Heft 16 |
April 2021
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Prof. Dr. Ilka Quindeau
Über gesellschaftliche Straflust, psychisches Strafbedürfnis und infantile Sexualität. Ein psychoanalytischer Blick. Referat des Moduls Sexualität & Strafe beim Online Forum Strafverteidigung 2020.

strafbedürfnis gegenüber sexualstraftätern

Der Ruf nach härteren Strafen wird insbesondere bei Sexualstraftaten immer wieder laut. Vor ein paar Wochen wurde in einem Bundesstaat von Nigeria als Strafe sogar die Kastration von Sexualstraftätern ermöglicht. Hierzulande wird dies nicht selten auch an Stammtischen und in den sog. Sozialen Medien gefordert. Die Straflust findet dort einen großen Resonanzraum, wird aber auch von traditionellen Medien vielfach angeheizt. 

Wohl kaum eine Straftat ruft so viel archaische Affekte hervor wie die sog. »Pädophilie« oder die Pädosexualität, wie sie weniger verharmlosend heißt. Ich möchte dies nun als Beispiel nehmen, um aus psychoanalytischer Perspektive einige Argumentationsmuster zu skizzieren, die die affektive Wucht diesen Delikten gegenüber und die damit verbundene Straflust besser verstehbar machen.

Meine zentrale These ist, dass die Forderungen nach harten Strafen bei Sexualdelikten eine wichtige entlastende Funktion im Bereich des Psychischen besitzen: Stellvertretend am Sexualstraftäter werden eigene verpönte und daher unbewusst gewordene Regungen bekämpft. Um dies näher zu begründen, werde ich einige psychoanalytische Konzepte vorstellen. Ich beginne mit einer einschlägigen Arbeit von Theodor Reik aus dem Umkreis von Freud, die sich allgemein mit der psychischen und der sozialpsychologischen Bedeutung von Strafe befasst und nach wie vor Gültigkeit besitzt. Danach werde ich spezifischer der Frage nachgehen, warum gerade Sexualdelikte, insbesondere an Kindern, so einen Sturm an Entrüstung auslösen und mit drakonischen Strafen geahndet werden sollen.

psychisches strafbedürfnis und gesellschaftliche straflust

Einem größeren Publikum wird Reik durch seine Arbeit ›Geständniszwang und Strafbedürfnis‹ (1925) bekannt. In Anlehnung an die Ausführungen Freuds über die Bedeutung des Über-Ichs – der psychischen Instanz des Gewissens – und des Strafbedürfnisses aufgrund eines unbewussten Schuldgefühls ist es Reik gelungen, einer bisher nicht gewürdigten unbewussten Tendenz auf die Spur zu kommen, die er »Geständniszwang« nennt und der er allgemeine Bedeutung im menschlichen Seelenleben zuschreibt.

„Der Kriminelle dient als Projektionsträger für verdrängte Schuldgefühle der Nichtkriminellen und qualifiziert sich damit als Opfer ihrer Aggression…“ Helmut Ostermeyer

Bereits 1915 hatte Freud in seinem Aufsatz ›Verbrecher aus Schuldbewusstsein‹ konstatiert, eine Tat werde begangen, weil und nicht obwohl sie verboten und mit Strafe bedroht sei. Demnach leiden Verbrecher vor der Tat unter einer Art »Strafbedürfnis«, einem drückenden Schuldgefühl, dem sie durch die Tat einen Inhalt geben. Das Schuldbewusstsein geht also der Tat voraus, nicht die Tat dem Schuldbewusstsein.
Dieses unbewusste Schuldgefühl sucht nach Entlastung durch Strafe. Reik leitet daraus eine verallgemeinernde Theorie des Verbrechens ab. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass verdrängte Inhalte trotz starker Abwehrmaßnahmen mehr oder weniger entstellt ins Bewusstsein drängen und nach Ausdruck verlangen. Freud kommentierte diese Beobachtung mit der Sentenz, kein Mensch könne ein Geheimnis bewahren; es käme in irgenihrer Form, sei es durch Fehlleistungen, Gesten oder Träume zum Vorschein. Reik definiert den Begriff »Geständnis« über die Bedeutung in der juristischen Fachsprache hinaus als »Aussage über eine Triebregung, die als verboten gefühlt oder erkannt wird«. Demnach ist das Geständnis wie ein neurotisches Symptom ein Kompromiss zwischen Triebregung und Verbot. Im Geständniszwang findet man nach Reik 

»ein Stück Strafbedürfnis (…) eine partielle Befriedigung (…); es handelt sich um eine partielle Befriedigung des auf die verpönten Wünsche reagierenden Schuldgefühles«. 

Die Energie dieses Geständniszwangs speise sich aus drei Quellen: aus dem Drang der verpönten Triebregung, aus der Abwehr der Triebregung und aus der Verstärkung der Triebregung durch Verdrängung. Im Geständnis zeigt sich die soziale Natur des Menschen, sein Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Genau diese Menschlichkeit wird Sexualstraftätern zumeist abgesprochen, indem man sie als Unmenschen, Monster oder Ungeheuer bezeichnet. Man kann darin eine Form des Fremd-Machens sehen: der Täter hat nichts mit uns gemein, ist ganz anders. Das Bewusstwerden der eigenen verpönten Triebregungen kann damit partiell verhindert werden.

Reik geht in seiner Argumentation nun noch einen Schritt weiter und nimmt das Strafbedürfnis nicht nur auf der Ebene der Einzelnen an, sondern bezieht dies auch auf die Ebene der Gesellschaft. Er stellt die These auf, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich unbewusst mit dem Straftäter identifizieren. Damit befriedige die Strafe auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft.(1) Diese unbewusste Identifizierung mit dem Straftäter, erfolge, weil jeder die verpönten Wünsche in sich trägt und abwehren muss. Der Straftäter wird zur Projektionsfläche der eigenen antisozialen Regungen, die dort stellvertretend bekämpft werden. 

Die Strafe befriedigt allerdings nicht nur das unbewusste Schuldgefühl, sondern enthält nach Ferenczi »auch rein libidinöse, den Sadismus der strafenden Organe befriedigende Elemente« und enthält damit wichtige sozialpsychologische Funktion, was Ferenczi (1919) an der Art der Strafbemessung und des Strafvollzugs dargelegt hat.

Auf die sozialpsychologisch bedeutsamen Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichem Verhalten und Verbrechen verweist auch der psychoanalytisch inspirierte Strafrechtler Helmut Ostermeyer: 

»Die Gesellschaft erzeugt das Verbrechen, um den Verbrecher strafen zu können. Sie straft ihn, um die Schuld loszuwerden, die ihr aus ihren eigenen verbrecherischen Neigungen erwächst. Psychologisch gesehen ist die Bestrafung der Verbrecher verschleierte Selbstbestrafung.«(2) 

Ostermeyer zeigt die psychischen Mechanismen und sozialen Konstellationen auf, durch die Aggression aufgestaut und am Kriminellen durch Bestrafung lustvoll abreagiert wird: 

»Der Kriminelle dient als Projektionsträger für verdrängte Schuldgefühle der Nichtkriminellen und qualifiziert sich damit als Opfer ihrer Aggression, deren Impuls auf Rache und Ausstoßung zielt: ein uralter Vorgang, dem der Sündenbock Gleichnis ist. Die Gewalt des Strafverlangens, die sich bis zur hemmungslosen Wut steigert, ist der Stärke der verdrängten Schuldgefühle proportional. Die auf Sexualtäter, Mörder, Bankräuber und Bombenleger bevorzugt gerichtete Straflust widerspiegelt die Inhalte des Unbewußten der strafenden Gesellschaft.«(3)

Was diese Inhalte des Unbewussten genau sind, klären wir nun mit Hilfe der Theorie des französischen Psychoanalytikers Jean Laplanche. Zentral kreisen sie um das Sexuelle und Laplanche gibt Auskunft darüber, warum das so ist.

inzest und infantile sexualität

Laplanche nennt seine Theorie, mit der er die Entstehung des Unbewussten und damit der psychischen Struktur des Menschen beschreibt, »Allgemeine Verführungstheorie«. Ihr zentraler Gedanke ist folgender: Als anthropologische Grundsituation betrachtet er eine strukturell asymmetrische Beziehung zwischen dem Erwachsenen mit einem bereits ausgebildeten Unbewussten und dem Säugling mit einer im Entstehen begriffenen psychischen Struktur. Der Säugling wird in dieser Situation konfrontiert mit dem Unbewussten des Erwachsenen, mit der rätselhaften, unbewussten, und das heißt vom sexuellen Begehren durchzogenen Botschaft des Erwachsenen, die diesem selbst auch nicht zugänglich ist. 

Laplanche macht deutlich, dass jeder Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen eine unvermeidliche sexuelle Dimension anhaftet, die sich schlicht aus der Existenz des Unbewussten ergibt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es handelt sich hierbei um das unbewusste Begehren des Erwachsenen, wie es in jeder Interaktion von Eltern mit ihrem Säugling unvermeidlich angesprochen wird, in jeder Pflegehandlung, beim Füttern, Wickeln, Baden ebenso wie beim Schmusen. Es geht also keineswegs in konkretistischer Weise um sexuelle Handlungen, sondern um das unbewusste Begehren, das in uns allen vorhanden ist. Dieses Begehren des Erwachsenen richtet sich an den Säugling, er muss darauf reagieren, muss das Begehren verarbeiten, übersetzen, wie Laplanche dies nennt. Die Übersetzung ist immer nur zu einem Teil möglich, der andere Teil bleibt unbewusst. Das Unbewusste ist also nichts, was im Menschen genetisch angelegt wäre, sondern entsteht in diesem Übersetzungsprozess der universellen Verführungssituation. 

Das Begehren der Erwachsenen wird als Kern des Unbewussten in den kindlichen Körper eingeschrieben. Diese Einschreibung ist nun keineswegs nur metaphorisch zu verstehen; es entsteht dabei nicht nur das Unbewusste, sondern zugleich wird der kindliche Körper mit sexueller Erregbarkeit ausgestattet. Die daraus entstehenden Begehrensstrukturen bilden keine statischen Einheiten, sondern werden im Verlauf einer Lebensgeschichte fortwährend umgeschrieben. Einen Knotenpunkt dieser Umschriften bildet der Ödipuskonflikt. Ich sehe in ihm eine Antwort auf die Verführungssituation: Das Kind antwortet auf das Begehrtwerden durch die Eltern mit seinem eigenen Begehren. Aus dem begehrten Kind wird der Verführer, es eignet sich aktiv an, was ihm bis dahin passiv widerfahren ist. Es wird zum Subjekt seines eigenen Begehrens, in der Weise dass es sein Begehren gegenüber den Eltern formulieren kann (»wenn ich groß bin, heirate ich Papa/Mama«). Im Unterschied zu früheren Entwicklungsphasen ist das Begehren bewusstseinsfähig geworden, das Kind begehrt nicht nur, sondern hat sich sein Begehren psychisch angeeignet. Man könnte auch von einer sexuellen Subjektwerdung sprechen. Diese Aneignung des eigenen Begehrens geht nicht nur mit einem Gefühl von Selbstbewusstsein und narzisstischer Aufwertung einher, sondern auch mit Angst und Schuldgefühl. Schon Freud wies darauf hin, dass die Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Gunst des anderen von massiver Kastrationsangst begleitet wird, die schließlich zum Verzicht auf das ödipale Werben führt. Der Ödipuskonflikt endet damit, dass das Kind den Generationsunterschied anerkennt und die Liebe zu den Eltern entsexualisiert wird. In diesem Zusammenhang wird gleichsam das Inzestverbot psychisch verankert und die inzestuöse Liebe ins Unbewusste verdrängt. Verschwunden ist sie damit freilich nicht, sie bleibt weiterhin wirksam und wird von psychischen Gegenkräften vom Bewusstsein ferngehalten.

Verlassen wir nun diese theoretischen Betrachtungen und wenden uns dem Problem sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu. Ich möchte Sie dazu zunächst zu einer kleinen Wahrnehmungsübung einladen: Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um die Installation einer Frankfurter Künstlerin, Martina Elbert, zu betrachten und Ihre Gefühle dabei zu beobachten. Im Rahmen ihrer visuellen Arbeiten erstellt Martina Elbert konzeptionelle Objektkunst. Im Sinne der ›Objets trouvé‹ inszeniert und transformiert sie gefundene Objekte und Alltagsgegenstände auf unterschiedlichste Weise in Kontexte, die sich mit gesellschaftspolitischen und psychoanalytischen Fragestellungen auseinandersetzen.

Vermutlich geht es Ihnen ähnlich wie mir, als ich diese Installation bei einer Vernissage gesehen habe. Sie löst Unwohlsein, Befremden, Abscheu, vielleicht auch Ekel aus. Sie ist geschmacklos, man möchte Vermutlich geht es Ihnen ähnlich wie mir, als ich diese Installation bei einer Vernissage gesehen habe. Sie löst Unwohlsein, Befremden, Abscheu, vielleicht auch Ekel aus. Sie ist geschmacklos, man möchte gleich weitergehen, sich wieder abwenden. 

Martina Elbert gibt diesem Werk den provozierenden Titel: »peep peep, hab mich lieb« – was auf dem ersten Bild zu sehen war und metonymisch sowohl auf den Kindervers als auch auf Pornographie anspielt. Analog zur Peep-Show stellt sie die Objekte auch auf einen Drehteller, so dass die Betrachter immer wieder eine andere Perspektive einnehmen. Besonders obszön erscheinen die Spardosen mit den lasziv wirkenden Säuglingen mit großen Augen und silbernen Windeln. Die Künstlerin hat diese Spardosen in einem gewöhnlichen Souvenirladen in der Frankfurter Innenstadt entdeckt. Die Kommerzialisierung der sexualisierten kindlichen Körper wird durch die Geldscheine nochmals unterstützt, wer am besten den Hintern rausstreckt, bekommt am meisten Geld. Martina Elbert kritisiert damit die zunehmende Sexualisierung von Kindern – was sie treffend die »Pädophilisierung unserer Gesellschaft« nennt, die dann mit der Forderung nach harten Strafen gegen ihre unbewussten und zum Teil vielleicht auch bewussten Wünsche reagiert. Diese Sexualisierung steht in einiger Spannung zur zunehmenden Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber sexualisierter Gewalt an Kindern, dem sog. »sexuellen Missbrauch«. Wir sehen sie jedoch nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Werbung, mit der etwa Kinderkleidung angeboten wird oder an der sexualisierten Inszenierung von Kindern als Models oder Popstars in TV-Formaten wie der Mini-Playback-Show oder Catwalks für Kinder (alles auf Youtube). 

Als Analytikerin sehe ich einen Zusammenhang zwischen dieser Pädophilisierung auf der einen Seite und der Forderung nach einer Verschärfung des Strafrechts auf der anderen Seite: Die Pädophilisierung rührt an verpönte und verdrängte eigene Regungen, die Schuldgefühle verursachen und daher stellvertretend an Sexualstraftätern bekämpft werden müssen.

Kommen wir noch einmal zurück zur Theorie von Laplanche: Er weist darauf hin, dass es sich bei allen Formen sexualisierter Gewalt gegen Kinder um die perverse Umsetzung von Phantasien aus der infantilen Sexualität des Erwachsenen handelt. Es handelt sich um infantile Relikte, die von jeder weiteren psychischen Verarbeitung ausgeschlossen waren, psychisch nicht integriert sind und statt dessen konkretistisch in die Realität umgesetzt werden. Laplanche sieht im Sexualverbrechen die »gewaltsamste Form perversen Agierens selbsterlittener polymorph-triebhafter Sexualität«.(4) Er unterscheidet in seiner Theorie zwei Formen des Unbewussten, die beide in der frühen Kindheit durch die Konfrontation mit den rätselhaften, vom Sexuellen durchzogenen Botschaften der Erwachsenen entstanden sind. Während diese Botschaften im Regelfall zumindest teilweise verarbeitet und integriert werden können, können sie in sehr seltenen Fällen – wie beispielsweise im Kontext von Gewalterfahrungen – nicht verarbeitet werden; sie bilden das sog. »eingeklemmte Unbewusste«, das sich später im Erwachsenenalter durch perverses Agieren – etwa in Form sexualisierter Gewalt – Bahn brechen kann. Wichtig ist nun im Zusammenhang mit der Straflust, dass bei allen Erwachsenen diese polymorph-perverse infantile Sexualität vorhanden ist, wenn auch verdrängt und damit unbewusst. Diese verdrängten Inhalte werden durch psychische Gegenkräfte vom Bewusstsein ferngehalten. Durch Berichterstattungen über Sexualverbrechen können diese Verdrängungen aktiviert und teilweise dem Bewusstsein als eigene verpönte Wünsche zugänglich werden. Zugleich wird das unbewusste Schuldgefühl aktiviert. Es bedarf daher eines erneuten Verdrängungsaufwands, um die verpönten Inhalte wieder unbewusst zu machen und das Schuldgefühl zu mildern.

Die Idee eines Strafbedürfnisses mutet vielleicht etwas befremdlich an, es ist jedoch ein probates Mittel, um Schuldgefühle loszuwerden. Die Strafe dient somit psychoanalytisch betrachtet gleichzeitig der Befriedigung von Triebregungen bzw. unbewussten Wünschen und dem Schuldgefühl.(5) Da im Zuge der ödipalen Entwicklung die verpönten sexuellen Wünsche mit einer Kastrationsdrohung belegt waren, erscheint offenbar manchem auch im Erwachsenenalter die Kastration als angemessene Bestrafung. In den populistischen Forderungen nach Kastration von Sexualstraftätern lässt sich eine Wiederkehr des Verdrängten erkennen. 

Durch diese Vorgänge und die Reaktionsbildungen auf sie werden nicht nur unsere Haltungen im Leben, unsere Überzeugungen, die gesellschaftlichen Anpassungen mit den sie begleitenden Affekten bestimmt, sondern auch unser Denken. Wie Schopenhauer wusste es auch Nietzsche: »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reichen bis in die letzten Gipfel seines Geistes hinauf«.

Das gilt insbesondere auch für die Funktionen des Verurteilens und Bestrafens. In der Kulturgeschichte finden wir durchgehend, dass die Bestrafung ursprünglich als Mittel aufgefasst wurde, den Zorn der durch das Verbrechen beleidigten Götter zu besänftigen. Bereits Ferenczi weist auf die damit verbundene Projektion hin und betont, dass es sich vielmehr um eine »Besänftigung« des Strafenden, d. h. der Gesellschaft handelt: 

»Das öffentliche Strafen ist eine Herstellung des seelischen Gleichgewichts, ein Abreagieren, welches um so lebhafter und mit umso komplizierterem Zeremoniell geschieht, desto verdrängter die abzureagierenden Gefühlskomplexe im Bewußtsein des Volkes sind« (Ferenczi 1928)

Prof. Dr. Ilka Quindeau ist Dipl. Psychologin und Dipl. Soziologin, Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse, arbeitet als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DPV/IPA) in eigener Praxis, von 2018 bis 2020 als Präsidentin der International Psychoanalytic University in Berlin und seit Herbst 2020 am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.   

Fußnoten:

(1) Reik, T. (1925). Geständniszwang und Strafrechtstheorie. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. Leipzig: Internationale Psychoanalytische Bibliothek Nr. XVIII, insbes. S. 135 ff.
(2) Ostermeyer, Strafrecht und Psychoanalyse, (1972). Strafrecht und Psychoanalyse. Fußnote 3, S. 109
(3) Ostermeyer, (1973). Psychoanalyse und Justiz. Psyche – Z Psychoanal., 27(6): 594-596, S. 594
(4) Laplanche 2009, Inzest und infantile Sexualität. Psyche – Z Psychoanal., 63(6):525-539, S. 525
(5) Reik, 1925; Alexander, Staub und Fromm im Sonderheft ›Kriminologie‹ der ›Imago‹ 1931 (XVII. Jahrgang, Heft 2)
Literatur:
Freud, S. (1906). Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse. G.W. VII, 3 – 15.
Ferenczi, S. (1919). Psychoanalyse und Kriminologie. In Schriften zur Psychoanalyse Bd I, Frankfurt 1970, S 297-299
Laplanche, J. (1987). Neue Grundlagen für die Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial 2011.
Laplanche, J. (2009). Inzest und infantile Sexualität. Psyche – Z Psychoanal., 63(6):525-539.
Ostermeyer, H. (1972). Strafrecht und Psychoanalyse. München: Goldmann.
Ostermeyer, H. (1973). Psychoanalyse und Justiz. Psyche – Z Psychoanal., 27(6):594-596.,
Reik, T. (1925). Geständniszwang und Strafrechtstheorie. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. Leipzig: Internationale Psychoanalytische Bibliothek Nr. XVIII,

freispruch ist das Mitgliederorgan der Strafverteidigervereinigungen und erscheint i.d.R. halbjährlich beim Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen. Redaktion: Mandy Schultz, Thomas Uwer.

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