In Zeiten der Krise, sagt man, rückt das Land zusammen. Der President steigt selbst in den Kampfjet, um ihn, eine Havanna zwischen den Zähnen, in den Reaktor des Alien-Raumschiffs zu steuern, während seine Tochter den Nerd mit der Flaschenbodenbrille knuddelt, der den UFO-Code geknackt hat. Das ist nicht neu: Schon einige Jahrzehnte vor der Erfindung des Farbfilmkinos erklärte der Teutonenkollege vom President, der Kaiser, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, und es reihte sich ein, wer auf freiem Fuße war, die Kraft dazu hatte oder einfach die Zeit. Währenddessen wurde gedrückt, geherzt, geküsst, paradiert, salutiert und auch ein Tränchen vergossen – vor Rührung über den eigenen Mut, seltener wegen der halben Welt und ihren Bewohnern, die untergegangen sind, bevor das extraterrestrische Mutterschiff in die Wüste Arizonas krachte oder der welsche Erzfeind in die Knie gezwungen.
Das ist in etwa der Plot des letzten Jahrhunderts, das, gekürzt um den völkischen Antisemitismus der Deutschen und ihren Vernichtungsweltkrieg, ein derart nationales Jahrhundert war, dass selbst ein alle Völker gleichermaßen treffender Angriff aus dem All immer nur als nationales Abenteuer vorstellbar war, bei dem die Menschen nach innen zusammenrücken, weil die Katastrophe von außen kommt. Dabei war der Angriff aus dem All nur der massenkulturelle Ausdruck erlebter Feindschaft, ersetzbar durch zionistische Riesenkraken, bolschewistische Neandertaler und Spinnenmonster mit Pickelhaube, und natürlich eine Übung in den Mechanismen sozialer Gefahrenabwehr.
Das alles sind nun Nostalgiefilme aus der Ramschvideothek, seit nicht mehr grüne Männchen, rote Horden oder arabische Jungmänner damit drohen, unseren Rollrasen zu zertrampeln, sondern ein Virus in der Welt ist, das ausgeatmet, ausgedünstet und vaporisiert von potentiell jeder und jedem übertragen wird, der uns zu nahe kommt. Die Gefahr liegt im Zwischenmenschlichen, der Nähe, dem eingeübten Zusammenrücken. Wenn Kim Jong-Un eine nächtliche Massenparade abhalten lässt, halten wir den Atem an – nicht wegen der neuen Interkontinentalrakete, sondern weil seine Zinnsoldaten zwischen Helm und Panzerfaust keine Maske tragen. Selbst der beruhigende Atem schlafender Kinder, der ein bürgerliches Jahrhundert lang für den Frieden in der heimischen Burg stand, wird den Großeltern zum potentiellen Todesgruß. Das ist weder witzig, noch zu verharmlosen, stellt aber die Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedrohungspotentiale und ihre kulturelle (und damit auch: rechtliche) Wahrnehmung geradewegs auf den Kopf.
der (infektiöse) schweiß der armen
Zum einen dies: Jahrzehntelang haben sich ein paar wenige reale und jede Menge fiktionale Politschurken den Kopf zermartert, wie sie mit möglichst eindrucksvollen Waffen die imaginiert oder tatsächlich Mächtigen (auch vertreten durch ›Ungläubige‹) angreifen können, um jetzt zu erleben, wie ein winzig kleines, unsichtbares Virus die Schwachen trifft – die an chronischen Krankheiten leiden, deren Immunsystem geschwächt ist, die mangelernährt sind, sich keine ausreichende medizinische Behandlung leisten können, die Suchtkranken, die Tagelöhner, die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, vereinsamte Menschen, denen noch die letzte Begegnung genommen wurde, jene, die sich nicht zum Homeoffice in die kaminofenbeheizte Wochenendhausidylle zurückziehen können, die in den Commuter Trains dichtgedrängt zu ihrer Lohnarbeit fahren, an Discounterkassen sitzen und für Hungerlöhne den anderen den bei Amazondotcom bestellten Schrott in die Wohnungen tragen. Der Schweiß der Armen ist seit jeher der Schmierstoff, mit dem die Wertschöpfungskette geschmeidig gehalten wird. Das ist in Pandemiezeiten nicht anders. Nur setzen wir jetzt eine Maske auf.
armut, krankheit, strafe
Zum anderen dies: Man muss nicht in politischer Ökonomie promoviert sein, um zu ahnen, dass es einen Zusammenhang gibt, wenn die einen immer ärmer und kranker werden, die anderen immer reicher. Sicher, das Virus hat auch den ein oder anderen steinreichen Zauberkünstler oder Industriemagnaten über 80 dahingerafft. Aber auch für die einfache Wahrheit, dass die Chancen, eine schwere Erkrankung zu überstehen, für denjenigen deutlich besser stehen, der sich eine private Hightech-Behandlung leisten kann, als für den, der nicht weiß, ob die Kopfschmerzen beim Warten in der Schlange vor der Teststelle von einer Infektion herrühren, von den 50 Euro, die er gleich bezahlen muss und die ein paar Kinderschuhe oder einen Einkauf bei Lidl weniger bedeuten, oder der Sorge, was ist, wenn er morgen und die nächsten Wochen nicht mit seinem Kastenwagen zur Kundschaft fahren kann, muss man keine Statistik bemühen. Das spielt in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings bestenfalls eine untergeordnete Rolle und entlockt nicht einmal dem hartgesottensten Gewerkschaftsfunktionär mehr als ein paar handwarme Floskeln über das »soziale Ungleichgewicht der Pandemiefolgen«.
lockdown & strafvollzug
Nicht nur an diesem Punkt erinnert die Wahrnehmung der Pandemie an diejenige von Kriminalität. Deren soziale Voraussetzung lässt sich täglich auf den Gerichtsfluren studieren. Armut bedeutet eben nicht nur Ausschluss – von Tablets zum Home-Schooling, von einer guten Wohnung, von Fürsorge und Rechten – sondern auch Einschluss. Viel zu oft wurde in den vergangenen zwölf Monaten beklagt, dass der Lockdown, also das Schließen von Schulen, Modegeschäften und Mediendiscountern, einem Leben im offenen Vollzug gleiche, was nicht einfach nur feuilletonistischer Unsinn ist, der die Härte der ›normalen Katastrophe‹ Strafvollzug verniedlicht, sondern die soziale Disposition von Strafe leugnet. Denn während für den Besitzer von Wohneigentum mit bodentiefen Fenstern und E-Ladestelle in der Tiefgarage der Strafvollzug – begeht er kein klassisches Beziehungsdelikt – so weit entfernt liegt, wie der Mars, war der Übergang von der schimmelfleckigen Dreiraumwohnung für einen Fünfpersonenhaushalt zum Strafvollzug stets fließend. Je weiter ›unten‹ man ankommt, desto dichter legt sich das Netz möglicher Sanktionen über das Leben. Von sog. Ausländertatbeständen über den Sozialleistungsbetrug durch Unterlassen bis zur Ersatzfreiheitsstrafe ist ein ganzer Sanktionsbereich mehr oder weniger exklusiv jenem Teil der Bevölkerung reserviert, der keinen SUV-Leasingvertrag erhält, während der ›Zugang zum Recht‹ mit abnehmenden ökonomischen und kulturellen Ressourcen (bspw. Sprache) zugleich immer schwieriger wird.
Das war schon ohne Covid-19 so. Doch die Pandemie hätte durchaus auch die Chance geboten, den unhinterfragten Ausschluss von Menschen zu thematisieren und scheinbare Notwendigkeiten in Frage zu stellen – beispielsweise den massenhaften Ausschluss durch Einschluss. Dass man das gesellschaftliche Leben inklusive der berühmten Volkswirtschaft einfach so runterfahren kann, ohne, dass die Welt untergeht, war bis März 2020 unvorstellbar. Heute wissen wir, dass die Luft zum Atmen nicht ausgeht, wenn Volkswagen mal ein paar Tage lang keine neuen Autos auf die verstopften Straßen bringt. Und, dass große wirtschaftliche Ressourcen nicht nur abstrakt, sondern auszahlbar vorhanden sind.
In den ersten paar Monaten der Pandemie wurde vergleichsweise unbürokratisch das vielfache des Staatshaushalts eines prosperierenden Schwellenlandes ausgeschüttet, um sog. Corona-Hilfen auszuzahlen – an Fluglinien und Reisegesellschaften, Bar- und Restaurantbesitzer, die Automobilindustrie und 300 Euro pro Kind an alle Eltern, ganz egal, ob sie den Lockdown in ihrer Villa mit Pool im Vordertaunus verbringen oder in einer dunklen Plattenbauwohnung, weil sie die Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Wer weiß, wie die Justiz, der Justizvollzug, die Bewährungshilfe, aber auch andere Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge seit Jahren unter vermeintlichem Geldmangel leiden – weshalb es in den Klassenraum der Grundschule reinregnet und im Sitzungssaal des Amtsgerichts das kaputte Fenster nicht geöffnet werden kann –, der mag geschluckt haben, angesichts der zuvor nur erahnten finanziellen Möglichkeiten. Wohl keiner hat aber ernsthaft geglaubt, dass eine neue Verteilungsgerechtigkeit einkehrt, die weiter reicht, als ein Gutschein für zehn FFP2-Masken für Bedürftige (zwölf für chronisch Kranke, null für Asylbewerber). Und so bleibt alles beim alten, nur eben schlechter.
die normalität der katastrophe
»Die Katastrophe ist doch sowieso unser Normalzustand«, zitiert Tobias Müller-Monning in diesem Heft einen Gefangenen. ›Normal‹ bedeutet unter Pandemiebedingungen, dass Strafgefangene über Monate ihre Kinder nicht sehen, geschweige denn in den Arm nehmen durften. ›Normal‹ bedeutet, dass die Freizeitaktivitäten in den Knästen großzügig gestrichen wurden – aus Gründen des Infektionsschutzes. ›Normal‹ bedeutet, dass Therapien gestrichen und der Schulbetrieb im Knast ausgesetzt wurde. ›Normal‹ ist, dass der Einschluss jetzt drei Stunden vorverlegt wurde.
aliens
Kommen wir zurück zu den Aliens. Es gibt nicht viele Gründe, sich nach dem vergangenen Jahrhundert zurückzusehnen, aber vielleicht diesen: dass die Umsetzung der Gleichheit der Menschen, wenn schon nicht machbar, so doch zumindest denkbar schien. Die imaginierte und tausendfach verfilmte Katastrophe endete regelhaft mit der Wiederherstellung des vorgesellschaftlichen Naturzustandes und spiegelte die Sehnsucht nach ihm wider. Die Aliens sind besiegt, auch, wenn die Hälfte der Erdbevölkerung weggelasert wurde, der President steigt aus dem kokelnden Kampfjet und ist nur noch einer unter vielen, die sich gewehrt haben. Seine Armee, die Staatsbank, die Limousine und der Hubschrauber sind pfutsch und nichts, was zuvor war, ist von Bedeutung: kein Orden, kein Titel, keine Herkunft, kein Reichtum, keine Verurteilung. Nur der Nerd knuddelt weiter die Präsidententochter.
Hinter der aktuellen Katastrophe lauert hingegen nicht mehr als die ›Normalität‹, nach der sich alle sehnen. Es wird wohl eine bescheidenere sein, das lässt sich jetzt bereits sagen.
Mandy Schultz ist Gleichstellungsbeauftragte im Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen und fährt ein viel zu großes Auto, das nach Zigarrenrauch riecht.