vorbemerkung
Die fortschreitende und immer schneller verlaufende Digitalisierung in der Gesellschaft macht es erforderlich, den davon ausgeschlossenen Gefangenen in einer adäquaten Form daran teilhaben zu lassen, indem ihnen ein eingeschränkter und sicherer Zugang zu digitalen Medien zur eigenen Nutzung dauerhaft ermöglicht wird.
Das ist geboten, weil es der Angleichungsgrundsatz gemäß § 3 Strafvollzugsgesetz Berlin (StVollzG Bln) erfordert. Danach sollen die Lebensverhältnisse in Haft denen in Freiheit so weit wie möglich angeglichen werden. Ansonsten würden Gefangene nach ihrer Entlassung in eine Welt zurückkehren, in der sie sich aufgrund der zwischenzeitlich stattgefundenen Veränderungen nicht mehr zurechtfinden würden.
Der Angleichungsgrundsatz korrespondiert mit dem in § 2 StVollzG Bln verankerten Vollzugsziel, das die Resozialisierung von Gefangenen zur ersten Aufgabe des Strafvollzugs macht – neben dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Demnach sollen Gefangene bereits im Vollzug dazu befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Daraus folgt, dass ein entsprechendes Lern- und Übungsfeld bereits in der Haft für alle notwendigen Lebensbereiche vorhanden sein muss. Insofern auch für die Nutzung digitaler Medien.
Für einzuleitende Resozialisierungsmaßnahmen zur Behebung von Persönlichkeitsdefiziten ist der Zugang zu digitalen Medien begleitend erforderlich, damit Gefangene zur Selbsthilfe ermutigt werden und sich nicht fortwährend auf fremde Hilfe in totaler Abhängigkeit zur Strafvollzugsorganisation stützen müssen. Dabei lernen sie, bestimmte Angebote für sich zu recherchieren und dahingehende Kontakte selbst aufzunehmen, um Beratung oder Behandlung für sich selbst einzuholen. Zudem ist es in heutiger Zeit üblich, mit den Trägern der Straffälligenhilfe, Wohlfahrtspflege oder Suchtkrankenhilfe etc. digital in Kontakt zu treten. Es scheint gerade so, als haben Telefonate und Briefe ihren Stellenwert gegenüber den digitalen Medien verloren, weil sie vielleicht unverbindlicher oder schwieriger zu handhaben sind als z. B. die elektronische Post. Der Zeitenwandel hat auch dazu geführt, dass Flyer, Broschüren, Ratgeber und dergleichen weitestgehend vom Markt verschwunden sind, weil sie beispielsweise durch Druck und Verteilung unwirtschaftlich geworden sind. Dazu schwindet deren Aktualität relativ schnell.
Deshalb ist es auch unter diesen Gesichtspunkten unbedingt notwendig, den Gefangenen einen Zugang zu digitalen Medien zu verschaffen. Wie sonst sollten sie zu einem verantwortungsvollen Leben befähigt werden, wenn ihnen der Zugang zu digitalen Medien generell und dauerhaft aus allgemeinen Sicherheitserwägungen versagt wird.
vorprojekt und forschungsprojekt im berliner justizvollzug von 2016 bis 2019
Nach einem bereits im Jahr 2014 geführten Vorprojekt am Hasso-Plattner-Institut – School of Design Thinking (HPI) wurde deutlich, dass es auch unter den allgemein zu beachtenden Sicherheitsaspekten grundsätzlich möglich ist, Gefangenen einen Zugang zu bestimmten und sicheren digitalen Medien zu erlauben.
Das zeitlich eng befristete Vorprojekt am HPI konnte sich nicht so tiefgreifend mit allen sicherheitsrelevanten Fragestellungen des Justizvollzugs auseinandersetzen. Es mangelte an konkreten Vorstellungen über die einzusetzenden Endgeräte nebst Software und über die dafür zu errichtende technische Infrastruktur.
Deshalb wurde Ende 2016 ein Forschungsinstitut damit beauftragt, die diesbezüglichen Entwicklungsarbeiten im Rahmen eines Forschungsprojekts zu leisten. Dafür wurde die erst 2013 in Betrieb genommene Justizvollzugsanstalt Heidering ausgewählt, weil diese gegenüber den übrigen Gefängnissen die besseren technischen Voraussetzungen aufwies. In einer Abteilung mit 72 Haftplätzen wurde das Forschungsprojekt durchgeführt. Es fand dafür keine besondere Gefangenenauswahl statt. Denn es sollte breit geforscht werden, ohne das Forschungsergebnis durch Gefangenenselektion einzutrüben.
Das Forschungsinstitut kam zu überzeugenden Ergebnissen:
Es wurden handelsübliche Computer-Tablets mit handelsüblichen Betriebssystemen mit einem speziellen Image versehen, dass es unmöglich machte, ungewollte Manipulationen daran vorzunehmen. Alle offenen Schnittstellen sowie Kamera und Mikrofon wurden abschaltet und konnten auch nicht wieder angeschaltet werden. Softwareeinstellungen konnten nicht verändert werden. Nur die zugelassenen Internetseiten konnten besucht werden. Der Zugang zu Sozialen Netzwerken wurde abgeschaltet, eine Verlinkung zu anderen (nicht erlaubten) Internetseiten war nicht möglich. Bei dem Office-Programm und dem E-Mail-Client handelte es sich um Open-Source-Produkte, die keine Lizenzkosten verursachten.
Das W-LAN-Netzwerk wurde ebenso sicher konfiguriert und aus allgemeinen Sicherheitserwägungen getrennt vom Behördennetzwerk errichtet und betrieben. Gefangene konnten sich nur mit den zur Verfügung gestellten Computer-Tablets in das gesonderte W-LAN-Netzwerk einloggen. Andere Netzwerke erkannten die Computer-Tablets nicht einmal. Das Eindringen von außen in das W-LAN-Netzwerk war ebenso wenig möglich. Fremde digitale Endgeräte erkannten dieses Netzwerk nicht einmal.
Die Computer-Tablets konnten aus allgemeinen Sicherheitsgründen nur online betrieben werden, weil sich das personenbezogene Image erst nach dem einloggen lud. Die Daten befanden sich auf einem zentralen Datenserver, um ggf. berechtigten Zugriff darauf zu haben, ohne dafür auf das Computer-Tablet angewiesen zu sein. Zudem vereinfachte es auch den Austausch der Computer-Tablets von einem Gefangenen zum anderen, weil personenbezogene Dateiablagen nicht umständlich von den Geräten woandershin verschoben oder kopiert werden mussten.
digitale angebote – inhalte
Im Verlauf des Forschungsprojekts kamen immer mehr digitale Angebote und Inhalte dazu und erreichten zum Schluss folgenden Stand:
- ca. 90 freigeschaltete Internetseiten (Lernen/Bildung, Unterhaltung, Nachrichtenportale, freie Wohlfahrtspflege/Straffälligenhilfevereine etc., Wohnungssuchportale, Jobcenter, Bundesagentur für Arbeit, Bürgerämter, Sozialämter etc., Zugriff auf die digitale Ausleihe der Zentralen Landesbibliothek Berlin
- E-Mailing mit geringen Einschränkungen (Black-Listing: Polizei, Feuerwehr etc. und ohne Versendung und Empfang von Anhängen)
- Anstaltsinformationsportal/Schwarzes Brett
- Digitales Angebots- und Anmeldwesen zu Sport- und Freizeit
- Kalender
- Office-Paket
- Druckmöglichkeit von Dokumenten über einen Netzwerkdrucker
- Zugang zu einer Lernplattform für den Justizvollzug
- Supportanfragen
forschungsergebnisse
Die Gefangenen der Versuchsgruppe als auch die Bediensteten wurden intensiv in die Forschungsarbeit miteinbezogen. Es fanden verschiedene themenorientierte Workshops statt. Erstaunlicherweise hatten die Gefangenen ganz realistische Vorstellungen davon, was im Justizvollzug erlaubt sein kann und darf. Insofern wichen die oben genannten Angebote nicht sehr von den Vorstellungen der Gefangenen ab. Auch die Computer-Tablets wurden sehr pfleglich behandelt. Es kam zu keinerlei Manipulationen oder mutwilligen Beschädigungen.
Die Gefangenen wiesen sehr unterschiedliche digitale Kompetenzen auf. Es fanden zur Erstausgabe der Geräte Einführungsworkshops statt. Nachher waren diese nicht mehr notwendig, weil ausgebildete Medienscouts, die sich aus der Gefangenengruppe rekrutierten, diese Aufgabe übernahmen.
Das Forschungsprojekt war ein voller Erfolg auf allen Ebenen. Alle technischen Herrichtungen und Einrichtungen haben sich bestens bewährt. Die digitalen Inhalte waren ohnehin nicht beklagt worden. Die vorgenommenen Erweiterungen waren auf die Ergebnisse der oben genannten Workshops zurückzuführen. Zu guter Letzt haben die Gefangenen gezeigt, dass sie in der Lage sind, mit der Technik und mit den Inhalten adäquat umzugehen.
beauftragung einer machbarkeitsstudie
Zur technischen Erschließung der Anstalten ist eine Machbarkeitsstudie beauftragt worden. Schwierigkeiten bereitet die massive Bauweise, in denen die Berliner Justizvollzugsanstalten naturgemäß errichtet wurden. Unterschiedliche Baustile in verschiedenen Epochen haben bei der W-LAN-Ausleuchtungsmessung zu ganz unterschiedlichen und uneinheitlichen Messergebnissen geführt, sodass für jede Anstalt und mitunter auch für deren Teilbereiche passgerechte Lösungen gefunden werden müssten. In Teilen handelt es sich um faradaysche Käfige, die nur sehr schwer mit Funksignalen zu durchdringen sind, was Aufwand und Nutzen infrage stellt.
Deshalb ist derzeit davon auszugehen, dass der W-LAN-Betrieb nicht weiterverfolgt wird, weil damit keine flächendeckende Signalabdeckung erreicht wird, was einen störungsbehafteten Betrieb zur Folge hätte. Stattdessen können die vorhandenen Koaxialkabelleitungen zwischengenutzt werden, bis noch leistungsfähigere Datenleitungen verlegt werden.
umsetzung des forschungsprojekts in den regelbetrieb
Es ist das erklärte Ziel, den Gefangenen und Untergebrachten im Berliner Justizvollzug digitale Medien auf Grundlage der Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen. Dazu hat die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung eine Projektgruppe einberufen, die sich seit September 2020 mit der Umsetzung und Ausweitung befasst.
Aus einem Infrastrukturfond hat das Land Berlin dafür entsprechende Projektmittel zur Verfügung gestellt. Die mit der Umsetzung des Forschungsprojekts in Zusammenhang stehenden Beschaffungs- und Baumaßnahmen werden 2021 beauftragt. Sobald ein geeignetes Dienstleistungsunternehmen für den Betrieb von digitalen Medien gefunden und beauftragt wurde, ist davon auszugehen, dass noch im Herbst des Jahres 2021 Gefangene in einzelnen Bereichen in den Berliner Justizvollzugsanstalten Zugang zu digitalen Medien haben werden.
Weitere Anstalten und Bereiche werden dann schrittweise angeschlossen, so wie es die technischen und organisatorischen Möglichkeiten erlauben. Bis 2023 sollen alle Bereiche des geschlossenen Vollzuges erschlossen sein.
einsatz digitaler medien während der coronakrise
Mit dem ersten Lock down Mitte März 2021 und den damit einhergegangenen Besuchsbeschränkungen haben digitale Medien in Haft eine größere Bedeutung erlangt. Selbstverständlich waren die Bedürfnisse der Gefangenen nach Telefonaten und Videobesuchen gewachsen und ausgeprägter als je zuvor.
Die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung konnte mit dem Telefondienstleister Vereinbarungen über Telefonfreiminuten für alle Gefangenen und auch ein höheres Telefonfreiminutenkontingent für Quarantänefälle treffen. Wo dies aufgrund fehlender Telefonausstattung in den Hafträumen nicht möglich war, konnten die Anstalten Einfachhandys mit Telefonguthaben an die Gefangenen vorrübergehend ausgegeben.
In den Besuchsbereichen der Anstalten wurden dreißig Computer mit Mikrofon und Kamera schnell beschafft und installiert, sodass dort ad hoc Videobesuche durchgeführt werden konnten.
Eine Bestandsanlage existierte bereits zur Erprobung im Sicherungsverwahrbereich der Justizvollzugsanstalt Tegel. Diese Versuchseinrichtung wurde nicht gut von den Untergebrachten angenommen. Deshalb sollte die Erprobung noch in einem anderen Bereich stattfinden. Durch die eingetretene Coronakrise ist dies nicht mehr geschehen.
Es bleibt abzuwarten, wie nach dem Ende der Coronakrise mit den eingerichteten Videobesuchsanlagen seitens der Gefangenen umgegangen wird. Sicherlich sind die geschaffenen technischen Möglichkeiten nicht in der Lage, einen persönlichen Besuch zu ersetzen, sodass die entstandene Euphorie vielleicht nur der momentanen Situation geschuldet ist. Gleichwohl werden Videobesuchsanlagen nicht überflüssig sein, weil es immer Gefangene geben wird, die auch sonst aus den unterschiedlichsten Gründen keinen persönlichen Besuch erhalten. Deshalb ist es nicht nur ein Akt der Humanität diese Videobesuchsanlagen aufrecht zu erhalten, denn es ist nach § 28 StVollzG Bln auch die Pflicht des Justizvollzugs, den Kontakt mit Personen außerhalb der Anstalt zu fördern, von denen ein günstiger Einfluss erwartet werden kann.
Christian Reschke ist Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung in Berlin.