Eröffnungsvortrag des 7. Strafverteidigertages, Frankfurt/Main April 1983

Strafverfahrensrecht und politische Kultur

Prof. Dr. Ulrich K. Preuß

1.

Es gehört offenbar auch zur politischen Kultur der Bundesrepublik, dass eine Vereinigung, die auf sich hält und die gegenüber der Öffentlichkeit bestimmte Forderungen geltend machen will, ihre Jahrestagungen mit einem repräsentativen Festvortrag beginnt, womöglich über den Zusammenhang der Ziele der Vereinigung mit der politischen Kultur »unseren Landes«. Häufig wird dann ein veritabler Professor gebeten, den Vortrag zu halten, und die Veranstalter können die berechtigte Erwartung hegen, dass er dann – meist gegen gutes Honorar – den Vereinszielen und -forderungen das Prestige der Wissenschaft leiht und sie als legitime Bestandteile der politischen Kultur adelt. Dass ich mich zu dem heutigen Vortrag über »Strafverfahrensrecht und politische Kultur« bereit erklärt habe und ihn mit diesen Worten eröffne – und, ganz nebenbei, ohne Honorar – kann Ihnen die beruhigende Gewissheit geben, dass ich nicht die Absicht habe, diesem schlechten Beispiel zu folgen.

Einen wichtigen Beratungspunkt der diesjährigen Tagung der Strafverteidigervereinigungen bilden die von den Justizministern und -senatoren im vorigen Jahr beschlossenen Vorschläge zu gesetzlichen Maßnahmen zur Entlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften in der Strafgerichtsbarkeit; wenn immer von Beschleunigung, Entlastung, Vereinfachung oder ganz allgemein von Verfahrensökonomie als Zielen einer Strafprozessreform gesprochen wird, so stellt sich unweigerlich die Assoziation mit der drohenden Vokabel vom »kurzen Prozess« ein. Dass es immer wieder und in erster Linie Strafverteidiger sind, die sich mit diesem Kampfbegriff der Reform entgegenstellen, legt natürlich den Verdacht nahe, dass sie an einem langen Prozess interessiert sind. Tatsächlich ist ja das Verhältnis der Rechtsanwälte zum Recht höchst ambivalent, denn die verdienen gewissermaßen an den Rechtshändeln der Bürger. Und wenn man so hört, was im Volk speziell über die Strafverteidiger gedacht wird, so wird man sicherlich nicht selten die Auffassung hören, dass sie sich von der Kriminalität ernähren. Die Berufung auf die politische Kultur muss dann in diesem Zusammenhang als eine nur allzu vordergründige Rationalisierung ganz handfester materieller Interessen erscheinen.
Nach dieser Logik leben auch Feuerwehrleute davon, dass Brände ausbrechen, oder Ärzte davon, dass Menschen krank werden, d.h. sie leben vom Unglück ihrer Mitbürger und müssten es ihnen geradezu wünschen, um redlich und gut ein rechtmäßiges Einkommen zu erzielen. Wir alle wissen, dass das eine unsinnige Argumentation ist, die nicht durchschaut, dass bestimmte Dienstleistungen stets für einen Spitzenbedarf vorgehalten werden müssen, so dass es so erscheint, als warte der Arzt oder die Feuerwehr geradezu auf eine Kapazitätsauslastung und damit auf Unglück. Für die Strafverteidiger kommt aber etwas anderes hinzu. Sie haben es nicht mit Unglück, sondern mit Unrecht zu tun, und dieses Unrecht ist nicht etwas in der äußeren Welt Erkennbares, sondern nur durch Sinndeutung Erschließbares; was Unrecht ist, wird auf dem Hintergrund einer Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität einerseits vom Staat definiert, andererseits aber auch interpretiert.
Besonders drastisch zeigt sich im Strafverfahren, dass es stets zugleich mit der Identifizierung und Sanktionierung des Missetäters ein Prozess der Authentifizierung, Bestätigung und Bekräftigung gesellschaftlicher Ordnungsnormalität ist. Und damit sind wir auch schon bei der Beziehung des Strafverfahrensrechts zur politischen Kultur.

Der Begriff der Kultur bezeichnet in dem hier benutzten sozialwissenschaftlichen Sinne die Haltungen, Lebensweisen und Lebensstile, die Interpretationen, die Themen und Formen der Kommunikation, die Normen und Praktiken, vermittels derer Individuen und Gruppen sich gesellschaftliche Realität aneignen, verändern und für ihre Lebenspraxis organisieren. Wenn ich von politischer Kultur spreche, so meine ich damit die Beziehungen dieser Lebenspraxis zur politischen Gewalt, insbeson­dere die Frage: Welche Sozialidee von gesellschaftlicher Normalität liegt dem Funktionieren der politischen Institutionen ausgesprochen oder unausgesprochen zugrunde, und wie reagiert die politische Gewalt auf eine der herrschenden Kultur unangepasste Lebenspraxis? Denn soviel ist evident: Es gibt keine einheitliche politische Kultur, sondern eine herrschende (oder: hegemoniale) und vielfache politische und unpolitische Subkulturen; wenn ich hier über den Zusammenhang von Strafverfahrensrecht und politischer Kultur spreche, so interessiert uns natürlich in besonderem Maße die Frage, in welcher Weise die Strafgerichtsbarkeit die Formen und Normen der herrschenden Kultur durchsetzt und welchen Raum sie dem Eigensinn abweichenden Verhaltens und seiner Deutung einräumt. Kurz: welches gesellschaftliche Wertbewusstsein steuert das Strafverfahren?

Das klingt alles sehr abstrakt und wenig praktisch, aber wir Juristen kennen doch alle den »billig und gerecht denkenden« homunculus, der als Durchschnittsgröße durch die juristischen Texte geistert und uns als Personifizierung gesellschaftlicher Normalität allenthalben begegnet. Um ihn mir einigermaßen plastisch zu machen, stellte ich ihn mir in meiner Studentenzeit immer als den Drogisten um die Ecke vor, der mit jedem Stück Seife zugleich auch stets eine handliche Portion Rechtschaffenheit und Einverständnis mit der Welt, wie sie nun einmal war, über den Ladentisch reichte. Heute denke ich natürlich nicht mehr an meinen Drogisten, wenn ich mir den »billig und gerecht denkenden« Zeitgenossen vorstelle, sondern an den soignierten jungen Mann um die Mitte 30 im Nadelstreifen oder schwarzen Blazer, mit schwarzem Aktenköfferchen in der Hand – darin natürlich ein Taschenrechner -, den man vorzugsweise in den 1. Klasse-Abteilen der Intercity-Züge antrifft. Er handelt natürlich nicht mit Seife – oder jedenfalls nicht hinter einem Ladentisch -, sondern überwacht vielleicht die Warenein- und -ausgänge eines Drogeriesupermarktes. Auch er strahlt Einverständnis mit der Welt, wie sie nun einmal ist, aus, aber seine Rechtschaffenheit wirkt ein wenig abstrakt und eigenschaftslos verglichen mit der meines damaligen Drogisten, aber auch im Vergleich mit jenem jungen bärtigen Mann, den man einige Abteile weiter 2. Klasse sitzen sehen kann, Turnschuhe, Jeans, Lederjacke, in die taz vertieft und auf seinem Gesicht die fast trotzige Gewissheit des Dissenses mit der Welt, wie sie nun einmal ist. Wir machen uns wohl alle irgendwie ein Bild vom Durchschnittsbürger, seinen typischen Eigenschaften und seinem Lebensstil, und natürlich von seiner Rechtschaffenheit. Das kann u.U. fatale Folgen haben.

Was hat das mit unserem Thema zu tun? Nun, hören Sie folgende kleine Geschichte, die vor einigen Tagen in der New York Times zu lesen war.

Auf dem Flughafen von Miami fiel Polizeibeamten ein nervös wirkender junger Mann auf, der zwei schwere Koffer bei sich trug. Sie beobachteten, wie er mit vielen kleinen Banknoten ein Flugticket nach New York kaufte. Diese Tatsache sowie sein Benehmen und sein Gepäck passten genau in das Profil, das für viele Drogenkuriere charakteristisch ist. Als sie ihn ansprachen und um seinen Ausweis baten, stellten sie fest, dass er das Ticket unter falschem Namen gekauft hatte. Mit seinem Ausweis und Flugschein in ihren Händen, baten sie den jungen Mann in einen nahegelegenen Raum zur näheren Befragung, dort gestattete er ihnen, sein Gepäck zu öffnen. Die Sache hat nun eine Pointe, die viele von Ihnen vermutlich nicht erwarten: In den Koffern befand sich Marihuana.

Also eine ganz alltägliche Geschichte. Die Angelegenheit hat noch eine weitere Pointe, weswegen sie überhaupt in die Spalten der New York Times geriet. Der junge Mann wurde verurteilt und ging nun zum Supreme Court. Dort wurde die Verurteilung – allerdings gegen abweichende Meinungen – aufgehoben. Das Gericht erklärte, die Tatsache, dass jemand das »Profil« eines Drogenkuriers habe, rechtfertige für sich alleine keine Festnahme. Als der junge Mann seine Zustimmung zur Durchsuchung seiner Koffer gegeben habe, habe er sich in einem unrechtmäßigen Gewahrsam der Polizei befunden, weil der auf das »Profil« gestützte Verdacht die Festnahme nicht habe rechtfertigen können. Die New York Times, die diese Entscheidung des Gerichts beifällig kommentiert, fügt hinzu, dass, wenn die überstimmte Minderheit des Gerichts obsiegt hätte, manch ein unschuldig Reisender erheblichen Grund zur Beunruhigung hätte.

Der Kommentar der New York Times trägt die Überschrift »Profile und Gerechtigkeit«, und sowohl das Urteil, von dem er berichtet, und er selbst sind in mancher Hinsicht sehr aufschlussreich. Zunächst besagen sie, dass Vorurteile auch dann keine Grundlage für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen darstellen können, wenn sie sich im Einzelfall als zutreffend erweisen. Sodann lehnen sie die Standardisierung des Verdachts durch sog. Persönlichkeitsprofile ab, weil diese vielleicht statistische Wahrscheinlichkeiten, aber keinen individualisierten Verdacht begründen können. Dieses Argument erklärt, warum selbst unser junger Mann in Miami nicht verurteilt werden konnte, obwohl er doch zweifellos Rauschgift in seinem Gepäck führte: Er war gewissermaßen nur aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeit in Verdacht geraten, errechnet aufgrund aggregierter Durchschnittsdaten, die in diesem Falle durchaus zutreffend waren, denen aber bemerkenswerterweise kein strafprozessualer Beweiswert beigemessen wurde. Warum nicht? Man könnte meinen, weil diese Form der Erkenntnisproduktion methodisch zu ungenau sei; aber dieses Argument verfängt natürlich wenig, wenn im konkreten Falle sich der Verdacht bestätigt, und schließlich besteht ja auch die Möglichkeit, die Methoden zu verfeinern und treffsicherer zu machen.

Ich denke, der Grund liegt woanders. Sozialstatistische Daten und Korrelationen mögen ein Wissen produzieren, welches gesellschaftliche Funktionsabläufe erfasst und entsprechend ein Handeln staatlicher Instanzen ermöglicht, das auf die Beeinflussung von Durchschnittsgrößen gerichtet ist. Für Verfahren dagegen, in denen es um Rechte von Individuen geht, ist es vollkommen ungeeignet, und seine Anwendung würde einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem bereits erreichten Stand rechtlicher Rationalisierung bedeuten. Denn sozialstatistische Daten und daraus gefertigte typische Profile von Verdächtigen stellen ja nichts anderes dar als ein kanonisiertes gesellschaftliches Wissen über typische Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der Begehung strafbarer Handlungen; würde man derartige Wahrscheinlichkeiten strafprozessual als Grundlage von staatlichen Zwangsmaßnahmen anerkennen, um sich sodann letzte Gewissheit zu verschaffen, so läge eine bemerkenswerte Parallele zu der immerhin aus dem Jahre 1532 stammende Constitutio Criminalis Carolina vor, in der man ebenfalls das damals vorhandene gesellschaftliche Wissen über die wahrscheinlichen Zusammenhänge zwischen individuellem Verhalten und strafbaren Handlungen in Gestalt von enumerierten Indizien fixierte und dann beim Vorliegen dieser Indizien bei einer bestimmten Person die sog. »peinliche Befragung«, d.h. die Anwendung der Folter, zuließ, um die Wahrscheinlichkeit in Gewissheit zu überführen. Heute ist die Folter durch die freie Beweiswürdigung ersetzt worden, die ihr funktionales Äquivalent darstellt, weil auch sie die Kenntnis allgemeiner Zusammenhänge zur subjektiven Gewissheit des Richters über die Schuld oder Unschuld eines individuellen Beschuldigten verdichten soll.

Dass sich Richter häufig mit den Wahrscheinlichkeiten der Lebenserfahrung begnügen, ist bekanntlich eine wesentliche Ursache von Fehlurteilen. Wie schnell ein derartiges Wissen aus Lebenserfahrung in Vorurteile umschlägt, zeigt sich sogar bei Karl Peters, der in seiner wichtigen Untersuchung über »Fehlerquellen im Strafprozeß« im Zusammenhang mit Notzuchtsdelikten zwar zur Vorsicht bei der Beweiswürdigung mahnt, aber dann selbst schreibt:

»Als Vorsichtsregel könnte der Satz etwa so aufgestellt werden, wie ihn vor mehr als 40 Jahren der Oberstaatsanwalt der Be­hörde, bei der ich Staatsanwalt war, formulierte: Ist die Frau freiwillig mitgegangen, so läßt sich der Beweis der Notzucht nicht führen‘.«

Wenn wir also fragen, in welcher Weise die Strafgerichtsbarkeit die Formen und Normen der herrschenden Kultur durchsetzt, so haben wir eine erste vorläufige Antwort: Die von einer Generation von Staatsanwälten und Richtern an die nächste weitergegebene Lebenserfahrung, die fixierten Indizien der Constitutio Criminalis Carolina oder die Profile einer sich sozialwissenschaftlicher Methoden bedienenden Polizei sind lediglich verschiedene Varianten hegemonialer Wirklichkeitsdeutung und -rekonstruktion, die das Feld abstecken, in dem dann die individualisierte Wahrheit gefunden wird.
2.

Ich sagte vorhin, dass es der Strafprozess nicht mit Unglück, sondern mit Unrecht zu tun hat, und dass Unrecht sich nicht durch sinnfällige äußere Merkmale offenbart, sondern lediglich durch Sinndeutung zum Bewusstsein gelangt. Das primitive Recht unterscheidet nicht zwischen Unglück und Unrecht und, wie Max Weber feststellte, richtet sich in ihm der Zorn des Verletzten

»gegen tote Naturobjekte, an denen er sich unerwartet beschädigt, gegen Tiere, die ihn unerwartet verletzen […], und gegen Menschen, die ihn unwissentlich fahrlässig vorsätzlich kränken, ganz gleichmäßig.«

So ist auch die Erforschung der Ursachen von Unglück und des Urhebers von Unrecht noch gänzlich ungeschieden in einem magischen Weltverständnis aufgehoben, in dem der »Wahrheitsbeweis« gewissermaßen objektiviert ist: gerichtlicher Zweikampf und Gottesurteile sollten jegliche subjektive Willkür bei der Identifizierung des Missetäters ausschließen, und wenn wir dieses Programm einer objektiven, von Menschen unabhängigen Wahrheit unseren heutigen Verhältnissen anpassen, so landen wir bei Horst Herold, der die Gottesurteile primitiver Rechtsordnungen in moderner Gestalt wiedererstehen lässt:

»Ich erstrebe einen Strafprozeß, der […] frei ist von Zeugen und Sachverständigen. Der sich ausschließlich gründet auf den wissenschaftlich nachprüfbaren, meßbaren Sachbeweis. Nach meiner Theorie wäre, so schrecklich das klingt, auch der Richter entbehrlich.«

Das wäre dann eine moderne Variante der Identifizierung von Unglück und Unrecht mit weitreichenden Implikationen und Konsequenzen. Die gesellschaftliche Ordnung würde als eine äußere Naturtatsache verstanden, die nicht mehr mit Sinnkategorien, sondern nur noch mit technischen Funktionsbegriffen zu erfassen wäre. Menschliches Handeln würde von seinen Sinnbezügen isoliert und als rein physikalischer Wirkungsmechanismus aufgefasst und behandelt werden mit der Folge, dass jede Ordnungsabweichung ähnlich wie ein technischer Defekt nach Maßgabe technischer Effizienz bekämpft werden müsste. Die Gesellschaft wäre gewissermaßen eine Maschine, in der sich der gesellschaftliche Herrschaftszusammenhang derart objektiviert und gegen Sinndeutungen – und damit natürlich auch gegen Kritik und Opposition – immunisiert hätte, dass der Begriff des Unrechts selbst aus ihrem Begriffsapparat getilgt wäre und an die Stelle der Justiz die von Herold visionär geschaute »gesellschaftssanitäre« Einrichtung treten würde.

Wenn wir von einem Fortschritt der Rechtskultur sprechen, so gehört hierher zweifellos die Abkehr von einer Betrachtung des bloß äußeren Erfolges einer Handlung hin zu einer Betrachtung der subjektiven Handlungsprämissen, d.h. zur Sinndeutung und damit zur Differenzierung von Unglück und Unrecht. Das bedeutet vor allen Dingen, dass Wahrheitserkenntnis in bezug auf Unrecht nicht in der Beobachtung von Kausalabläufen besteht und somit etwas außerhalb der Person des Beobachtenden Objektives ist, sondern den Charakter subjektiver Gewissheit annimmt. Es klingt sicherlich in unseren Ohren äußerst zynisch, und ich spreche den Gedanken auch ungern aus, aber unter dem Gesichtspunkt des Fortschreitens der Rechtskultur reflektiert die Einführung der Folter im 13. und 14. Jahrhundert nichts weniger als das Bedürfnis nach subjektiver Gewissheit, die an die Stelle einer durch formale Beweismittel produzierten, vom Urteilenden unabhängigen objektiven Wahrheit tritt. Das ist die Kehrseite der Unterscheidung zwischen einer am Erfolg gemessenen Störung der Ordnung und Unrecht. Die subjektive Gewissheit des Urteilenden darüber, dass der Verdächtige auch tatsächlich der Missetäter ist, begnügt sich nicht länger mit dem »Test«, dass z.B. der des Mordes Verdächtige die Leiche des Erschlagenen küsst und dann dessen Wunden zu bluten anfangen. Er sucht nach einem direkten, individuellen Zusammenhang zwischen den vorliegenden Indizien und dem Verdächtigen, und hierbei muss ihm dessen Geständnis letztlich als die einzig sichere Quelle seiner subjektiven Gewissheit erscheinen. Dieses um buchstäblich jeden Preis zu erlangen, wird damit zum Ziel des Strafverfahrens, und daher ist die Grausamkeit der Folter als einer gesellschaftlichen Einrichtung des Mittelalters – die übrigens in Preußen auch erst im 18. Jahrhundert abgeschafft wurde – bekanntlich nicht das Resultat sadistischer Neigungen, sondern des Strebens nach Gewissheit.

Subjektive Gewissheit gründet im Gewissen, und dieses ist die Instanz des unbedingt Richtigen; die Erkenntnis von Unrecht wurde damit zu einer Gewissensfrage oder, umgekehrt formuliert: Das Gewissen wurde zum Unterpfand für die Integrität der gesellschaftlichen Ordnung, Gewalt und Gewissen gingen eine unheilvolle Verbindung ein. Welche Folgen das hatte, zeigen die blutigen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa, aus denen der souveräne moderne Staat hervorgegangen ist, der durch Privatisierung des Gewissens und Monopolisierung gesellschaftlicher Ordnungsmacht Gewalt und Gewissen institutionell voneinander trennte. Die allmähliche Zurückdrängung der Folter lag nur in der Konsequenz dieser Entwicklung, hinterließ aber ein Dilemma: Verzichtete man mit der Abschaffung der Folter auf die subjektive Gewissheit über die Täterschaft des Beschuldigten, so musste das praktisch zur Verdachtsstrafe führen, wie sie auch tatsächlich im 17, und 18. Jahrhundert als sog. poena extraordinaria vielfach praktiziert wurde. Wollte man jedoch hinter das historisch einmal erreichte Kriterium subjektiver Gewissheit nicht zurückfallen – und tatsächlich wurde die poena extraordinaria in der zeitgenössischen Literatur vielfältig kritisiert -, so hatte man die Alternative, entweder unendlich lange zu prozedieren, bis aus Wahrscheinlichkeit Gewissheit geworden war, oder, wenn die Verfahren zeitlich begrenzt werden sollten, bei bloßem Verdacht freizusprechen. Beide Wege sind auch tatsächlich beschritten worden, wobei das unendliche Prozedieren in der Form einer vorläufigen Freisprechung (sog. Entbindung von der Instanz, absolutio ab instantia) geschah.

Ich habe nicht die Absicht, hier ein Kolleg über Strafprozessgeschichte zu halten, sondern möchte Ihnen lediglich das strukturelle Problem des Strafprozesses deutlich machen, mit dessen Lösung wir es bis auf den heutigen Tag zu tun haben: Verlangt man Gewissheit über Tat, Täter und dessen Schuld, und gesteht er nicht aus freien Stücken, so muss man entweder Zwang anwenden (die Folter) oder unendlich prozedieren; beides aber ist mit der Freiheit und der Gleichheit der Person unvereinbar und daher auch mit der allmählichen Durchsetzung des rationalistischen Naturrechts in einem allerdings sehr langsamen Prozess zurückgedrängt worden. Aber auch die bloße Verdachtsstrafe als die nun noch verbleibende Alternative ist mit der Freiheit der Person unvereinbar. Wir finden das drastisch ausgedrückt in einer Formulierung Voltaires, die ich dem Buch von Max Hirschberg über »Das Fehlurteil im Strafprozeß« entnehme; Voltaire schreibt:

»Wie! Man verlangt einen strengen Beweis für die Behauptung, daß die Oberfläche einer Kugel gleich dem Vierfachen der Fläche des Kreises um ihren Mittelpunkt ist, und es soll kein strenger Beweis erforderlich sein, um einem Mitbürger das Leben für ein Kapitalverbrechen zu rauben?«

Die weitere Möglichkeit schließlich neben einer durch Zwang oder durch unendliches Prozedieren gewonnenen Gewissheit und neben einer Herabsetzung der Wahrheitskriterien auf das Niveau des Verdachts, nämlich die Gewissheit kraft Offenbarungswissens oder Glaubens, schied in einer sich zunehmend rationalisierenden und ökonomisierenden Gesellschaft von vornherein als Grundlage des Strafprozesses aus. Eingriffe in Freiheit und Leben der Person bedurften nunmehr einer rationalen, d.h. kommunizierbaren und überprüfbaren Begründung und konnten daher weder auf ein kanonisiertes überindividuelles gesellschaftliches Wissen noch auf ein hochindividualisiertes Glaubenswissen begründet werden.

Wie löst nun der Strafprozess dieses Dilemma? Wir wissen, dass das Prinzip des unendlichen Prozedierens und des Verzichts auf ein autoritatives, den Erkenntnisgang abschneidendes letztes Wort zur Maxime der modernen Wissenschaftsfreiheit gemacht worden ist, wie sie sich institutionell in der Humboldtschen Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 niedergeschlagen hat. Die Universität ist für Humboldt nicht länger die Stätte der Überlieferung kanonisierten gesellschaftlichen Wissens, sondern der Ort individuell verantworteten und schöpferischen Suchens nach Wahrheit in »Einsamkeit und Freiheit«. Jede Anwendung von Zwang würde diesen Prozess nur behindern, denn, wie Humboldt schreibt, der Staat müsse sich immer bewusst bleiben,

»daß er […] immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt, daß die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde.«

Hier drückt sich die in der Aufklärung gewonnene Erkenntnis aus, dass Zwang ein ungeeignetes Mittel ist, Wahrheit zu produzieren. Auch die Gegner der Folter hatten ja schon frühzeitig erkannt, dass die Anwendung der sog. »peinlichen Befragung« keineswegs ein geeignetes Mittel der Wahrheitsfindung war.

Allerdings ist die für die Wissenschaftsfreiheit gefundene Lösung einer freien und zwanglosen Wahrheitssuche und Kommunikation für den Strafprozess nicht gangbar, denn er zielt auf eine autoritative Entscheidung über Schuld und Unschuld, Freiheit und Leben oder Strafe. Und, was noch wichtiger ist, in ihm soll ja nicht absichts- und interesselos ein Sachverhalt geklärt und auch nicht nur die Frage der Schuld entschieden werden, sondern es soll die Integrität der gesellschaftlichen Ordnung durch die Identifikation des Unrechts und des Rechtsbrechers authentisch und autoritativ bezeugt und bekräftigt werden. Zwang gehört daher zu seinen wesentlichen Strukturmerkmalen, und die Wahrheit, die in ihm gefunden werden soll, kann nur eine autorisierte Wahrheit sein. Die für den modernen Staat charakteristische Neutralität seiner Zwangsgewalt gegenüber jeglicher durch Offenbarung oder durch Vernunft gewonnener Gewissheit – rechtlich fixiert in den Grundrechten der Glaubens- und der Wissenschaftsfreiheit – lässt sich für den Strafprozess nicht etablieren.

Kann man also weder auf rational gewonnene Gewissheit noch auf Zwang verzichten, so bleibt nur die Möglichkeit, die Kriterien strafprozessualer Wahrheit mit den Notwendigkeiten eines auf autoritative Entscheidung gerichteten Verfahrens kompatibel zu machen. Juristen und Rechtssoziologen haben vielfach beschrieben, dass der strafprozessuale Wahrheitsbegriff keineswegs mit dem Wahrheitsbegriff der Wissenschaft identisch ist; das Strafverfahren ist vielmehr so strukturiert, dass der Möglichkeitsraum von Erkenntnis, d.h. von Informationen und In­terpretationen, dergestalt limitiert wird, dass am Ende eine Entscheidung über Tä­terschaft und Schuld des Beschuldigten möglich ist. Das impliziert, wie es Krauß einmal vor einiger Zeit formuliert hat,

»daß die Straftat von einer Störung der sozialen Ordnung zur Missetat hochstilisiert wird und der verurteilte Täter in jedem Fall als eine freie, auf Selbstverantwortung angelegte Person erscheint.«

Und das impliziert weiterhin, dass das gesamte Strafverfahren weniger eine institutionalisierte Methode der systematischen Erforschung der Wirklichkeit ist als vielmehr eine zeremonielle Form des Aufbaus einer überhaupt nur für den Prozess geschaffenen neuen Realität, in der sich der Beschuldigte wiedererkennen kann und die andererseits dem Richter die Möglichkeit gibt, eine Entscheidung über Täterschaft und Schuld des Beschuldigten zu treffen. Es ist ja doch ein auf den ersten Blick erstaunlicher und befremdlicher Umstand, dass der Richter seine eventuelle eigene unmittelbare persönliche Beobachtung eines von ihm zu beurteilenden Tatgeschehens nicht in die Verhandlung einbringen und verwerten darf; vielmehr wird er dadurch zum Zeugen und damit von der Urteilstätigkeit in diesem Falle ausgeschlossen. Dies lässt sich nur damit erklären, dass dem Richter als dem Entscheidenden nur eine mediatisierte, und zwar durch kommunikative Medien vermittelte Wirklichkeit als Grundlage der Entscheidung dienen soll. Wir sehen hier eine bemerkenswerte Parallele zum politischen Formprinzip der Repräsentation.

Das Repräsentationsprinzip beruht darauf, dass nicht die vielen, unmittelbaren, empirischen Willensäußerungen der Bevölkerung als ihr politischer Wille angesehen wird, sondern nur der durch gewählte Repräsentanten ausgedrückte; der Wille des Volkes ist demnach empirisch unbeachtlich und als politische Realität nur als mediatisierter Wille der Repräsentanten vorhanden. Ähnlich ist im Strafverfahren nicht eine ja auch ungreifbare empirische Realität, sondern nur eine kommunikativ vermittelte repräsentierte Wirklichkeit bedeutungsvoll und Grundlage der Entscheidung. Es handelt sich hierbei natürlich nicht um eine bloße Widerspiegelung der empirischen Realität, sondern um einen machtgesteuerten Prozess der Selektion entscheidungserheblicher Umstände und damit um die Konstruktion einer vollständig neuen Wirklichkeit. Diese neue Wirklichkeit, deren vorgefertigter Rahmen der selbstverantwortliche Täter und die Integrität und Richtigkeit der von ihm verletzten Ordnung ist, stellt sich somit gewissermaßen als eine Inszenierung eines gesellschaftlichen Ordnungswissens auf dem Hintergrunde einer individuellen Missetat dar. Rein theoretisch ist damit das zentrale Struktur­problem des Strafprozesses gelöst, nämlich: Wie kann man Wahrheit unter Bedingungen von Zwang und in einem durch eine autoritative Entscheidung abgeschnittenen Verfahren sicherstellen? Die Antwort lautet: Durch die Konstruktion einer neuen, prozessualen Wahrheit, die von vornherein nach den Konstruktionsprinzipien der Entscheidbarkeit über Täterschaft und Schuld eines Individuums zu entwerfen ist.
3.

Es leuchtet nun ohne weiteres ein, dass diese theoretische Lösung, Zwang und Wahrheit miteinander zu vereinbaren, nur dann auch wirklich Freiheit und Gleichheit der Individuen garantiert, wenn der Beschuldigte eine hinreichende Chance hat, seine Deutung der Wirklichkeit wirksam zur Geltung zu bringen. Was heißt das konkret? Um diese Frage beantworten zu können, muss ich einige Bemerkungen vorausschicken.

In der strafprozessualen Literatur und z.T. auch in der Rechtsprechung findet man häufig die Auffassung, dass das Strafverfahren vier verschiedene, in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinanderstehende Ziele zu verwirklichen habe, nämlich (1.) Sachverhaltsaufklärung und Wahrheitsfindung, (2.) zügige Durchführung des Verfahrens, (3.) Schutz des Beschuldigten durch Einräumung von Einwirkungsmöglichkeiten und Begrenzung der staatlichen Machtmittel und schließlich (4.) ausreichende Effizienz zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts. So wird argumentiert, dass z.B. die Maximierung des Ziels der Wahrheitsfindung die Rechte des Beschuldigten oder anderer Verfahrensbeteiligter verletze und dieses Ziel damit verfehle, oder dass die Maximierung des Schutzes des Beschuldigten das Ziel einer ausreichenden Effizienz der Strafverfolgung vernachlässige, oder dass ein unter dem Gesichts­punkt der Verfahrensökonomie wünschenswertes schnelles und kurzes Verfahren u.U. sowohl das Ziel der Wahrheitsfindung wie auch des Schutzes des Beschuldig­ten übergehe. Folglich wird eine sog. »praktische Konkordanz« zwischen den Zielen dieses »magischen strafprozessualen Vierecks« gefordert, wobei außerhalb der engeren fachlichen Diskussion dieses Spannungsverhältnis auf den schlichten Gegensatz zwischen effizienter Verbrechensbekämpfung versus Rechte des Beschuldigten reduziert wird.

Auch die Redeweise des Bundesverfassungsgerichts von der »Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege« als Grenze individueller strafprozessualer Rechte bewegt sich gefährlich nahe an dieser Gegenüberstellung. Es liegt dann natürlich die Deutung nahe, den Beschuldigten und seine Rechte gewissermaßen als Hindernis einer an sich möglichen und wünschenswerten Wahrheitsfindung aufzufassen, im Hinblick aber dann auf die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen auch seinen Rechten als »Wahrheitsverhinderer« Rech­nung zu tragen. Es entsteht dann natürlich ein struktureller Druck gegen diese Rechte, denn sie sind lediglich Schranken der Wahrheitsfindung, die ihrerseits noch an Bedeutung gewinnt, weil sie sich mit der Verteidigung der Rechtsordnung verbündet hat. Dass die Strafprozessordnung bei allzu großer Betonung der Rechte des Beschuldigten zur »Magna Charta des Verbrechers« wird, ist dann lediglich die polemische Überspitzung einer verbreiteten Stimmung. Sie wird immer wieder genährt aus dem Argument, dass es nicht angehen könne, dass die ganz überwiegende Masse der rechtstreuen Bürger ständig mit der Sorge um Minderheiten, zumal rechtsbrecherische, belästigt werde. Irgendwie kommt am Ende derartiger Debatten immer wieder die Frontstellung heraus: Mehrheitsschutz versus Minderheitenschutz oder in der Terminologie des Strafprozessrechts: effektive Strafverfolgung versus Rechte des Beschuldigten. Seit über 100 Jahren schieben sich mehr autoritäre und mehr liberale Strafprozessualisten die Argumente wechselseitig zu, wobei allerdings zu vermerken ist, dass die liberale Tradition in Deutschland stets ein recht zartes Pflänzchen geblieben ist.

Der Streit scheint mir in dieser Form fruchtlos, weil er auf äußerst problematischen Voraussetzungen und Annahmen beruht. Schauen wir uns nämlich einmal näher die Elemente des »magischen strafprozessualen Vierecks« an, so werden wir schnell feststellen, dass sie keineswegs alle auf der gleichen logischen Ebene angesiedelt sind. Zunächst einmal bleibt ein Element völlig unerwähnt, das indessen für alle anderen von größter Bedeutung ist. Ich meine die dem Strafverfahren zugrundeliegenden und der Disposition der Verfahrensbeteiligten entzogene doppelte Prämisse, dass erstens überhaupt entschieden (und nicht unendlich prozediert wird) und dass zweitens über Schuld und Strafe eines Individuums entschieden wird. Dies ist deswegen von allergrößter Bedeutung, weil damit der Rahmen für das Ziel des Verfahrens determiniert wird. Dieses Ziel ist die Wahrheitsfindung oder, wie es in § 261 StPO heißt, die »freie Überzeugung« des Gerichts – lediglich ein anderer Begriff für subjektive Gewissheit. Die Prämisse, dass über Schuld und Strafe eines Individuums zu entscheiden ist, determiniert das Ziel der Wahrheitsfindung dahingehend, dass die Wahrheit der Handlungen und der Schuld einer Person zur Gewissheit des Gerichts festgestellt werden soll, also sein individuelles Unrecht. Es steht also nicht »das Verbrechen« und auch nicht »der Verbrecher« als gesellschaftlicher Typus, als Rolle oder als eine soziale Konstruktion vor Gericht, sondern die mit allen Rechten ausgestattete Person. Wie ich oben bereits sagte, ist die strafprozessuale Wahrheit eine erst im Prozess geschaffene, kommunikativ vermittelte neue, repräsentierte Wirklichkeit, deren spezifischer Charakter darin besteht, dass sie einerseits nach dem Kriterium von individueller Schuld und Strafe auf Entscheidbarkeit hin konstruiert ist, also an sich mit dem Prinzip der Wahrheitsfindung unvereinbar ist, andererseits aber dadurch gerade gewissermaßen nach dem Maße der Person angefertigt wird. Hatte Humboldt die wissenschaftliche Wahrheit »als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes« betrachtet, die man unablässig suchen müsse, so endet das strafprozessuale Verfahren mit einer Entscheidung, die man früher auch als »das Erkenntnis« bezeichnete. Dieses Erkenntnis kann legitimerweise als pragmatische Wahrheit nur anerkannt werden, weil es sich um die nur durch Sinndeutung erschließbare Wahrheit der Handlungen einer als verantwortungsfähig angenommenen ganz konkreten, unverwechselbaren individuellen Person handelt. Diese Person ist daher für die Konstruktion der neuen strafprozessualen Wirklichkeit völlig unverzichtbar. Das bedeutet, dass die Rechte des Individuums keine Schranke der Wahrheitsfindung im Strafprozess sind, sondern notwendige Bedingung der Konstruktion einer neuen, kontextgebundenen, pragmatischen Wahrheit. Das Gelingen der Konstruktion einer strafprozessualen Wahrheit hängt im wesentlichen von Sinndeutungen ab – und hierfür sind die Sinndeutungen des Beschuldigten sowohl bei der Auswahl der beweiserheblichen Tatsachen wie auch bei deren Interpretation unverzichtbar.

Um auf das »magische strafprozessuale Viereck« zurückzukommen, so zeigt sich, dass die Wahrung von Rechten des Beschuldigten (und anderer Verfahrensbeteiligter) nicht das Ziel des Strafverfahrens ist, sondern vielmehr ein notwendiges Element der Produktion einer prozessualen Wahrheit, nicht anders als die einzelnen Schritte zur Bildung der richterlichen Überzeugung oder die Auswahl und Interpretation der Beweismittel. Es ist daher verfehlt, Wahrheitsfindung und Rechte des Beschuldigten als zwei unabhängige Ziele gegeneinander abzuwägen. Es gibt nur ein Ziel – die Wahrheitsfindung – und eine Vielzahl von Faktoren, mittels derer dieses Ziel erreicht wird; unter denen befinden sich die einzelnen Verfahrensrechte des Beschuldigten. Auch die Durchsetzung des materiellen Strafrechts ist kein selbstständiges, neben der Wahrheitsfindung bestehendes Ziel. Das materielle Strafrecht ist ja nichts anderes als die Formulierung von Straftatbeständen nach allgemeinen begrifflichen Merkmalen. Es kann nicht anders durchgesetzt werden als durch das Strafverfahren, d.h. durch die strafprozessuale Wahrheitsfindung. Ist am Ende des Verfahrens »eine Erkenntnis«, d.h. eine verbindliche Entscheidung i.S. der Gewissheit der Richter getroffen worden, so ist dies die Anwendung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts. Mit anderen Worten: Die Anwendung des materiellen Strafrechts ist die Folge der Verwirklichung des einzigen Zieles des Strafverfahrens, nämlich der durch eine Entscheidung abgeschlossenen Wahrheitsfindung. Da­her ist die Redeweise, dass das Ziel der Durchsetzung des materiellen Strafrechts mit dem konfligierenden Ziel der Wahrheitsfindung durch praktische Konkordanz – und das heißt doch wohl: durch Abwägung – vereinbar gemacht werden müsse, im besten Falle sinnlos, im schlimmsten dagegen leichtfertig. Denn dieses Argument unterstellt, dass die Durchsetzung des materiellen Strafrechts auch mit anderen Mitteln als denen strafprozessualer Wahrheitsfindung erreicht werden könnte.

Schließlich das letzte Element des »magischen strafprozessualen Vierecks«, die Verfahrensökonomie i.S. einer zügigen Durchführung des Verfahrens: Ökonomie hat es mit dem Phänomen von Knappheit zu tun, und Verfahrensökonomie ist die Reaktion der Verfahrensbeteiligten auf die Knappheit von Zeit sowie von sächlichen und persönlichen Mitteln. Ein Verfahren, das mit einer Entscheidung endet, hat, wie bereits gesagt, geradezu die Prämisse, dass nicht unendlich prozediert wird, d.h. beliebig mit der Zeit der Verfahrensbeteiligten und den für das Verfahren notwendigen sächlichen und persönlichen Mitteln umgegangen wird. Das Haushalten mit diesen knappen Ressourcen ist aber nicht das Ziel des Strafverfahrens, sondern als eine restriktive Bedingung eine Prämisse. Wenn ich mir ein Auto kaufen will und ich kein Krösus bin, sondern mit einer beschränkten Menge Geld auskommen muss, so wähle ich unter den Angeboten, die mir zusagen, das preisgünstigste aus. Mein Ziel ist aber dabei nicht zu sparen, sondern ein Auto zu kaufen, und die Knappheit meiner Mittel ist lediglich eine restriktive Bedingung für meine Kaufentscheidung. Natürlich ist es denkbar und kommt auch täglich vor, dass ich statt viel Geld für ein gutes Auto lieber weniger Geld für ein schlichteres Fahrzeug ausgebe, um die dadurch ersparten Mittel zur Erfüllung anderer Bedürfnisse oder Wünsche übrig zu haben. Ich modifiziere also mein Ziel nach Maßgabe der Knappheit meiner Finanzmittel. Aber das Haushalten mit meinen knappen Mitteln ist nicht selbst das Ziel meines Handelns. Ebenso wenig ist das Haushalten mit den knappen Ressourcen Zeit, sächliche und persönliche Mittel Ziel des Strafverfahrens.

Aber unbestreitbar richtig ist, dass Wahrheitsfindung und Verfahrensökonomie nicht zwei völlig voneinander unabhängige Größen sind. Je mehr Geld ich für ein Auto auszugeben bereit bin, desto besser wird dessen Qualität sein, nur wird mir bei einem insgesamt beschränkten Haushalt das Geld für andere, ebenso wichtige oder wichtigere Dinge fehlen. Je mehr Zeit, Geld, persönliche und sächliche Mittel ich für einen Strafprozess aufwende, desto umfassender und einsichtiger wird die am Ende stehende »Erkenntnis« für alle Verfahrensbeteiligten sein. Nur fehlen dann unter Umständen angesichts begrenzter öffentlicher Haushalte die im Strafverfahren verbrauchten Mittel für andere öffentliche Aufgaben. Und umgekehrt: Je mehr ich an den Verfahrensressourcen spare, desto mehr senke ich das Niveau der im Strafverfahren zu modellierenden Wahrheit hinab. Die Verfahrensökonomie steuert mithin die Verwirklichungschancen der Wahrheitsfindung, und das ist ja auch der Grund, warum die gemeinhin im Gewande der Verfahrensvereinfachung, der Entlastung der Gerichte und generell der Kostenersparnis daherkommenden Strafprozessnovellen von den Strafverteidigern zu Recht als Herabsetzung der Anforderungen an die für eine Verurteilung ausreichende strafprozessuale Wahrheit angesehen werden.
4.

In der Verknappung der Verfahrensressourcen scheint nun ein neutraler, angesichts des Darniederliegens der öffentlichen Haushalte zudem noch plausibler Ansatz gefunden zu sein, den Strafprozess wieder ganz i.S. etatistisch-autoritärer Prinzipien umzumodeln. Inzwischen sprechen ja auch höchste Juristen – sozial­wissenschaftlich aufgeklärt – von der »knappen Ressource Recht«. Wenn auch alle Geschäfte heute schlecht gehen, das Geschäft mit der Abwägung zwischen Gerechtigkeit und Rechtsschutzgarantie einerseits, Funktionsfähigkeit der Justiz andererseits hat eine überaus gute Konjunktur. Ich weiß nicht, ob diejenigen, die von der »knappen Ressource Recht« sprechen, eigentlich wissen, was sie da sagen. Knappe Ressourcen werden entweder durch Rationierung oder im Medium der Konkurrenz verteilt; verteilt man sie durch Konkurrenz, so erhalten nur diejenigen das begehrte Gut, die über (ebenfalls knappe) Zahlungsmittel verfügen, der Rest geht leer aus. Verteilt man durch Rationierung, so führt das früher oder später unweigerlich zum Schwarzmarkt: Diejenigen, die zur Sicherung ihrer Lebensinteressen auf den Schutz des Rechts angewiesen sind, werden auf geringstem Subsistenzniveau gehalten, während diejenigen, die aufgrund ökonomischer und sozialer Macht ohnehin ihre Interessen gut durchsetzen können, Wege finden werden, den Mangel an Rechtspositionen durch Geld, Macht, politischen Einfluss oder Ansehen zu kompensieren. § 153a StPO zeigt bereits heute eine mögliche Richtung an.

Aber schauen wir uns die aus der Feststellung der »Knappheit der Ressource Recht« abgeleitete Forderung nach Verfahrensökonomie näher an; sie kann ja wohl vernünftigerweise nur als Rechtfertigung für die Einschränkung von Verfahrensrechten des Beschuldigten verstanden werden. Genauer betrachtet lautet das Argument folgendermaßen: Individuelle Rechte haben soziale Kosten, die die Effizienz der Verfolgung öffentlicher Aufgaben und der Gemeinschaftsinteressen einschränken. Die Meinungsfreiheit z.B. beschränkt die Effizienz des Regierungshandelns, weil die Regierenden ständig zur Rücksicht auf die öffentliche Meinung gezwungen werden; Einspruchsrechte von Bürgern gegen den Bau von technischen Großanlagen verzögern die zügige Durchführung der Projekte und produzieren den vielzitierten »Investitionsstau«; oder, in unserem Falle, Rechte des Beschuldigten sind Hindernisse einer effizienten Wahrheitsfindung. Dächte man sich also das Individuum und seine Rechte weg, so würde alles viel reibungsloser funktionieren. Das etwa ist die unausgesprochene Grundlage des verfahrensökonomischen Arguments. Die vorhin berichtete Entscheidung des amerikanischen Supreme Court zeigt uns nun in aller Deutlichkeit den Unterschied der politischen Kultur zweier Gesellschaften, die in ihren Grundelementen sehr ähnliche geschriebene Verfassungen haben: Das öffentliche Wohl ist nicht etwas, dessen effektive Verwirklichung gleichsam ein Hindernislauf ist, wobei die individuellen Rechte die Hindernisse sind, die ein an sich mögliches Gemeinwohl beschränken; individuelle Recht sind nicht wegzudenkende konstitutive Elemente öffentlicher Wohlfahrt, die Lebensluft eines demokratischen Gemeinwohls und mithin ein öffentliches Gut. Sie sind kein Kostenfaktor, den man wegrationalisieren müsste, sondern der lebendige Stoff, aus dem ein Gemeinwesen gewebt wird. Natürlich »verbrauchen« individuelle Rechte Ressourcen, die die Gesellschaft zur Verfügung stellen muss, genauso wie der Künstler, der ein Bild malt, Farbe, Leinwand und Zeit »verbraucht«. Niemand würde doch aber ernstlich auf den Gedanken kommen, die Aufgabe des Künstlers darin zu sehen, mit möglichst wenig Farbe und Leinwand ein möglichst gefälliges, d.h. von der Gesellschaft akzeptiertes oder schönes Bild herzustellen. Warum nicht? Weil der Ausdruck künstlerischer Erfahrung und Sinndeutung nicht nach der Logik strategischen Handelns, d.h.. nach Regeln des Kalküls und unter Berücksichtigung der sozialen Kosten stattfindet, vielmehr bemächtigt sich der Eigensinn künstlerischer Produktion des Stoffes und formt ihn nach den Eigengesetzlichkeiten künstlerischen Weltverständnisses. Wenn die Gesellschaft derartige sinnkonstitutive Rechte garantiert – und hierzu gehören alle Rechte der geistigen Freiheit -, dann hat sie damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ihre Ausübung von dem Vorbehalt ihrer sozialen Nützlichkeit und damit der sozialen Kosten freigestellt ist; ein Vorbehalt, der in unterschiedlichen Formulierungen der Sozialbindung für andere Rechte charakteristisch ist.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage damit nicht, dass die Kunstfreiheit zum Inhalt hat, dass die Gesellschaft dem Künstler Leinwand, Farbe und Zeit gratis zur Verfügung stellt, sondern lediglich, dass die Kunstfreiheit den Künstler von der Verpflichtung zur Berücksichtigung und Kalkulierung der sozialen Folgen seiner künstlerischen Wirklichkeitskonstruktionen entbindet. So wird auch nicht das Bild als körperlicher Gegenstand, aber als künstlerisches immaterielles Sinngebilde zum Eigentum der Gesellschaft, zum öffentlichen Gut.

Natürlich darf man den Vergleich zwischen der Kunstfreiheit und dem Strafprozess nicht zu weit treiben, denn die künstlerische Produktion ist kein Prozess, der mit einer Sanktion endet. Aber immerhin haben beide doch die Gemeinsamkeit, auf jeweils ihre Weise so etwas wie ein gesellschaftliches Wissen zu produzieren. Und wenn man z.B. an eine Theaterproduktion oder an den in den Universitäten organisierten Wissenschaftsprozess denkt, so sieht man, dass auch Kunst und Wissenschaft gesellschaftlich organisierte Prozesse sind oder zumindest sein können. Und für die Wissenschaftsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich festgestellt, dass der Staat den universitäten Organisationsformen zur Verfügung stellen müsse, die die Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Wahrheitsproduktion respektieren. In der Diskussion über diese elementaren Grundrechte der Geistesfreiheit wird häufig übersehen, dass nach dem Grundgesetz nicht »der Künstler« oder »der Wissenschaftler« frei sind, sondern »die Kunst« und »die Wissenschaft«. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Prozess der künstlerischen bzw. der wissenschaftlichen Produktion nicht dem utilitaristischen Diktat gesellschaftlicher Nützlichkeit und der Rücksichtnahme auf entgegenstehende Interessen unterworfen sein soll, sondern seiner Eigengesetzlichkeit zu folgen hat; und dies ist nur möglich, weil und soweit die an diesem Prozess beteiligten Individuen ihrerseits von derartigen Rücksichtnahmen freigestellt sind, und d.h.: die Grundrechte der Kunst- und der Wissenschaftsfreiheit als subjektive Rechte genießen.

Dieses Modell gesellschaftlicher Wahrheitsproduktion ist von dem Strafprozess nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein Verfahren, das auf eine autoritative, bindende hoheitliche Entscheidung hinausläuft erscheint geradezu als das krasse Gegenteil jener zwang- und herrschaftslosen Bereiche zu sein, deren Eigengesetzlichkeit gerade in ihrer Unabgeschlossenheit besteht. Und wie ich versucht habe zu zeigen, besteht das Spezifische und Prekäre des Strafprozesses in der Tat darin, dass zwei so gegensätzliche Elemente miteinander institutionell verkoppelt worden sind. Aber wenn man so will, besteht das Prinzip des Verfassungsstaates insgesamt in einer derartigen, fast möchte man sagen, paradoxen Beziehung. Sie alle kennen das seit Hobbes aufgeworfene Thema, ob die Verbindlichkeit der Gesetze auf ihrer inneren Wahrheit oder auf der hinter ihnen stehenden staatlichen Autorität beruht. Hobbes‘ Maxime lautete »auctoritas, non veritas facit legem« und wurde damit zum Vorvater einer politischen Theorie, die bereits in der Tatsache, dass eine souveräne Entscheidung im Konfliktfalle getroffen wurde, ein Unterpfand für ihre Richtigkeit sah und auf jegliche vernunftgemäße inhaltliche Begründung verzichtete. Umgekehrt gab es im 19. Jahrhundert bestimmte bürgerliche Repräsentationstheorien, die allein schon in dem Diskurs aufgeklärter und gebildeter Männer die Gewähr für die Richtigkeit und damit auch Verbindlichkeit der Gesetze sah. Die heutige Theorie löst den Widerspruch zwischen dem Wahrheits- und dem Autoritätsanspruch des Gesetzes durch die Konstruktion einer vermittelnden öffentlichen Sphäre staatsbürgerlicher Rechte der Meinungs-, Versammlungs- und anderer Kommunikationsrechte, in der die Akte der souveränen staatlichen Gewalt rationalisiert werden sollen. Dagegen gibt es eine Vielzahl vor allem empirischer Einwände, auf die ich hier nicht eingehen kann. Entscheidend ist der unaufgebbare demokratische Gedanke, dass eine Rationalisierung staatlicher Gewalt, also eine Versöhnung von »auctoritas« und »veritas«, nur durch den institutionalisierten Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung jeglicher staatlichen Gewalt gesichert werden kann. Und dieser Zwang kann nur durch Rechte der Bürger und – dieser Zusatz ist wichtig – durch das Bewusstsein der Bürger von der Unverbrüchlichkeit dieser Rechte garantiert werden. Nur so entsteht so etwas wie ein öffentliches Wahrheits- und Wertbewusstsein, kurz: politische Kultur.

Nach diesem kurzen Ausflug nun zurück zum Strafprozess: Für ihn gelten die gleichen Konstruktionsprinzipien. Auch in ihm müssen Wahrheit und Autorität versöhnt werden, eine Synthese gefunden werden zwischen der Endlichkeit des Verfahrens und seiner Ressourcen und der prinzipiellen Unabgeschlossenheit seines Zieles, der Wahrheitsfindung. Und auch hier liegt die Synthese in den Vorkehrungen, welche eine Rationalisierung des im Verfahren ausgeübten und durch das Verfahren herbeigeführten staatlichen Zwanges gewährleisten. Was immer an berechtigten empirischen Einwendungen gegen die Funktion der Öffentlichkeit des Strafverfahrens vorgebracht werden kann, sie ist und bleibt ein rationalisierendes Element weniger im Sinne einer direkten Kontrolle der staatlichen Strafgewalt als vielmehr im Sinne der Aufrichtung von Standards, nach denen sich diese Strafgewalt zu rechtfertigen hat. Und als zweites Element dieser Rationalisierung fungieren, ebenso unverzichtbar, die Rechte des Beschuldigten, die öffentliche Gewalt herauszufordern. Dies einmal, wie ich bereits ausgeführt habe, in seinem ganz individuellen Interesse, der Konstruktion einer strafprozessualen Schuldzuweisung entgegenzutreten; vor allem aber, um seinen Beitrag zur Rationalisierung staatlicher Gewalt dadurch zu leisten, dass diese unter permanentem öffentlichem Rechtfertigungszwang bleibt. Dies ist der Beitrag der Beschuldigtenrechte zur politischen Kultur.

Das häufig gehörte Argument, die Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren müssten so ausgebaut sein, als könne jedermann einmal in die Situation eines Beschuldigten geraten, erweist sich damit als höchst problematisch. Denn es ist letztlich nur der Ausdruck eines wahrscheinlichkeitstheoretischen Kalküls, dem sich diejenigen entziehen können, die fest davon überzeugt sind, so rechtschaffen zu sein, dass sie niemals in diese Gefahr geraten könnten. Und außerdem macht dieses Argument die unausgesprochene Voraussetzung, dass strafprozessuale Rechte wirklich nur den Beschuldigten selbst etwas angehen und ihm nützlich sind. Dagegen möchte ich nochmals ausdrücklich betonen, dass die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten ein wesentlicher Beitrag zur Rationalisierung staatlicher Gewalt insgesamt sind, und damit Element des demokratischen Ideals einer Versöhnung von Wahrheit und Autorität.

Die Entscheidung, die am Ende des Strafverfahrens steht, ist kein Kalkül, d.h. keine Berechnung der optimalen Beziehung zwischen Mitteln und Zwecken: sie stellt nicht die optimale Kombination der eingesetzten Verfahrensressourcen und des Nutzens der Entscheidung her, weil dies den Beschuldigten nun wirklich zum Objekt des Verfahrens machen würde. Aber unter dem Gesichtspunkt der politischen Kultur ist ein anderes Argument noch wichtiger: Die Eigenart des Strafverfahrens besteht darin, dass es im Grunde das Phänomen der Knappheit gar nicht kennt. Ein Künstler, der nun wirklich nur äußerst beschränkte Mittel hat, um sich Leinwand und Farbe zu kaufen, wird Wege finden, seinen künstlerischen Impuls mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dennoch so gut wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Und ähnlich sind ja die materiellen Mittel eines Wissenschaftlers in der Regel ebenfalls begrenzt, und auch er wird danach Thema und Methode seiner Forschung bestimmen. Fehlt es im Strafverfahren an Zeit, Personal und sächlicher Ausstattung, so wird das nach aller Erfahrung sicherlich nicht dazu führen, dass mehr Angeklagte freigesprochen werden. Es besteht ja der begründete Verdacht, dass diejenigen, die umfangreiche Vorschläge zur Verfahrensbeschleunigung und zur Entlastung der Gerichte, d.h. also zur weiteren Verknappung der Verfahrensressourcen, vortragen, ja wohl kaum vermehrte Freisprüche, sondern doch wohl eher Verurteilungen unter herabgesetzten Bedingungen in Kauf zu nehmen bereit sind.

Die andere Alternative der Verknappung von Verfahrensressourcen besteht darin, diesen Mangel durch Zwang zu substituieren. Denn an staatlichem Zwang mangelt es, jedenfalls im Strafverfahren, bekanntlich nicht. Diese Substituierbarkeit von Verfahrensressourcen durch Zwang hat den gleichen Effekt wie die zuerst genannte Alternative der Herabsetzung der Wahrheitsstandards: Sie korrumpiert das öffentliche Bewusstsein über die Standards, nach denen staatliche Gewalt noch als legitim angesehen werden kann. Und sie setzt damit zugleich auch den Wert gesellschaftlicher Freiheit insgesamt herab. Ein amerikanischer Ökonom hat einmal gesagt, dass es in vielen Fällen effizienter für das Gemeinwesen wäre, wenn man bestimmte Rechte – z.B. das Wahlrecht – nicht allen Bürgern geben würde, oder wenn man den Bürgern das Recht einräumen würde, ihre Rechte zu verkaufen. Und er fügte hinzu: Wenn man Rechte gegen Toaster tauschen würde, dann hätten sie eben auch nur den Wert von Toastern. In unserem Fall könnte man sagen: Wenn der Verlust der Freiheit im Strafverfahren nicht von der öffentlich anerkannten und rationalisierten Gewissheit von der Schuld des Angeklagten abhängt, sondern von der bloßen Wahrscheinlichkeit – Freiheit also bereits für Wahrscheinlichkeit hingegeben wird -, so ist die Freiheit insgesamt eben nicht mehr gewiss, sondern nur noch wahrscheinlich, und damit höchst ungewiss. Und wenn die Rechte des Beschuldigten als beliebig durch Zwang substituierbar angesehen werden, um zu einem effizienten Verfahren zu gelangen, so wird man am Ende vielleicht die »Knappheit der Ressource Recht« effizient bewirtschaften, aber die öffentlichen Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Freiheit zu knappen Gütern machen. Und welche Güter in einer Gesellschaft knapp sind, sagt sehr viel über den Zustand ihrer politischen Kultur aus.

Prof. Dr. Ulrich K. Preuß: Strafverfahrensrecht und politische Kultur, Eröffnungsvortrag des 7. Strafverteidigertages, Frankfurt/Main April 1983