Der staatliche Umgang mit Flüchtlingen bewegt sich seit Ende des zweiten Weltkriegs zwischen zwei sich entgegenstehenden Polen: Dem durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschaffen Rechtsrahmen, der Nationalstaaten an einen ganzen Katalog an Pflichten gegenüber Flüchtlingen bindet auf der einen, dem Eigeninteresse dieser Staaten – sei es ökonomisch oder anders begründet — an der Auswahl von Menschen, denen Aufnahme und Rechte gewehrt werden auf der anderen. Dass diesem Eigeninteresse überhaupt ein Rechtsinstitut entgegengestellt wurde, das es einhegt und limitiert, hat historische Gründe.
Die Vorgeschichte des modernen Flüchtlingsrechts ist eine unzähliger großer und kleiner Grausamkeiten, von Abschiebungen bei Nacht und Nebel, Entrechtung und Ausbeutung derjenigen, die ihre Heimat verlassen mussten oder plötzlich keine Heimat mehr hatten. Flüchtlinge waren im engsten Sinne Rechtlose in einer Welt der Nationalstaaten, die Rechte an die Zugehörigkeit zu einer Nation knüpfen. Hatte man diese Nation verloren, wurde von ihr ausgestoßen oder verfolgt, so stand man nicht außerhalb dieses, sondern außerhalb jedes Rechtssystems. Flüchtlinge waren, solange sie weder die Staatsangehörigkeit ihres Gastlandes annahmen oder repatriiert werden konnten, alleine auf den guten Willen ihres Gastlandes und der dortigen Behörden angewiesen. Asylrecht war Gnadenrecht. Sie wurden, war man ihrer überdrüssig, nach Belieben über die nächste Grenze gebracht, in Lager interniert oder enteignet. Mit dem Ende des nationalsozialistischen Terrors fanden sich auf der ganzen Welt Millionen von Menschen, die keine Heimat und keinen Staat mehr hatten, dessen Bürger sie sein konnten.
Diesen Zustand sollte das mit der Genfer Flüchtlingskonvention geschaffene Flüchtligsrecht beenden, indem der Flüchtling zum Rechtssubjekt wurde, dem nunmehr individuelle Rechte auch dann zustehen, wenn der Staat, dessen Bürger er ist, ihm diese Rechte verweigert. Im Kern geht es in internationalen Flüchtlingsrecht also um das, was Hannah Arendt als das Recht bezeichnete, Rechte zu haben.
Das Recht auf Asyl, wie wir es kennen, geht auf diesen Kerngedanken zurück – und bedient sich einer besonderen völkerrechtlichen Konstruktion. Nicht Staaten als Ebenbürtige treten einander gegenüber, sondern Staaten verpflichten sich zur Gewährung von Rechten gegenüber Einzelnen. Ein zentraler – wenn nicht der zentrale – Aspekt dabei ist, dass Flucht selbst nicht Gegenstand strafrechtlicher Sanktion sein kann. Der sonst ›illegale‹ Grenzübertritt ohne gültige Papiere bspw. ist der Sanktionierbarkeit entzogen, wo er von Menschen auf der Flucht vor Verfolgung vollzogen wurde. Der besondere Schutz, unter dem Flüchtlinge stehen, besteht also auch darin, dass ihre Fluchthandlung selbst der Strafbarkeit entzogen wurde.
Das bedeutet nicht, dass die Fluchtabwehr in Deutschland und Europa auf das Strafrecht als Mittel der Regulation von Flucht und Migration verzichten würde. Da die Fluchthandlung selbst nicht inkriminierbar ist, richtet sich die strafrechtliche Regulierung gegen all jene Bereiche, die um die unmittelbare individuelle Fluchthandlung herum wirksam werden und ohne die Flucht in der Praxis nicht möglich ist. Je schwieriger es ist, Grenzen auf der Flucht zu überwinden, desto größer ist der Bedarf nach Fluchthilfe und professioneller Unterstützung – von der Beschaffung von Ausweisdokumenten über die Organisation sicherer Unterkünfte, die Planung von Reiserouten, die Bestechung von Grenzbeamten und Milizen usw.. Die nicht inkriminierbare Flucht ist also zwangsläufig umgeben von Handlungen, die potentiell strafbar sind. Und hier setzt mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch die strafrechtliche Sanktionierung von Flucht ein – gewissermaßen so, als würde man erklären, dass Bahnfahren nicht strafbar ist, aber das Lösen einer Fahrkarte.
Der normierte Flüchtlingsschutz ist von Bedeutung aber nicht für Flüchtlinge selbst, sondern auch für die Normadressaten der GFK, sprich: die aufnehmenden Nationalstaaten. Denn in dem Maße, in dem die Staaten und ihre Behörden sich extralegaler Methoden bedienten, um Flüchtlinge loszuwerden, gerieten sie selbst immer mehr zu Gesetzlosen. Wieder Hannah Arendt:
»In dem Maße, wie der Staatenlose selbst außerhalb des Gesetzes steht, zwingt er auch jede Regierung, die es mit ihm zu tun bekommt, die Sphäre des Gesetzes zu verlassen. … Da kein Land den (Geflüchteten) aufnehmen will, … muss die Polizei, welche die Befehle zur Ausweisung vollstrecken soll, sich illegaler Mittel bedienen. Bei Nacht also schmuggelt die Polizei des einen Staates den (unerwünschten Flüchtling) auf das Territorium des Nachbarstaates und verstößt damit gegen dessen Gesetze; mit dem Erfolg, dass der Nachbarstaat sich der unbequemen Last in der nächsten nebeligen Nacht seinerseits unter Verstoß gegen die Gesetze des Nachbarn entledigt.« (Hannah Ahrendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 446)
Wir haben in den vergangen 20 Jahren erleben müssen, wie der internationale Flüchtlingsschutz – das Recht, Rechte zu haben – immer weiter untergraben wurde und sich die Staaten Europas zur Abwehr der Unerwünschten immer mehr wieder wie ihre unseligen historischen Vorgänger verhalten und selbst rechtlos werden:
Menschen, deren einzige Schuld darin besteht die sie schützende Heimat verloren zu haben, werden in Lagern interniert, deren Verwaltung und Versorgung an NGO und private Akteure übertragen wird. Männer in schwarzen, nicht gekennzeichneten Uniformen misshandeln Flüchtlinge auf der sog. Balkan Route, rauben sie aus und bringen sie bei Nacht und Nebel über die nächste Grenze. Flüchtlinge, die auf untauglichen Booten in internationalen Gewässern treiben, werden libyschen Milizbanden übergeben, die auf den klangvollen Namen »Küstenwache« hören.
All diese Taten gegen Flüchtlinge geschehen im Interesse der europäischen Fluchtabwehr, auch wenn unsere Regierungen sie im Einzelfall nicht gutheißen mögen. Wie auch: Sie sind schließlich illegal.
Das Strafrecht ragt also in zweierlei Weise in die Sphäre des Migrationsrechts hinein: als Instrument der Fluchtabwehr bei der strafrechtlichen Sanktionierung von Fluchthilfe; und als mögliche Reaktion auf die extralegalen und verbrecherischen Methoden, mittels derer Flüchtlinge an den Außengrenzen der Europäischen Union abgewehrt werden.
Thomas Uwer ist Geschäftsführer beim Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen.