angriff auf rechtsstaatliche Garantien im Strafprozess nicht neu. Es scheint sich um ein Mittel mit langer Haltbarkeitsdauer zu handeln. Im Eröffnungsvortrag „Strafverfahrensrecht und politische Kultur“ zum 7. Strafverteidigertag 1983 hatte sich Ulrich Preuß auch mit dem Verhältnis zwischen Wahrheitsfindung und Ökonomie befasst. Es lohnt sich, hieraus ein bisschen ausführlicher zu zitieren:

„… unbestreitbar richtig ist, dass Wahrheitsfindung und Ökonomie nicht zwei völlig voneinander unabhängige Größen sind. Je mehr Geld ich für ein Auto auszugeben bereit bin, desto besser wird dessen Qualität sein… je mehr Zeit, Geld, persönliche und sachliche Mittel ich für einen Strafprozess aufwende, desto umfassender und einsichtiger wird die am Ende stehende „Erkenntnis“ für alle Verfahrensbeteiligten sein… die Verfahrensökonomie steuert mithin die Verwirklichungschancen der Wahrheitsfindung.“

Vor 28 Jahren ging es mit dem Argument der knappen Mittel noch nicht um die Rechtfertigung der Absprachenpraxis im Strafprozess. Kollege Weider alias Detlef Deal hatte in diesem Jahr gerade seinen berühmten Aufsatz im „Strafverteidiger“ zur Mauschelei in den Richterzimmern veröffentlicht. Preuß sah in der Verknappung der Verfahrensressourcen ein argumentatives Mittel, „den Strafprozess wieder ganz im Sinne etatistisch-autoritärer Prinzipien umzumodeln.“ Heute geht es darum, dem Strafprozess strukturell ein neues Aussehen zu verpassen, ihn zum Parteienprozess „umzumodeln“.

Das Ziel hat sich gewandelt, die Argumente sind die selben geblieben.

Ich will es dabei belassen und verweise auf die hierzu Arbeitsgruppe 1 dieses Strafverteidigertages („Die Ressourcen der Justiz“), deren Ergebnisse ich mit großer Spannung erwarte.

b. Die Entwertung des Geständnisses

Dass die Praxis der strafprozessualen Absprachen, deren unverzichtbarer Bestandteil der „Warenaustausch Geständnis gegen Strafreduktion“ ist, dass diese Praxis die Wahrheitsfindung gefährden kann, um es vorsichtig auszudrücken, wird nur von wenigen bestritten. Und diese wenigen würden ihre Meinung vielleicht ändern, wenn sie auch nur ein einziges Mal Gelegenheit hätten, eine so genannte Erörterung des Verfahrensstandes im Sinne des § 257b StPO persönlich mitzuerleben. Denn wie ein venezianischer Renaissancepalast hat auch die Verständigung im Sinne der neuen Vorschriften zwei sehr unterschiedliche Seiten: § 257c StPO ist die prächtige Schauseite zum Canale Grande hin; hier wird der Öffentlichkeit die ganze Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens präsentiert, wie es Abs. 3 der Vorschrift fordert. Der unscheinbare § 257b StPO steht dagegen für den schmutzigen Hinterhof des Palazzo, bei Gericht meist das Beratungszimmer. Hier spielt sich ab, was den Ausgang des Verfahrens entscheiden kann. Hier wird verhandelt, was die Öffentlichkeit – und meist auch der Angeklagte – nach wie vor nicht hören sollen. Dazu gehören – entgegen dem Gesetz – häufig auch Fragen des Schuldspruchs, und vieles von dem, was die Schöffen ohne Aktenstudium gar nicht begreifen können, aber als Mitglieder des Gerichts natürlich mitentscheiden müssen.

Zur Veranschaulichung dessen, was ich meine, hier ein kurzer Ausschnitt im Stile eines – nicht fernsehtauglichen – Drehbuchs zu einem Betäubungsmittelverfahren. Vorwurf bandenmäßiges Handeltreiben. Zeit der Handlung: sagen wir Herbst 2010. Ort: An einem deutschen Landgericht. Des Dramas erster Akt: Die Erörterung des Sachstandes. Vorsitzender: „Also ein schlankes Geständnis über Sie, Herr Verteidiger, das ist natürlich Voraussetzung. Es genügt die Bezugnahme auf die Anklage. Und die ersten beiden Vorwürfe machen wir nach 154 tot!“ Die Schöffen zucken zusammen, schauen verständnislos. Staatsanwalt: „Damit kann ich leben, wenn das Ergebnis stimmt.“ Verteidiger: „Aber die Bande muss weg. Sonst kann ich das nicht verkaufen.“ Staatsanwalt: „Wenn das Ergebnis stimmt.“ Vorsitzender: „Also keine Bande, wir hatten da schon bei der Eröffnung unsere Zweifel. 6 Jahre. Untergrenze: 5. 9, Obergrenze 6, 3. Und wir hören jetzt noch ganz kurz den Ermittlungsbeamten.“ Zum Verteidiger gewandt: „Damit fährt Ihr Mandant sehr gut, glauben Sie mir das.“ Der Verteidiger nickt, als wisse er, was gemeint ist. Die Schöffen lächeln. Vorhang. Ende erster Akt. Ich erspare Ihnen, meine Damen und Herren, den zweiten.

Was hat das mit der Wahrheitssuche zu tun? Natürlich nichts, aber viel mit dem Abschied hiervon.

Von einem schlanken Geständnis war die Rede, ein Begriff der sogar in die Kommentarliteratur Einzug gefunden hat. Dabei ist der Begriff „schlank“ für manches Geständnis noch eher euphemistisch. Die Erklärung „Ich räume ein, mich im Sinne der Anklage schuldig gemacht zu haben“, die in der Praxis durchaus als akzeptabel angesehen wird, müsste man wohl eher, um im neojuristischen Jargon zu bleiben, als anorektisch denn als schlank bezeichnen.

Wie dem auch sei: Der Abschied von der Wahrheitssuche spiegelt sich jedenfalls auch in dem Substanzverlust wieder, den das Geständnis durch die strafprozessualen Absprachen erfahren hat. Zwei meiner Freiburger Strafverteidigerkollegen (Hammerstein im Strafverteidiger 2007, Seite 48 ff. und Rode im Jahre 2006 auf dem Frühjahrssymposion der AG Strafrecht, abgedruckt im StraFo 2007, Seite 98. ff.) haben sich mit dieser neuen Rolle des Geständnisses in lesenswerten Abhandlungen befasst. Festzustellen ist, dass von den drei klassischen Funktionen des Geständnisses – Prozesshandlung, Beweismittel und Strafzumessungskriterium – im Rahmen der strafprozessualen Vereinbarung lediglich die Prozesshandlung übrig geblieben ist. Wer glaubt, das Geständnis, einst „regina probationum“ sei im Verständigungsverfahren noch ein wirkliches Beweismittel, macht sich etwas vor. Das anorektische Geständnis besagt so gut wie nichts über den tatsächlichen Geschehensablauf, die von der Rechtsprechung geforderte Überprüfung seiner Richtigkeit ist in der Praxis meist nur eine Farce. Das Geständnis ist aber auch nicht mehr Strafzumessungskriterium, wie es Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des Bundesgerichtshofs war. Wäre es anders, dann müsste ein frühes, von Einsicht und Reue geprägtes Geständnis des Beschuldigten (und zwar auch ohne den Umweg über weitere Angaben im Sinne der Kronzeugenregelung) ein deutlich milderes Urteil zur Folge haben als das Geständnis im Rahmen einer strafprozessualen Vereinbarung. Die Praxis zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es muss fast schon als Kunstfehler des Verteidigers betrachtet werden, wenn er seinem Mandanten zu einem solchen vorbehaltlosen Geständnis rät, ohne gleichzeitig ausgelotet zu haben, welchen Marktwert dieses beim Aushandeln der Strafe erzielen kann. Letztlich bleibt nur noch die Funktion der Erklärung im Sinne des § 257c Abs.2 S.2 StPO. Ein Beitrag auf der Suche nach der materiellen Wahrheit ist einem solchen Geständnis in der Regel nicht zu entnehmen. Der Abschied von der Wahrheitssuche hat hier bereits stattgefunden.

c. Die „Amerikanisierung“ des Strafverfahrens

Lassen Sie mich im Hinblick auf die Absprachenpraxis auch etwas sagen zu der von mir angesprochenen „Amerikanisierung“ des Strafverfahrens. Diese findet sich keineswegs nur in der Regelung der strafprozessualen Verständigung, obwohl natürlich gerade diese ihr Vorbild im angloamerikanischen plea bargaining hat.

Das von mir gemeinte Phänomen der „Amerikanisierung“ spiegelt sich neben den bekannten Einflüssen in anderen außerjuristischen gesellschaftlichen Bereichen (etwa in der Unterhaltungsindustrie, dem Sport usw.) auch in der Justiz in vielfältiger Weise wieder. So wären ohne das amerikanische Vorbild die von mir bereits benannten Privatisierungstendenzen im Bereich der Verbrechensermittlungen, des Strafvollzugs und der Bewährungshilfe undenkbar. Die Politik der harten, ja unmenschlichen Strafen in den USA haben nach meiner festen Überzeugung ihre Spuren auch in der Neuregelung der Sicherungsverwahrung hinterlassen.

Was im Hinblick auf das Thema der Wahrheitsfindung im Strafprozess jedoch von besonderem Interesse ist, ist die Gefahr der partiellen Übernahme angloamerikanischer Strafprozessprinzipien in das deutsche Strafverfahren, wie sie mit der gesetzlichen Regelung der Verständigung bereits stattgefunden hat. Dabei sollte man nicht verkennen, und ein Blick über den Tellerrand des nationalen Rechts hinaus erleichtert dies, dass sich zwischen dem kontinentaleuropäischen und dem angloamerikanischen Strafprozessrecht US-amerikanischer Prägung eine Art Wettbewerb um internationale Marktanteile entwickelt hat. Dies gilt sowohl für die Statuten des internationalen Strafgerichtshofs als auch bei der Etablierung neuer Rechtssysteme in neu entstandenen Staaten. Schwarz und Degen haben diesen Vorgang beispielhaft anhand des neuen, am angloamerikanischen Recht orientierten Strafprozessrechts in Bosnien und Herzegowina untersucht und kommen zu dem Ergebnis, dass „die Amerikanisierung des Rechts – gestützt auf enorme Geldmittel – … in den so genannten „nations in transition“ vom Balkan bis nach Afghanistan nur wenig Rücksicht auf bestehende juristische Traditionen“ nimmt. Dabei seien „speziell ausgebildete Organisationseinheiten des U.S. Department of Justice“ federführend, was aber nicht an die Öffentlichkeit dringe.

Nun ist Deutschland weder eine Nation im Übergang, noch bedürfen deutsche Juristen der Federführung ihrer amerikanischen Kollegen. Wollte man polemisch sein, könnte man sagen: Das können wir schon selbst!

Und so findet das amerikanische plea bargaining, bei allen grundsätzlichen Bedenken, die gegen die Übernahme dieses Systems in das deutsche Recht gefunden wurden (ich nenne hier beispielhaft die Abhandlungen von Trüg und Ransiek ) auch in der deutschen Prozessrechtsliteratur seine entschiedenen Befürworter. Der Prominenteste unter ihnen ist der uns allen bekannte Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof a.D. Meyer-Goßner, der zwar die jetzige Regelung der strafprozessualen Vereinbarung ablehnt, an deren Stelle, sozusagen auf der Überholspur, aber ein echtes guilty plea amerikanischer Prägung befürwortet.

Den ersten Vorstoß unternahm Meyer-Gossner bereits im Jahre 1992. In seinem Aufsatz „Entlastung der Rechtspflege – ein ungewöhnlicher Vorschlag“ lautete der erste Satz: „Dass die Strafjustiz überlastet ist, steht fest.“ Das kennen wir. Die Formulierung „steht fest“ deutet meist auf ein nicht zu hinterfragendes Dogma. Er fährt fort: „Diese bestehende bzw. drohende Überlastung der Strafrechtspflege… muss beseitigt werden… die Lösung des Problems kann nicht darin liegen, dass die Zahl der Strafrichter noch weiter vermehrt wird, ganz abgesehen davon, dass es allmählich auch an geeigneten Persönlichkeiten fehlen wird.“ Diese Feststellung ist besonders verblüffend. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass bei der Auswahl der Richter durch die Justizministerien das Kriterium der geeigneten Persönlichkeit auch nur eine untergeordnete Rolle spielen würde.

Die zentrale Forderung von Meyer-Gossner besteht darin, dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen, nach der Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung eine Erklärung abzugeben, dass er den in der Anklageschrift erhobenen Vorwurf der Begehung einer Straftat einräumt, falls diese nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist. Die Erklärung ist unwiderruflich (hierzu ist anzumerken, dass Meyer-Goßner diese Auffassung auch für die Verständigung im Sinne des § 257c StPO vertritt). Die Beweisaufnahme zum Schuldvorwurf entfällt. Die Verurteilung darf höchstens die Hälfte des gesetzlich angedrohten Höchstmaßes erreichen.

Meyer-Goßner rechnet damit, dass mindestens die Hälfte aller Strafverfahren auf diesem Wege erledigt werden würde. Die Zahl der Strafrichter müssten nicht vermehrt, sondern könnten verringert werden. Wem dies alles zu kühn und ungewohnt vorkomme, der solle sich an das anglo-amerikanische Recht erinnern.

Nun hat dieser wahrhaft ungewöhnliche Vorschlag einen Dornröschenschlaf von 15 Jahren durchgemacht, in denen sich nach meiner Kenntnis niemand ernsthaft dazu geäußert hat. Guilty plea im deutschen Strafprozess? Das erschien völlig undenkbar. Im Jahr 2007 erwachte Dornröschen wieder, geweckt durch einen Aufsatz von Altenhain/Hagemaier/Haimerl in der NStZ 2007, 71ff., in dem diese ein „echtes Unterwerfungsverfahren vorschlugen“. Ich zitiere:

„Eine gesetzliche Etablierung der konsensualen Erledigung sollte sich offener als das heutige Absprachensystem… dazu bekennen, dass Grundlage einer einvernehmlich herbeigeführten Verurteilung die Unterwerfung des Beschuldigten ist…“

Dem Angeschuldigten werden zwei mögliche Strafmaße genannt, eines für den Fall einer streitigen Verhandlung, eines für den Fall der sofortigen „Unterwerfung“ unter die Anklage. „Grundlage der Verurteilung wäre die Unterwerfungserklärung des Angeschuldigten.“

Das ist deutlich. Mit materieller Gerechtigkeit hätte ein solches „Erledigungssystem“ nichts mehr gemein. Gefordert wird nicht mehr und nicht weniger als die Einführung des aus dem Zivilrecht bekannten Anerkenntnisurteils.

Meyer-Goßner fühlte sich durch diese Ausführungen, wie er mitteilt, „dazu ermutigt, auf meinen bereits 1992 gemachten Vorschlag zurückzukommen.“ Der Zeitgeist hatte sich gewandelt, und Meyer-Goßner stellt – bedauerlicherweise wohl zu Recht – fest, dieser Vorschlag „könnte heute auf breite Zustimmung stoßen.“

Meine Damen und Herren, ich habe diese Position zur Amerikanisierung des Strafprozesses deshalb etwas ausführlicher dargestellt, weil sie meines Erachtens ernsthaft die Fortsetzung einer Entwicklung befürchten lässt, die ich nicht gutheißen kann und will. Vom Undenkbaren über das Diskutable zur praktischen Umsetzung ist nur ein kleiner Schritt.

Und, meine Damen und Herren, wer von ihnen hätte im Jahre 1992 vorauszusagen gewagt, dass wir in unserer Strafprozessordnung 2009 die Regelung des Deals finden würden? Auf das plea bargaining im Jahre 2019 kann ich jedenfalls gerne verzichten, und ich hoffe, die meisten von Ihnen auch.
Zusammenfassung

Lassen Sie mich meine Ausführungen zusammenfassen, bevor ich versuche, der deprimierenden Realität unseres Strafverfahrens zumindest einen Hoffnungsschimmer entgegen zu setzen.

Betrachten wir den heutigen Zustand unseres Strafverfahrens, so ist die Rede vom „Abschied von der Wahrheitssuche“ zwar eine provokative, aber nicht unzutreffende Beschreibung. Zu diesen Zustand haben maßgeblich beigetragen die unzureichende Ausbildung des Strafrichters auf dem Gebiet der Wahrheitserforschung, der Verzicht auf Regeln zur Festschreibung des in der Hauptverhandlung gewonnenen Beweisergebnisses, die zunehmende Einschränkung von Verteidigerrechten in der Beweisaufnahme durch die Revisionsgerichte und die gesetzliche Regelung der strafprozessualen Verständigung und der darauf beruhenden Absprachenpraxis sowie die neue Kronzeugenregelung im Strafgesetzbuch. Es steht zu befürchten, dass die Entwicklung noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt ist, und dass der deutsche Strafprozess auf dem Wege ist, über die bereits bestehende Regelung der Verfahrensabsprachen hinaus Grundsätze des angloamerikanischen Strafrechtssystems zu übernehmen und so die materielle Wahrheit zur Disposition der Prozessparteien stellt.
Was ist zu tun?

Es gibt bedauerliche Entwicklungen, die nicht in unserer Hand liegen. Die politische Großwetterlage, national und international, entzieht sich dem bescheidenen Einfluss einer Berufsorganisation. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass auch der Zeit der strafrechtlichen Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre dunkle Jahre der Reaktion und des gesellschaftspolitischen Stillstands voran gingen. Die Liberalisierung des Strafrechts war auch damals nur denkbar mit der Liberalisierung der Gesellschaft.

Nutzen wir die Möglichkeiten, die uns verbleiben, auch wenn diese nicht zahlreich sind. Machen wir uns stark gegen die weitere Erosion unseres Strafprozessrechtes durch Übernahme von „Erledigungsformen“, die unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit widersprechen. Machen wir uns auch stark für eine Prozesskultur, die wenigsten, ich betone: wenigstens, die Regeln einhält, die selbst nach dem zumindest teilweisen Abschied von der Wahrheitssuche noch verblieben sind.

Wehret den Anfängen, kann ich nicht mehr sagen, aber wehret zumindest der Fortsetzung!

Ich bedanke mich für Ihr Interesse oder zumindest für Ihre Geduld.

Dr. Klaus Malek: Abschied von der Wahrheitssuche, Eröffnungsvortrag des 35. Strafverteidigertages, Berlin 2011