Freie Fahrt für freie Richter.
Die Beschleunigung der Strafjustiz
Strafverteidiger:innentag47
Köln 13. – 15. März 2025
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Zum Thema:
Im Strafprozess gibt es eine Wahrheit und eine prozessuale Wahrheit. Wie weit beide auseinander liegen, hängt davon ab, wieviel Mühe, Genauigkeit und Zweifel das Verfahren erlaubt. Schnelle Verfahren sind daher nicht automatisch gute Verfahren. Sie sind nur schnell.
Die Klage über die drohende Überlastung gehört zur Strafjustiz wie die Gitterstäbe zum Gefängnis. Strafverfahren dauerten immer länger, die Justizverwaltungen stünden am Rande des Zusammenbruchs, das »Vertrauen in den Rechtsstaat« sei an einem Tiefpunkt angelangt. Das Strafverfahren müsse an die Realität angepasst und »beschleunigt« werden.
Tatsächlich steigt die Verfahrensdauer bei land- und oberlandesgerichtlichen Verfahren seit einigen Jahren an; für die große Masse der strafgerichtlichen Verfahren, die vor den Amtsgerichten verhandelt werden, gilt dies nicht oder (in einzelnen Jahren) nur sehr moderat. Gründe für eine zunehmende Verfahrensdauer gibt es viele. Dennoch gilt: Wenn die Überlastung der Strafjustiz beklagt wird, stehen die nächsten Einschnitte in die Beschuldigten- und Verteidigungsrechte bereits ins Haus. Zuletzt 2019 wurden das Beweisantragsrecht, die Besetzungsrüge und die Voraussetzungen für den Befangenheitsantrag zulasten der Verteidigung »reformiert« – offenbar ohne nachvollziehbaren Beschleunigungseffekt, denn für die laufende Legislaturperiode hat sich die Regierungskoalition eine erneute Reform des Strafprozesses vorgenommen, mit gleicher Begründung doch möglicherweise noch einschneidender als die letzten Reformen.
Würde umgesetzt, was derzeit diskutiert wird – die Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens, erweiterte Verlesevorschriften, ein erweiterter Beweistransfer und Durchbrechung des Unmittelbarkeitsprinzips, Sanktionen bei unbotmäßigem Verteidiger:innenverhalten, weitere Einschränkung des Beweisantragsrechts, u.v.m. – so wäre der Strafprozess, wie wir ihn kennen, vollständig auf den Kopf gestellt.
Dabei gäbe es allen Grund, das Strafverfahren zu modernisieren – im Sinne eines besseren, transparenteren und mit mehr Beteiligungsrechten ausgestatteten Verfahrens, am besten bereits im Ermittlungsverfahren. Denn die Verpflichtung zur Formenstrenge und die formalen Schutzrechte der Verteidigung schützen nicht nur den/die Beschuldigte:n, sondern sie sichern die Strafjustiz auch gegenüber politischer Einflussnahme.
Arbeitsgruppen
Die Arbeitsgruppen des Strafverteidiger:innentages beraten am Samstag, 14. März 2026 von 9.00 bis 12.30 Uhr sowie von 14.00 bis 17.00 Uhr.
AG 1 Laienrichter:innen
Wieviel Laien braucht die Strafjustiz? Sind Schöff:innen entbehrlich? Was macht einen guten Richter, eine gute Richterin aus?
Teilnehmer:innen
Dr. jur. habil Oliver Gerson (z.Zt. Universität Leipzig)
RinLG Dr Mirja Feldmann (z.Zt. OLG Karlsruhe)
Rechtsanwältin Johanna Braun (München)
Dr. Monika von Walter, Schöffin (München)
Moderation: Rechtsanwalt Stefan Allgeier (Mannheim)
Anknüpfend an die Schlussdiskussion des 46. Strafverteidigertages in Bochum soll an die These von Dr Oliver Gerson angeknüpft werden, ob SchöffInnen in der Strafjustiz entbehrlich sind. Dabei soll zunächst rechtsvergleichend über die Landesgrenze hinausgeschaut und Erfahrungen im Umgang mit SchöffInnen ausgetauscht werden. Insbesondere soll der Frage nachzugehen sein, ob das Schöffenamt eine Schwachstelle der Resilienz in der Strafjustiz darstellt. Andererseits kann gerade der Laie einen Blick auf Sachverhalte werfen, der näher an der Lebenswirklichkeit sein kann, als dies manchem Richter und mancher Richterin möglich ist und somit eine Chance für die Verteidigung bieten. Dabei steht auch die Frage des Umfangs der Beteiligung von SchöffInnen durch einen aktuellen Beschluss des KG Berlin vom 21.06.2024, 3 Ws 25/24 zur Diskussion.
Die Arbeitsgruppe möchte aber darüber hinaus auch erarbeiten, was überhaupt einen guten Richter oder eine gute Richterin ausmacht, ob im Rahmen der Einstellungsverfahren Nachbesserungsbedarf besteht und wie es mit der Weiterbildung von Richtern und Richterinnen aussieht. Hier kann auch ein Blick auf Großbritannien geworfen werden, wo RichterInnen zunächst mindestens zwei Jahre als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin tätig gewesen sein muss und somit einen anderen Blick erfahren hat.
Aus Verteidigungssicht soll auch das Problem der unbekannten SchöffInnen thematisiert werden und die Notwendigkeit frühzeitiger Befassung mit den SchöffInnen im konkreten Verfahren und den Missstand, dass dies beim AG erst unmittelbar vor Beginn der HV bekanntgegeben wird.
Angesichts der aktuellen Reformbestrebungen der Bundesregierung zur StPO bekommt das Thema SchöffInnen ein besonderes Gewicht: durch einen möglichen Beweistransfer der Ermittlungen in die Hauptverfahren und die Aushöhlung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes würden SchöffInnen zu reinen StatistInnen, die keine Möglichkeit mehr hätten, selbständig den Beweiswert von Ermittlungserkenntnissen zu prüfen. Auch die Konsequenzen hieraus sollen in der AG thematisiert werden.
AG 2 Ermittlungsverfahren
Wie steht es wirklich um das Ermittlungsverfahren der StPO? Reformbedarf, Digitalisierung und Verteidigungsrechte auf dem Prüfstand
Teilnehmer:innen
RAin Dr. Christina Brosthaus (Köln)
OStA Andreas Brück (ZAC NRW, Köln)
RA Prof. Dr. Björn Gercke (Köln)
LOStA Dr. Benjamin Krause, Frankfurt a.M. (angefragt)
RAin Gül Pinar (Hamburg)
RA Prof. Dr. Ulrich Sommer (Köln)
Moderation: RA Dr. Martin Wilke (Köln) & RA Dr. Andreas Grözinger (Köln)
Auch wenn sich die derzeit diskutierte (und im Koalitionsvertrag angekündigte) Reform der StPO formal auf die Hauptverhandlung beschränken soll, wird das Ermittlungsverfahren nicht unberührt bleiben (Stichwort: Beweistransfer). Mit der zu befürchtenden Durchbrechung des Unmittelbarkeitsprinzips, abgeschliffenen Verteidigungsrechten und einem insgesamt beschleunigten Hauptverfahren wird die (oft mangelnde) Qualität des Ermittlungsverfahrens noch bedeutsamer, als dies jetzt schon der Fall ist.
Die Arbeitsgruppe nimmt aus aktuellem Anlass die wichtigsten Brennpunkte und Reformideen unter die Lupe – von der Nutzung künstlicher Intelligenz und Forensik, über Datenlieferungsvereinbarungen nach § 110 StPO, bis hin zu zentralen Fragen der Transparenz, Dokumentation und dem Schutz von Berufsgeheimnisträgern. Besonders im Zeitalter der elektronischen Akte stehen Defizite, Chancen und Risiken der digitalen Akteneinsicht sowie die rechtlichen und praktischen Herausforderungen zwangsweiser Smartphone-Entsperrung und Online-Ermittlungsmaßnahmen im Mittelpunkt.
Referent:innen aus Wissenschaft und Praxis diskutieren alle relevanten Facetten: Ist das Ermittlungsverfahren noch qualitätsgesichert? Wie viel Spielraum bleibt künftig für die Verteidigung? Welche Standards sind bei der Beweisgewinnung, Dokumentation und beim Schutz sensibler Daten unerlässlich? Wie kann eine Balance zwischen effizienten Ermittlungen und rechtsstaatlicher Kontrolle geschaffen werden?
Gerade jetzt, da maßgebliche Themen in Expertengremien oft noch vertraulich behandelt werden, bietet uns der Strafverteidigertag die einzigartige Chance, eine kritische Gegenöffentlichkeit zu schaffen, eigene Positionen sichtbar zu machen und die kommenden Reformen nicht nur zu begleiten, sondern aktiv mitzugestalten. Die AG sucht eine unabhängige, offene und faktenbasierte Debatte zur Qualität und Zukunft des Ermittlungsverfahrens – und für eine starke, selbstbewusste Verteidigung in unsicherer Zukunft. Bringen Sie Ihre Erfahrungen ein und diskutieren Sie mit.
AG 3 Politische Strafverteidigung
Antifaschisten in Robe? Politische Strafverteidigung in Zeiten von Trump/Musk und AfD – Wofür stehen »Linksanwält:innen« heute?
Teilnehmer:innen
Rechtsanwältin Gabriele Heinecke (Hamburg)
Prof. Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy (Universität Bielefeld)
Rechtsanwalt Prof. Dr. Jürgen Taschke (Frankfurt/Main)
Rechtsanwalt Dr. Lukas Theune (Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins RAV, Berlin)
Moderation: RA Arne Timmermann (Hamburg)
Die ersten Strafverteidigervereinigungen gründeten sich vor 50 Jahren im Jahr 1976. Der erste Strafverteidigertag fand im Jahr 1977, dem Jahr des „Deutschen Herbstes“, unter dem Titel „Schutz durch das Strafrecht – Schutz vor dem Strafrecht: Verteidigung im Widerstreit“ statt.
Zentrale Themen damals: Berufsverbote, Ermittlungsverfahren, Überwachungsaktionen und „Ehrengerichtsverfahren“ gegen Kolleg*innen, die in Verfahren gegen vermeintliche RAF-Mitglieder und Unterstützer:innen tätig waren, Gesetzesänderungen, die sich konkret gegen Verteidigungsrechte richteten (Kontaktverbotsgesetz, Verbot der Mehrfachverteidigung). Befürchtet wurde eine Erosion des Rechtsstaats und ein Rückfall in totalitäre Verhältnisse.
Heute stehen politische Strafprozesse wie die damaligen Stammheim-Verfahren nicht mehr vergleichbar prominent in der öffentlichen Diskussion. Die Befürchtung, dass rechtsstaatliche Garantien des Grundgesetzes geschliffen werden, die Gewaltenteilung faktisch abgeschafft wird und rassistische Stigmatisierungen maßgeblichen Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsprechung erlangen, ist aber heute aktueller denn je.
Wie sollten sich politisch denkende und handelnde Rechtsanwält:innen in dieser gesellschaftlichen Situation verhalten? Gibt es heute noch einen Konsens darüber, was „systemkritische Strafverteidigung“ bedeutet? Was lernen wir aus der Geschichte der politischen Strafverteidigung?
AG 4 Untersuchungshaft
Verteidigung in der Untersuchungshaft
Teilnehmer:innen
Rechtsanwältin Cheyenne Blum (München)
Dr. Bastian Dorenburg (Universität Greifswald) angefragt
Prof. Dr. Christine Morgenstern (Ruhruniversität Bochum)
Rechtsanwältin Lea Voigt (Bremen)
Vertreter:in Anti-Folter-Komitee (angefragt)
Moderation: Rechtsanwältin Christine Siegrot (Hamburg)
Die Verteidigung konzentriert sich vornehmlich auf die Vermeidung von Untersuchungshaft. Gelingt dies nicht, werden die Möglichkeiten, Belastungen, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen neben dem Freiheitsentzug zu verhindern, von uns oft nicht ausgeschöpft. Der gesetzgeberische Zweck der Untersuchungshaft ist die Sicherung des Strafverfahrens, also die Gewährleistung, dass die Beschuldigten in der Hauptverhandlung anwesend sind bzw. diese ohne Verdunklungshandlungen durchgeführt werden kann. Tatsächlich haben die Bedingungen der Untersuchungshaft Strafcharakter. Soziale Isolation durch rigide Trennungsanordnungen und Besuchsbedingungen, Briefkontrollen, unzureichende medizinische Versorgung und sich ausdehnende Einschlusszeiten sind einige Beispiele. Neben einem europäischen Vergleich der Haftbedingungen in der Untersuchungshaft bietet die Arbeitsgruppe einen tieferen Einblick in die Ausgestaltung der Untersuchungshaft in deutschen Gefängnissen. Für Erwachsene und Jugendliche / Heranwachsende. Im Mittelpunkt steht die Frage mit welchen Strategien, insbesondere (Rechts)Mitteln wir die Haftbedingungen für unsere Mandant:innen verbessern können.
AG 5 Beweismittel
Alles Beweismittel oder was?
Teilnehmer:innen
Rechtsanwalt Carsten Brunzel (Dresden)
Rechtsanwalt Prof. Dr. Endrik Wilhelm (Radebeul)
Prof. Dr. Christian Rückert (Universität Bayreuth)
Prof. Dr. Lennart May (MSB Medical School Berlin)
Rechtsanwältin Laura Farina Diederichs (Berlin)
Moderation: Rechtsanwalt Andreas Boine (Dresden)
Die AG knüpft an die AG „Suspekte Beweismittel“ beim StVT 2023 in Berlin an. Sie beschäftigt sich erneut mit problematischen Beweismitteln bzw. problematischen Methoden der Beweismittelgewinnung. Der deutsche Strafprozess kennt kaum Regeln, die geeignet sind, die Qualität aber auch Authentizität und Integrität von Beweismitteln sicherzustellen. Gerade der fast grenzenlose Urkundsbegriff aber auch kaum vorhandene Qualitätsstandards für Sachverständigengutachten sind erhebliche Risikofaktoren für eine der Wahrheitsfindung dienende Beweiserhebung. In Wirtschaftsstrafverfahren stellt aktuell die kritiklose Übernahme der Ergebnisse von internen Ermittlungen in Wirtschaftsunternehmen eine neue grundlegende Gefahr für ein faires Strafverfahren dar, die mehr als nur einzelne Beweismittel berührt.
Weiter beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft damit, wie fragwürdige Beweisergebnisse pychologisch auf die richterliche Urteilsfindung wirken und wie strukturell wissenschaftlich fragwürdige Beweismittel von der Hauptverhandlung ferngehalten werden können. Schließlich soll dargelegt und diskutiert werden, welche rechtlichen Möglichkeiten der Verteidigung bereits heute zur Verfügung stehen, um suspekten Beweismitteln in der Hauptverhandlung und im Ermittlungsverfahren zu begegnen.
AG 6 Datensammlungen
Überwacht, ausgewertet, verurteilt? Navigieren auf dem Datenmeer – Datensammlungen in Zeiten der StPO-Reform
Teilnehmer:innen
Anna Biselli (netzpolitik.org)
Markus Drenger (CCC)
Rechtsanwältin Diana Nadeborn (Berlin)
Moderation: Rechtsanwalt Malte Greisner (Berlin)
Fast jedes Strafverfahren wird heute durch digitale Daten zumindest mitentschieden. Der Datenhunger insbesondere der Polizei ist ungebrochen. Sie gibt sich aber nicht mit dem Sammeln der Daten zufrieden, sondern interpretiert sie über Ermittlungsbeamte, die von den Gerichten wie Sachverständige behandelt werden. Damit verschiebt sich die Deutungshoheit über diese Beweismittel weiter in Richtung der ermittelnden Polizeibeamten. Die Gerichte selbst zeigen auffallend wenig Interesse an den dahinterstehenden rechtlichen und technischen Fragen: Welche Daten dürfen erhoben werden? Wie funktioniert das? Welche Daten dürfen verwendet werden? Welche Rechtsgrundlagen sind zu beachten? Auch die Frage, wie man der schieren Menge der Daten Herr und Frau werden kann, ohne über die Zuarbeit eigener Fachbereiche zu verfügen und was es bedeutet, wenn dies nicht autark durch die zur Entscheidung berufenen Gerichte möglich ist, ist weitgehend ungeklärt. Fälle wie EncroChat, Sky und ANOM zeigten zuletzt, wie Polizeien international offenbar gezielt zur Umgehung von rechtlichen Vorgaben zusammenwirken. Den Gerichten teilen sie mit, dass sie ihre Quellen geheim halten möchten – und kommen damit erschreckend häufig durch. Aber auch weitere Datenquellen sollen angezapft und der Interpretation der Polizeien zugänglich gemacht werden, Stichworte sind hier Gesichtserkennungssoftware, Mautdaten u. Ä..
Diese Fragen sind nicht neu und erlangen gleichwohl immer wieder neue Bedeutung. Die zunehmende Digitalisierung der Beweiserhebung muss daher stetig neu betrachtet werden. Wir möchten uns in dieser Arbeitsgemeinschaft daher „updaten“: Wir wollen dazu auf dem Datenmeer schwimmen, aber auch eintauchen: Wie entwickeln sich die vorstehend aufgeworfenen Fragen? Was gibt es für Entwicklungen auf diesem Gebiet, die noch nicht diskutiert wurden? Wie können Gerichte und Verteidigung überprüfen, was ihnen die Polizei vorlegt? Welche Fragen werden durch die anstehende StPO-Reform noch relevant sein: müssen die Richter dann überhaupt noch den Beweismitteltransfer von dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung überprüfen oder hat niemand mehr hierzu etwas infrage zu stellen; wie verhalten sich die Grundsätze der Unmittelbarkeit und des Mündlichkeitsprinzips zu dem Reformvorhaben in Bezug auf digitale Daten?
AG 7 Dysfunktionale Verteidigung?
»Dysfunktionale« Verteidigung oder »dysfunktionale« Hauptverhandlung?
Teilnehmer:innen
Rechtsanwalt Jes Meyer-Lohkamp (Hamburg)
Prof. Dr. Matthias Jahn (Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main)
Vors. RiLG Dr. Akif Hilal Öztürk (Bremen)
Ri’inAG Grit Weise (Leipzig)
Moderation: Joë Thérond, Rechtsanwalt
Seitens der Justiz wird die an Landgerichten zunehmende Dauer der erstinstanzlichen Verhandlungen reflexartig einer zunehmenden »dysfunktionalen« Verteidigung, der mit effektiven Mitteln zu begegnen sei, zugeschrieben. Maßnahmen zur Disziplinierung der Verteidigung, weitere Einschränkungen des Beweisantragsrechts etc. werden gefordert und im Rahmen der Vorbereitung einer StPO-Reform erörtert, bzw. sollen Gegenstand von Erörterungen werden. Die AG will die Thematik der dysfunktionalen Verteidigung und den aus Justizkreisen zur Bekämpfung dysfunktionaler Verteidigungsstrategien geforderten Maßnahmen beleuchten und Ursache und Wirkung betrachten. Gleichzeitig soll die Frage einer effektiven Kommunikation als rechtsstaatliches Instrument eines effektiven und modernen Strafverfahrens als Alternative zum fortschreitenden Abbau von Verteidigungsrechten zur Beschleunigung des Strafverfahrens erörtert werden.
AG 8 Beweistransfer
Beweistransfer und Unmittelbarkeitsgrundsatz
Teilnehmer:innen
Rechtsanwalt Andreas Forrer (Zürich)
Prof. Dr. Judith Hauer (Polizeihochschule Villingen-Schwenningen)
Rechtsanwalt Dr. Bernd Wagner (Hamburg)
N.N.
Moderation: Rechtsanwalt Nico Werning (München)
Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission zur Reform der StPO soll sich u.a. mit der Verschlankung der Hauptverhandlung befassen und in Q1/2026 einen ersten Zwischenbericht vorlegen. Ziel der Reformüberlegungen soll dabei insbesondere eine vereinfachte Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung sein, etwa durch die erweiterte Möglichkeit der Verlesung von Vernehmungsprotokollen u.a.m.
Mit anderen Worten: Es handelt sich um nicht weniger als eine Operation am offenen Herzen unserer jetzigen Strafprozessordnung, der Hauptverhandlung. Es droht auf diese Weise nicht nur eine dramatische Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, sondern damit einhergehend auch und gerade eine erhebliche Reduzierung der Verteidigungsmöglichkeiten der Angeklagten. Auch für die Verteidigung bedeutet der angestrebte Paradigmenwechsel eine massive Veränderung der bisherigen Arbeit, weil in der Folge der Schwerpunkt der Verteidigung künftig im Ermittlungsverfahren läge – denn korrelierend zur veränderten Schwerpunktsetzung soll auch die Verteidigung weitergehende Teilnahmerechte als bisher im Ermittlungsverfahren bekommen. Im Grunde ist die angestrebte Änderung ohne eine grundlegende Strukturreform der StPO und der Arbeitsweise aller Beteiligten nicht denkbar.
In Deutschlands unmittelbarem Nachbarland Schweiz beispielsweise wird dieses Konzept auf für unser Rechtsempfinden unerträgliche Art und Weise auf die Spitze getrieben – dort dauern Hauptverhandlungen auch in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren nur selten länger als einen Tag: In der Hauptverhandlung halten Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihr Plädoyer, der Angeklagte hat das (vermeintlich) letzte Wort und sodann spricht das Gericht sein Urteil. Im Vorfeld hatte die Verteidigung die Möglichkeit, an Vernehmungen teilzunehmen. Spätere Erkenntnisse, die früheren Ermittlungsergebnissen zuwiderlaufen, werden dort nicht etwa aufgeklärt, sondern bleiben bestehen und werden letztlich vom Gericht entsprechend unserem § 261 StPO (also nach Gutsherrenart) entschieden. Dadurch bleibt auch die Wahrheitsfindung auf der Strecke.
AG 9 Strafbefehl
Verkürzte Verfahren: (vor-)schnelle (Vor-)Urteile!?
Teilnehmer:innen
Ltd. MR Rainer Franosch (Hess. Ministerium der Justiz)
Prof. Dr. Karsten Gaede (Bucerius Law School, Hamburg)
Rechtsanwalt Hannes Honecker (Berlin)
Dipl. Jur. Hannah Müller (Doktorandin, Goethe-Universität Frankfurt am Main)
N.N.
Moderation: Rechtsanwalt Kai Guthke (Frankfurt am Main)
Verkürzte Strafverfahren, insbesondere das Strafbefehlsverfahren, sind die alten und neuen Hoffnungsträger einer Justizpolitik, die trotz unablässiger Erweiterung der Straftatbestände personelle und finanzielle Ressourcen einsparen will. Und dann verlängert auch noch die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Angeklagten das ganze Verfahren…
Schnelle und daher in notwendiger Weise oberflächlichere Tat- und Strafzumessungsfeststellungen – auf alleiniger Grundlage der von der Staatsanwaltschaft und Polizei verfassten Akten – haben ein hohes Risiko, vor allem sozioökonomisch benachteiligten Bürger:innen nicht gerecht zu werden. Fehlurteile sind bei Strafbefehlsverfahren besonders häufig, das zeigen empirische Befunde. Die Möglichkeit eines Einspruchs ist keine ausreichende Kompensation für vorausgegangene Rechtseinbußen (z.B. rechtliches Gehör), zumal die Hauptverhandlung nach den Regeln des »beschleunigten Verfahrens« abläuft (§ 420 i.V.m. 411 II StPO), im Grund genommen also die Unterwerfung unter eine vorweggenommene Bewertung als Vorannahme hat (Th. Fischer). Ohne Strafverteidiger:in können prozessuale Rechte auch an dieser Stelle nicht effektiv wahrgenommen werden. Das Strafbefehlsverfahren ist für Arme ein Fluch; bei den wenigen, die mit der Staatsanwaltschaft und Gericht einen Strafbefehl zur Vermeidung einer Anklage oder öffentlichen Hauptverhandlung aushandeln, sieht es besser aus.
Trotzdem (oder gerade deshalb) wird kontinuierlich über die Ausweitung des Anwendungsbereiches des Strafbefehls diskutiert. Bereits die Justizministerkonferenz 2022 thematisierte die Erweiterung auf Verbrechenstatbestände, die Anhebung des Höchststrafmaßes auf zwei Jahre Freiheitsstrafe und die Erweiterung für Fälle vor der Strafkammer. Auch bei der gegenwärtigen Reformkommission stehen das Strafbefehlsverfahren, das beschleunigte Verfahren und insgesamt das Strafverfahren vor dem Amtsgericht zur Disposition mit dem Ziel, die »Justizbelastung« zu reduzieren. Es besteht die feste Absicht einer Neuregelung in dieser Legislaturperiode.
Lebhaft diskutiert werden sollen
- die Reformmotivationen und Argumente der Justizverwaltungen, der Richterschaft und Staatsanwaltschaften (und, soweit schon vorliegend, die konkreten Vorschläge) vor dem Hintergrund – neuster empirischer Forschungsergebnisse zum »Strafbefehl und Verteidigung« (Pilotprojekt der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger:innen und der Goethe-Universität Frankfurt am Main),
- rechtsstaatlicher Strafprozessgrundsätze und (Alternativ-)Vorschlägen aus der Strafrechtswissenschaft und
- der Vorarbeiten vom Strafverteidigertag 2023, an den diese AG anknüpft.