Stellungnahme: Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Unterbringung in einer Erziehungsanstalt

Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Erziehungsanstalt

Berlin, 2. September 2022

Die Strafverteidigervereinigungen nehmen Stellung zu folgenden Punkten des oben bezeichneten Referententwurfs des Bundesministeriums der Justiz:

– § 43 StGB – Ersatzfreiheitsstrafe
– § 46 StGB – Grundsätze der Strafzumessung
– § 64 StGB – Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Berichterstatter*innen:
Doreen Blasig-Vonderlin (Leipzig)
Alexander Esser (München)
Adrian Furtwängler (Berlin)
Jessica Grimm (Berlin)
Kai Guthke (Frankfurt)
Clemens Hof (Berlin)
Lefter Kitlikoglu (Frankfurt)
Helmut Pollähne (Bremen)
Thomas Uwer (Orgasnisationsbüro/Berlin)
Stephan Schneider (Berlin)
Nico Werning (München)

§ 43 StGB – Ersatzfreiheitsstrafe

Die Strafverteidigervereinigungen begrüßen grundsätzlich, dass sich der Referentenentwurf des Problems der Ersatzfreiheitsstrafe annimmt. Dass jedes Jahr etwa 50.000 Personen[1] eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten müssen – größtenteils nur, weil sie aufgrund von Armut, Krankheit, Betäubungsmittelabhängigkeit oder psychischen Problemen nicht in der Lage sind, die gegen sie – oft im schriftlichen Schnellverfahren ohne anwaltliche Beratung und richterliches Gehör verhängte Geldstrafe zu zahlen –, ist ein andauernder justizpolitischer Skandal. Die vorgesehene Begrenzung der Reform der Ersatzfreiheitsstrafe auf einen angepassten Umrechnungsmaßstab mit dem Ziel, die Zahl der eine Ersatzfreiheitsstrafe Verbüßenden zu reduzieren um die Landesjustizverwaltungen (finanziell) zu entlasten, greift indessen deutlich zu kurz.

Die Strafverteidigervereinigungen fordern seit langem die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe,[2] über deren schädlichen Wirkungen auf die Verurteilten genauso wie auf das Strafjustizsystem auch unter Befürworter*innen einer Beibehaltung Einigkeit besteht:[3] Sie unterläuft den der Geldstrafe zugrundeliegenden Anspruch, (kurze) Freiheitsstrafen zurückzudrängen;[4] sie diskriminiert einkommensschwache Menschen[5] und bestraft finanzielles sowie sonstiges Unvermögen; und sie stuft die Verhängung des Freiheitsentzugs zu einer behördlichen Vollstreckungsentscheidung herab. Diese grundlegenden Mängel sind durch die geplante Umrechnung von zwei Tagessätzen Geldstrafe in einen Tag Freiheitsentzug nicht zu heilen.

Die hohe Zahl der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen ist zugleich nur Symptom. Eine wirkungsvolle Reform müsste über § 43 StGB hinausgehen und insbesondere auch das
(1) Strafbefehlsverfahren, (2) die (Entkriminalisierung der) für einen großen Teil der Ersatzfreiheitsstrafen verantwortlichen Bagatelldelikte sowie (3) das System der Geldstrafe insgesamt in den Blick nehmen.

1. Strafbefehlsverfahren & Ersatzfreiheitsstrafe

30.600 Euro Geldstrafe per Strafbefehl wegen »Beförderungserschleichung«

Wegen Leistungserschleichung (Fahren ohne Fahrausweis) erhielt Markus G in den Jahren 2014, 2015 und 2016 vier Strafbefehle,[6] durch die er zu einer Geldstrafe von insgesamt 1.020 Tagessätzen à 30 Euro (= 30.600,00 Euro) verurteilt wurde. Herr G war zu dieser Zeit schwer betäubungsmittelabhängig und ohne Einkommen. Durch Ablauf der Einspruchsfrist wurden die Strafbefehle rechtskräftig. Nachdem er eine Anstellung als Koch in einem Lokal gefunden hatte, zahlte Herr G fünf Jahre lang jeden Monat 50 Euro auf die Gesamtgeldstrafe ab. Als er infolge des Corona-Lockdowns Mitte 2020 seine Anstellung verlor, wurde Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet.

Herr G wurde wegen eines verursachten Vermögensschadens von insgesamt etwa 64 Euro zu einer fast 480-fachen Geldstrafe verurteilt. Obwohl er zum Zeitpunkt des Erlasses der Strafbefehle ohne Einkommen war, wurde ein Tagessatz von 30 Euro festgesetzt. Herr G war, obwohl die drohende Ersatzfreiheitsstrafe ein Jahr bei weitem überschritt, weder anwaltlich vertreten noch erhielt er richterliches Gehör.

Per Strafbefehl werden ganz überwiegend Geldstrafen – mit Nebenfolgen wie Fahrverbot oder Einziehung – verhängt.[7] Das Verfahren dient der vereinfachten strafprozessualen Erledigung kleiner und Bagatell-Delikte in einem verkürzten, schriftlichen Verfahren auf Aktengrundlage und – sofern kein Einspruch erfolgt – ohne richterliches Gehör.

Eingeleitet wird das Strafbefehlsverfahren durch einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 407 Abs. 1 StPO), woraufhin das Gericht prüfen muss, ob die Voraussetzungen für den Erlass eines Strafbefehls vorliegen. Insbesondere genügt hierfür ein hinreichender Tatverdacht (§ 408 Abs. 2 Satz 1 StPO); das Gericht muss also nicht von der Schuld des Angeschuldigten überzeugt sein. Gleichwohl steht der rechtskräftige Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich (§ 410 Abs. 3 StPO).[8] Nur wenn der Angeklagte gegen den Strafbefehl rechtzeitig Einspruch einlegt, wird eine Hauptverhandlung anberaumt (§ 411 Abs. 1 Satz 2 StPO).[9] Bleibt der Einspruch aus, so wird der Strafbefehl rechtskräftig und steht einem Urteil gleich.

Die besondere »ökonomische Verfahrenserledigung«[10] des Strafbefehlsverfahrens wird also bezahlt mit erheblichen Abstrichen bei zentralen rechtsstaatlichen Grundsätzen wie dem Unmittelbarkeits-, dem Mündlichkeits- und dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Daraus erwachsen eine Reihe von (vermeidbaren) Problemen. Die hohe Zahl der verbüßten Ersatzfreiheitsstrafen ist nicht zuletzt auch eine Folgeerscheinung schneller justizieller »Erledigung« dank abgeschliffener rechtsstaatlicher Hürden im Strafbefehlsverfahren.

(a) Unkenntnis gegenüber Inhalt und Folgen des Strafbefehls & mangelnde Aufklärung durch Staats- und Amtsanwaltschaft

Im Unterschied zu einer durch Urteil in einer Hauptverhandlung verhängten Geldstrafe, ist im Strafbefehlsverfahren nicht sichergestellt, dass dem Beschuldigten die Natur der Geldstrafe und die aus einer Nichtbegleichung resultierenden Folgen verständlich zur Kenntnis gebracht werden. Regelhaft hat nicht einmal eine förmliche Beschuldigtenvernehmung stattgefunden. Es ist davon auszugehen, dass einem nicht unerheblichen Teil der Strafbefehlsempfänger*innen schlicht nicht bewusst ist, womit sie es bei dem ihnen zugestellten Strafbefehl zu tun haben, welche Rechtsmittel und welche Folgen ein Verstreichen der Einspruchsfrist zeitigt. Entsprechend gering ist die Einspruchsquote, die bei etwa 30 Prozent liegt.

Dies liegt in vielen Fällen bereits an einfachen sprachlichen Hürden. In der Regel wird von der Amts- und Staatsanwaltschaft gar nicht oder nicht ausreichend ermittelt, ob der Adressat des Strafbefehls der deutschen Sprache soweit mächtig ist, sowohl den Inhalt des Tatvorwurfs als auch die Rechtsbehelfsbelehrung ihrem Sinn nach erfassen zu können. Sofern sich dies nicht ganz offenkundig aus der Ermittlungsakte der Polizeibehörde ergibt, wird sowohl der Strafbefehl einschließlich Rechtsbehelfsbelehrung als auch die anschließende Vollstreckungsmitteilung nur in deutscher Sprache übermittelt.

Nicht sprachkundigen Ausländern ist zwar gemäß § 187 Abs. 2 GVG der Strafbefehl mit einer Übersetzung des Strafbefehls und der Rechtsbehelfsbelehrung zuzustellen. Diese bereits früher grundsätzlich anerkannte Rechtslage[11] ist durch Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren nunmehr auch europarechtlich vorgegeben. Die Übersetzung soll bewirken, dass der Beschuldigte imstande ist, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und so ein faires Verfahren gewährleisten.[12] Ob die Zustellung eines entgegen § 187 Abs. 2 GVG nicht übersetzten Strafbefehls analog § 37 Abs. 3, der nur die Zustellung von Urteilen betrifft, unwirksam ist, aber ist umstritten und bisher nicht abschließend entschieden.[13]

Von Bedeutung ist hier, dass der Strafbefehl nach Rechtskraft zwar einem Urteil gleichsteht, während der Einspruchsfrist jedoch vielmehr mit einer Anklageschrift vergleichbar ist. Denn zum einen wird bei Erhebung eines Einspruchs und anschließender Hauptverhandlung der Strafbefehl anstelle einer Anklageschrift durch die Anklagebehörde verlesen. Zum anderen ist sowohl die Zustellung der Anklageschrift als auch des Einspruchs der erste Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte den konkreten Inhalt des Tatvorwurfs und die vorhandenen Beweismittel erfährt.

Nach ständiger Rechtsprechung aber ist die Anklageschrift dem Beschuldigten in einer verständlichen Sprache zuzustellen. Ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist. Dies setzt auch die Kenntnis der Anklageschrift voraus. Deshalb hat ein Angeklagter nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dieses Recht beinhaltet für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich die Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache; dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen.[14]

Sofern demnach ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, einen Strafbefehl nur in deutscher Sprache erhält – wie dies regelmäßig der Fall ist –, ist zu besorgen, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe ohne Rechtsgrundlage analog zu der Rechtsprechung bezogen auf eine nicht übersetzte Anklageschrift erfolgt. Denn auch wenn eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt würde, so muss der Betroffene dennoch zunächst Zugang zu einer anwaltlichen Rechtsberatung erhalten, der an keiner Stelle des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens vorgesehen ist.

Verständnisprobleme ergeben sich allerdings nicht alleine für Beschuldigte, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, sondern in gleichem Maße für juristisch ungebildete Muttersprachler. Während das Strafbefehlsverfahren für den über ein ausreichendes Einkommen und Zugang zu juristischer Beratung verfügenden Beschuldigten ein Verfahren abzukürzen und (finanzielle) Folgen abzufedern geeignet sein mag, trifft es bei den hier in weiten Teilen verhandelten Kleindelikten vermögenslose Beschuldigte, die weder über die materiellen Ressourcen verfügen, sich einen anwaltlichen Beistand zu suchen, noch in der Regel die juristische Vorkenntnis besitzen, die Folgen des ihnen zugestellten Strafbefehls und Konsequenzen zu erkennen, die mit der Nichtzahlung der Geldstrafe einhergehen. In der Folge wenden sich Beschuldigte nach Erhalt des Strafbefehls in der Regel nicht an einen Rechtsanwalt, da ihnen aufgrund sprachlicher und/oder intellektueller Grenzen die Existenz, Rechtsnatur und Konsequenz des Strafbefehls nicht bewusst ist oder sie zusätzliche Kosten scheuen, die aufzubringen sie nicht in der Lage sind.

(b) Unkenntnis durch Nichterhalt: Zustellvollmacht bei Obdachlosigkeit & unter Betreuung stehenden Menschen

Gerade obdachlose Menschen werden – meist ohne ausführliche und vor allem verständliche Belehrung – von der Polizei aufgefordert, eine sogenannte Zustellvollmacht für eine Amtsperson am örtlichen Amtsgericht auszufüllen. Die Folgen einer solchen Zustellvollmacht können fatal sein. Über die Vorschriften des §§ 35 Abs. 2 S.1, 37 Abs. 1 StPO gelten für das Verfahren über Zustellungen die Vorschriften der ZPO; demnach kann eine ordnungsgemäße Zustellung auch an einen Vertreter, der mit einer wirksamen Zustellung rechtsgeschäftlich bevollmächtigt wurde, erfolgen (§ 167 Abs. 1 BGB, § 171 ZPO).

Erteilen obdachlose Menschen diese Zustellvollmacht erfolgt die Verfahrenserledigung häufig im Strafbefehlsverfahren; das heißt: Die meisten Betroffenen erfahren erst bei einer Verhaftung zur Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe von der gegen sie verhängten Geldstrafe; durch die »fristwahrende« Zustellung sämtlicher Schriftstücke an eine Amtsperson ist diese Vollstreckung kaum mehr abzuwenden.

Aber auch ohne erteilte Zustellvollmacht birgt das Strafbefehlsverfahren gerade auch für unter Betreuung stehende Menschen – insbesondere wenn die Betreuung aufgrund psychischer Erkrankungen eingerichtet wurde – ein erhöhtes Risiko der Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe, gerade wenn die Betreuung den Aufgabenkreis der Vermögenssorge (also Führung eines Bankkontos, Verwaltung des Sparvermögens, Zahlungen von Verpflichtungen usw.), der Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern und die Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post umfasst. Bei postalischen Angelegenheiten besteht das ganz praktische Problem, dass mit einem sogenannten Nachsendeauftrag bei der Deutschen Post nicht gewährleistet werden kann, dass polizeiliche/gerichtliche Schreiben auch tatsächlich den Betreuer erreichen, da viele Behörden und Gerichte auf private Postzustellunternehmen zurückgreifen.

Angesichts dessen liegt die Vermutung nahe, dass bei einem ganz erheblichen Teil der rechtskräftig gewordenen Strafbefehle von der Möglichkeit eines Einspruchs nicht unter bewusstem Verzicht auf das damit verbundene rechtliche Gehör, sondern aus anderen, davon völlig unabhängigen, oftmals dem Angeklagten nicht einmal zurechenbaren Gründen abgesehen wird.

(c) Mangelhafte Prüfung wirtschaftlicher Verhältnisse bei der Festsetzung der Geldstrafenhöhe im Strafbefehlsverfahren

Die Verkürzung des Verfahrens auf dem Wege des Strafbefehls führt zugleich dazu, dass die eigentlich erforderliche Erforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Beschuldigten (14 RiStBV) im besten Falle mangelhaft ausfällt. »Dies liegt darin begründet, dass im Strafbefehlsverfahren sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht i.d.R. auf eigene Erhebungen zur wirtschaftlichen Situation verzichten. Vorangegangene Ermittlungen finden aber durch die Polizei nur unregelmäßig statt.«[15]

Da rein auf Grundlage der Akte entschieden wird und die Beschuldigten i.d.R. nicht gehört wurden, sind die Einkommensverhältnisse nur dann bekannt, wenn sie zufällig Bestandteil der Ermittlungsakte sind. Auskünfte zur wirtschaftlichen Situation werden darüber hinaus in der Regel nicht eingeholt. In einer stichprobenartigen Erhebung hat Kolsch festgestellt, dass in gerade einmal zehn Prozent der Ermittlungsakten überhaupt ein Nettoeinkommen genannt wird, an dem sich die Tagessatzhöhe orientieren könnte. In keinem dieser Fälle wurde das dort bezeichnete Einkommen überprüft, in keinem anderen Falle wurden Auskünfte zur wirtschaftlichen Situation eingeholt.[16] Im Ergebnis führt dies zu Geldstrafen, die nach Gutdünken verhängt werden und regelhaft in doppelter Weise das Nettoeinkommensprinzip bei der Geldstrafenfestsetzung konterkarieren, indem Beschuldigte mit Einkommen im Verhältnis zu ihren wirtschaftlichen Ressourcen zu milde, Beschuldigte ohne oder mit sehr geringem Einkommen diesbezüglich zu hart bestraft werden.[17] Diese von Kolsch genannten Zahlen korrespondieren mit älteren Studien zur Geldstrafenpraxis von Hans-Jörg Albrecht (1980) und Helmut Janssen (1994), wonach in über der Hälfte der Verfahren keine Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Beschuldigten vorlagen.[18]

So ist in Berlin gängige Praxis, bei unklaren Einkommensverhältnissen oder Hinweisen
auf mögliche Arbeitslosigkeit eine Tagessatzhöhe von 15 Euro festzusetzen. Für Beschuldigte, die über ein Nettoeinkommen von etwa 2.500 Euro monatlich verfügen (Durchschnittseinkommen Deutschland 2021) bedeutet eine Strafe von 30 Tagessätzen (bspw. wegen Schwarzfahrens und Nichtzahlung des »erhöhten Beförderungsentgelts«) eine leicht zu verkraftende Belastung; für Beschuldigte, die von Transferleistungen leben und lediglich über den Regelsatz zur Existenzsicherung von 449 Euro monatlich verfügen, ist sie einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe quasi gleichzustellen, da sie den Eintritt in die Ersatzfreiheitsstrafe darstellt.

Das Strafbefehlsverfahren in seiner jetzigen Ausgestaltung ist eine der zentralen Ursachen für die überhohe Zahl von Ersatzfreiheitsstrafen. Es ist angesichts der dargestellten gravierenden Rechtsstaatsdefizite zugleich von einer vergleichsweise hohen Zahl fehlerhafter Strafbefehle auszugehen. Die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe bei zuvor verhängten Geldstrafen im Wege des Strafbefehlsverfahrens geht regelhaft einher mit einer Verletzung der Gewährung rechtlichen Gehörs sowie weiterer Rechtsstaatsgarantien. Die Verwirklichung dieser Rechte würde die Aufklärung und Beratung des Angeklagten über seine Rechte, über die Folgen einer Verurteilung sowie die daraus für ihn erwachsenden Verteidigungsmöglichkeiten voraussetzen. Sofern dies nicht gesetzlich garantiert wird, muss von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe bei Strafbefehlsverfahren abgesehen werden.

2. Entkriminalisierung von Bagatelldelikten

Aus verschiedenen Erhebungen über die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in den einzelnen Bundesländern ist erkennbar, dass die der Ersatzfreiheitsstrafe zugrundeliegenden Anlassdelikte in der großen Mehrheit dem Bereich der Armuts- und Bagatelldelikten zuzuordnen sind. Rund einem Viertel der Ersatzfreiheitsstrafen liegt eine Verurteilung wegen Erschleichens von Leistungen gem. § 265a StGB – zumeist die sog. Beförderungserschleichung – zugrunde.[19] Den übergroßen Anteil der Beförderungserschleichung unter den Anlassdelikten der Ersatzfreiheitsstrafe hat auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB« im Rahmen ihrer Tätigkeit erkannt.[20] Die weiteren großen Gruppen von Deliktsarten sind Eigentumsdelikte (rund 33 Prozent[21]) und Vermögensdelikte – insbesondere Betrug (rund zwölf Prozent[22]).[23]Unter Einbeziehung der sozio-ökonomischen Daten der Gefangenen, wonach rund Dreiviertel der Gefangenen verschuldet waren und 95 Prozent über ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro[24] verfügen, wird deutlich, dass es sich hierbei insbesondere um Delikte handelt, die aus Armut entstehen. Hiervon geht auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus und hält in ihrem Abschlussbericht fest, dass gerade bei den Verurteilungen wegen Diebstahls, Unterschlagung und Leistungserschleichung überproportional häufig von einer Mittellosigkeit der Verurteilten auszugehen ist.[25]

Es handelt sich hierbei um ein gesellschaftliches Problem, das nicht durch das Strafrecht behandelt oder gar gelöst werden kann. Die gewünschte Schwerpunktverlagerung auf Prävention und Resozialisierung sowie auf eine Reduzierung der zu vollstreckenden Ersatzfreiheitsstrafen setzt dementsprechend voraus, dass Armutsdelikte entkriminalisiert werden. Auch insoweit ist es dringend angezeigt, die Beförderungserschleichung in der Form des Fahrens ohne Fahrschein  v o l l s t ä n d i g  zu entkriminalisieren. Auch eine Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit würde weder das zugrundeliegende Problem lösen, noch zu einer wesentlichen Reduzierung der Inhaftierungen führen. Für Bagatellstraftaten insbesondere im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte sollten Wege gefunden werden, die eine Doppelbestrafung von Armut ausschließen.[26] Eine weitere Reduzierung der Ersatzfreiheitsstrafen kann durch eine Entkriminalisierung im Bereich der Betäubungsmitteldelikte (rund zehn Prozent der Ersatzfreiheitsstrafe[27]) und einer europarechtskonformen Umgestaltung des Migrationsstrafrechts[28] (rund zwei Prozent der Ersatzfreiheitsstrafe[29]) erreicht werden.

Eine Entkriminalisierung dieser Deliktsbereiche ist aber auch deshalb grundsätzlich geboten, da sie — im Zusammenspiel mit im Falle von am Existenzminimum lebenden Beschuldigten unverhältnismäßig wirkenden Geldstrafen (s.u. 3) und der Ersatzfreiheitsstrafe – regelhaft zu Sanktionsfolgen führen, die dem begangenen Unrecht nicht mehr angemessen sind. Dies ist auch mit dem erforderlichen Rechtsgüterschutz – der Kernaufgabe des Strafrechts – nicht zu rechtfertigen, wenn das wiederholte Fahren ohne Fahrausweis in letzter Konsequenz zum Freiheitsentzug führt. Letztlich ist auch im Hinblick auf die allseits beklagte Überlastung der Strafjustiz nicht nachvollziehbar, warum kleine und kleinste Eigentumsdelikte, Betäubungsmitteldelikte (die vorwiegend auf eine Selbstschädigung hinauslaufen) und andere Bagatelldelikte die Aktenschränke der Strafjustiz füllen.

3. Erforderliche Reform der Geldstrafe

Die Geldstrafe verfolgt das Ziel, besonders schädliche kurze Freiheitsstrafen zu vermeiden. Sie ist (mit etwa 80 Prozent der ausgeurteilten Strafen) die quantitativ bedeutsamste Sanktionsform. An der ihr zugrundeliegenden Struktur und insbesondere an dem sog. Nettoeinkommensprinzip bei der Bemessung der Tagessatzhöhe (und damit der zu leistenden Geldstrafe) hat sich indessen seit Anfang der Siebziger Jahre kaum etwas geändert, während sich die soziale und Einkommens-Struktur der Bevölkerung, die Arbeitswelt und auch die Art der mit Geldstrafen sanktionierten Delikte deutlich gewandelt haben.

Die Umrechnung des Unrechts- und Schuldgehalts einer Tat in eine Geldstrafe steht dabei immer vor dem Problem, dass dieselbe Geldstrafe angesichts der faktischen sozio-ökonomischen Ungleichheit der Bevölkerung für unterschiedliche Verurteilte eine unterschiedliche Strafschärfe bedeutet. Um dem damit einhergehenden Charakter offensichtlicher Klassenjustiz entgegenzuwirken, orientiert sich die rechtswissenschaftliche Diskussion bereits seit dem Kaiserreich am Prinzip der Opfergleichheit, das danach trachtet, bei gleicher Schuld möglichst gleiche Straffolgen auszuurteilen – sprich: höhere Geldstrafen für Vermögende, geringere Geldstrafen für Arme. »Mit dieser ungleichen Behandlung (Geldstrafenhöhe) des Ungleichen (Vermögensverhältnisse) sollte für die Gleichheit vor dem Gesetz (Strafwirkung) gesorgt werden.«[30]

Auch der spätere Gesetzgeber hatte erkannt, dass Geldstrafen, die sich nicht an den sozialen Verhältnissen der Verurteilten orientieren, sich »über die Grenzen des Erträglichen hinaus zu einem unsozialen Rechtsinstitut entwickeln« (Deutscher Bundestag 1962).[31] Mit der großen Strafrechtsreform wurde daher die Festsetzung der Geldstrafe in drei Schritte unterteilt, die Festsetzung der Tagessätze (als Spiegel des Unrechts- und Schuldgehalts), die Festsetzung der Tagessatzeshöhe gemessen an den Vermögensverhältnissen der Verurteilten und daraus folgend im Ergebnis die Geldstrafe (Tagessätze x Tagessatzhöhe). Den im Hinblick auf die soziale Situation der Verurteilten maßgeblichen Unterschied macht daher die im zweiten Schritt vorgenommene Festsetzung der Tagessatzhöhe. Diese ist nach § 40 Abs. 2 S. 2 StGB nach dem sog. Nettoeinkommensprinzip zu bemessen, eine Regelung, die Anfang der 70er Jahre auf der Annahme fußte, dass praktisch alle Teile der Bevölkerung Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit beziehen.

Bereits zu dieser Zeit war das Nettoeinkommensprinzip nicht in der Lage, der Perpetuierung und Vertiefung sozialer Ungleichheit durch Strafungleichheit entgegenzuwirken, sondern half, sie zu vertiefen. Wer am unteren Rande des Nettoeinkommens lebt, der kann auch auf wenig Geld nicht verzichten. Der Ende der 60er Jahre eingesetzte Sonderausschuss des Deutschen Bundestages der Strafrechtsreform hatte dies im Blick und präferierte demgegenüber das sog. Einbußeprinzip, das von dem ausgeht, was als

»Einbuße dem Täter aufgrund seiner erzielbaren Einkünfte, seines verwertbaren Vermögens und seines tatsächlichen Lebenszuschnittes unter Berücksichtigung seiner Unterhalts- und sonstigen angemessenen Zahlungsverpflichtungen sowie seiner persönlichen Verhältnisse im Durchschnitt täglich zuzumuten ist.«[32]

Damit bildet das Existenzminimum die äußerste Grenze staatlichen Zugriffs. Geschützt sind zugleich die mittelbar und unmittelbar von den Einkünften der Verurteilten Abhängigen.

Dass sich der Gesetzgeber seinerzeit gegen dieses als Einbußeprinzip bezeichnete Modell und für das Nettoeinkommensprinzip entschieden hat, war damals bereits falsch und vertiefte soziale Ungleichheit durch Strafungleichheit. Angesichts völlig veränderter sozialer Problemlagen und auch im Hinblick auf die Tatsache, dass per Geldstrafe nicht mehr fast ausschließlich Verkehrsstraftaten, sondern eben auch die gesamte Bandbreite der Bagatell- und Armutsdelikte bestraft wird, ist das Nettoeinkommensprinzip nicht nur unangemessen und aus der Zeit gefallen, sondern im engsten Sinne als jene Klassenjustiz zu bezeichnen, welche der historische Gesetzgeber zu vermeiden trachtete. Denn schließlich ist die ungerechte und nicht an den tatsächlichen Möglichkeiten der Verurteilten orientierte Festsetzung der Tagessatzhöhe nach dem Nettoeinkommensprinzip eine weitere wichtige Ursache für die hohe Zahl an Personen, die eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht zahlen können und gegen die folglich Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet wird.

Aus den Erhebungen zur Ersatzfreiheitsstrafe geht hervor, dass die Vollstreckung insbesondere die Menschen betrifft, die am Existenzminimum (oder darunter) leben. 16 Prozent der Gefangenen verfügen über keinerlei Einkommen, 95 Prozent haben ein Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro und rund  75 Prozent sind verschuldet.[33] In NRW wurden bei rund 25 Prozent der Gefangenen gesundheitliche Einschränkungen festgestellt, rund 20 Prozent sind nur eingeschränkt oder gar nicht arbeitsfähig.[34] Über zehn Prozent der Gefangenen verfügen über keinen festen Wohnsitz.[35] Diese Daten machen deutlich, dass die Ersatzfreiheitsstrafen nur in den seltensten Fällen aufgrund von Zahlungsunwilligkeit vollstreckt werden. Die hohe Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen ist dementsprechend ein Ausdruck dessen, dass die Anwendung des Nettoeinkommens-Prinzips des § 40 Abs. 2 S. 2 StGB bei Personen, die am Rande des Existenzminimums leben zu nicht tragbaren Ergebnissen führt.

Die Rechtsprechung hat diese Problematik zwar teilweise erkannt und versucht einen Umgang hiermit zu entwickeln.[36] Keines der hier entwickelten Modelle kann jedoch im Hinblick auf die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die Verurteilten überzeugen, so dass ein dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf an dieser Stelle besteht.

Dies betrifft insbesondere diejenigen, die von staatlichen Leistungen zur Existenzsicherung abhängig sind oder lediglich ein Einkommen knapp über dem Existenzminimum haben. Dabei ist davon auszugehen, dass die Besonderheit bei der Bemessung des Regelbedarfs nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch darin liegt, dass die Betroffenen gerade auf diese Leistungen angewiesen sind und andernfalls unabdingbare soziale oder unter Umständen sogar physische Bedürfnisse ungedeckt blieben.[37] Auch soziokulturelle Bedürfnisse gehören nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zum menschenwürdigen Existenzminimum zwingend dazu und können – anders als in einigen Modellen zu Berechnung der Tagessatzhöhe angewandt – nicht als entbehrlich betrachtet werden.[38] Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist hierbei direkter Ausfluss der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG. Auch bei einem strafwürdigen Verhalten darf hier kein staatlicher Eingriff erfolgen.

Erschwerend kommt hinzu, dass gerade bei nicht alleinstehenden Personen durch die Geldstrafe nicht nur in deren persönliche Rechte eingegriffen wird, sondern unmittelbar in die der Bedarfsgemeinschaft insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel zum Lebensunterhalt. Die Strafe hat mithin in solchen Fällen erhebliche negative Auswirkungen für Dritte, die grundsätzlich zu vermeiden sind.

Der Gesetzgeber, der sich des Problems der überhohen Zahl angeordneter Ersatzfreiheitsstrafen annehmen will, darf daher vor einer grundlegend neuen Ausgestaltung des Geldstrafensystems nicht Halt machen, sondern sollte eine Reform der Berechnung der Tagessatzhöhe angehen hin zu dem ursprünglich vorgesehenen Einbußeprinzip, um tatsächlich zu einer wirksamen Reduzierung der uneinbringlichen Geldstrafen zu gelangen.[39]

Die Alternative zur Geldstrafe kann zugleich nicht Freiheitsstrafe bedeuten. Auch von daher ist die unter (2.) geforderte Entkriminalisierung von Bagatelldelikten dringend geboten.

4. Zusammenfassung

Die überhohe Zahl der eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden ist Ausdruck grundsätzlicher Probleme bei der Umwandlung einer Geld- in eine Freiheitsstrafe. Der im Referentenentwurf vorgeschlagene Ansatz einer veränderten Umrechnung von zwei Tagessätzen Geldstrafe in einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe greift daher deutlich zu kurz und wird nichts an dem eigentlichen Skandal ändern, dass unverteidigte Beschuldigte nach dem derzeitigen System eine (Ersatz-)Freiheitsstrafe verbüßen, ohne im Verlauf des gesamten Verfahrens auch nur ein einziges mal richterlich gehört worden zu sein. Letztlich entscheidet nicht einmal ein*e Richter*in über die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, noch wird eine Haftfähigkeitsprüfung vorgenommen – mit dem Ergebnis, dass Freiheitsentzug gegen Beschuldigte angeordnet wird, die aufgrund schwerster körperlicher und/oder psychischer Erkrankungen gar nicht haftfähig sind. Hier besteht dringender Reformbedarf.

Ersatzfreiheitsstrafe

Aus Sicht der Strafverteidigervereinigungen sind diese Probleme nicht durch eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe zu lösen. Die Ersatzfreiheitsstrafe sollte daher abgeschafft werden.

Sollte an der Ersatzfreiheitsstrafe festgehalten werden, so muss sichergestellt werden, dass sie ausschließlich Zahlungsunwillige trifft, nicht aber Personen, die aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Ressourcen oder aufgrund sozialer und psychischer Notlagen oder aufgrund von Krankheit nicht dazu in der Lage sind.

– Die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe darf nur auf dem Wege eines gesonderten förmlichen Verfahrens durch richterlichen Beschluss erfolgen. Vor jeder Anordnungsentscheidung ist eine mündliche Anhörung unabdingbar. Eine Prüfung der Haftfähigkeit ist dabei zwingend erforderlich.

– Vor Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe ist zwingend ein Angebot für Zahlungserleichterungen (Ratenzahlungen) zu machen, um sicher zu stellen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe Zahlungsunwillige und nicht Zahlungsunfähige trifft.

– Geht die in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelte Geldstrafe auf eine Nettoeinkommensberechnung oder -schätzung zurück, so ist in der Umrechnung der Tagessätze in Hafttage konsequenterweise ein Maßstab von 1:3 anzusetzen, da das zugrundegelegte fiktive Lohneinkommen weder in 24 noch in zwölf Arbeitsstunden täglich erwirtschaftet wird, sondern in durchschnittlich acht Stunden. Dem dürfen keine 24 und auch keine zwölf Stunden Haft entsprechen.

– Können Verurteilte ohne Verschulden die Geldstrafe nicht zahlen, so ist die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe auszusetzen.

Reformiert werden sollten damit einhergehend auch das Strafbefehlsverfahren und die Geldstrafe, Bagatelldelikte sollten entkriminalisiert werden.

Strafbefehlsverfahren

Das Strafbefehlsverfahren als vereinfachte Verfahrenserledigung darf nicht alleine der Hoheit von Polizei und Staatsanwaltschaft unterliegen.

– Die Festsetzung der Tagessatzhöhe muss die Erforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse voraussetzen. Die derzeit als Verwaltungsvorschrift gefasste Pflicht zur Aufklärung gem. Nr. 14 RiStBV reicht offenkundig nicht aus.

– Der Erhalt des Strafbefehls muss ebenso zwingend sichergestellt werden, wie die Zugänglichmachung in einer den Beschuldigten verständlichen Sprache.

– Urteile gegen unverteidigte, rechtsunkundige Beschuldigte darf es nicht geben In Strafbefehlsverfahren ist daher immer von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen.

– Verurteilungen aufgrund von Fristablauf und ohne richterliches Gehör sind eines Rechtsstaates unwürdig. Rechtskraft dürfen Strafbefehle daher nur erlangen, wenn den Beschuldigten zuvor richterliches Gehör gewährt wurde oder mit anwaltlicher Vertretung ausdrücklich der Verzicht auf ein mündliches Verfahren erklärt wurde.

Geldstrafe

Die Geldstrafe muss grundlegend reformiert werden, um dem vom Gesetzgeber ursprünglich formulierten Ziel der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen gerecht zu werden.

– Bei der Berechnung der Tagessatzhöhe ist zu dem bereits vor 50 Jahren diskutierten Einbußesystem zurückzukehren.

– Das Existenzminimum muss als äußerste Grenze staatlichen Zugriffs bei der Verhängung von Geldstrafen anerkannt werden. Wer nur über das Minimum zur Erhaltung der eigenen Existenz verfügt kann davon keine Strafe zahlen.

– Über das Existenzminimum hinaus sind bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe entspr. der Empfehlungen, die der Sonderausschusses des Deutschen Bundestages bereits 1969 gab, auch die sonstigen persönlichen Verhältnisse und die Unterhalts- und Zahlungsverpflichtungen der Verurteilten zu berücksichtigen.

Bagatell- und Armutsdelikte müssen entkriminalisiert werden.

§ 46 Grundsätze der Strafzumessung

Die Strafverteidigervereinigungen lehnen die vorgeschlagene Erweiterung des Katalogs menschenverachtender Beweggründe aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Der Begriff »menschenverachtend« umfasste bereits alle (seit 2015) zusätzlich aufgenommenen menschenverachtenden Beweggründe in ausreichendem Maße, ohne, dass es einer Differenzierung in Opfergruppen bedurft hätte. Die Begründung des Entwurfs baut auf falschen Annahmen und der methodisch falschen Interpretation von Zahlen zur Verbrechensentwicklung.

Im Einzelnen:

1. Kritik an der Einführung identitätsbasierter Strafzumessungsgründe bzw. der teilweisen Aufgabe des Anknüpfungspunktes »alle Menschen«, obwohl auch der Referentenentwurf keine inhaltliche Notwendigkeit sieht

»Wenn es nicht notwendig ist ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.«

(Charles de Secondat, Baron de Montesquieu)

Diese grundlegende staatstheoretische Erkenntnis gilt aus unserer Sicht ganz besonders im Strafrecht, das noch immer das »schärfste Schwert« des Staates darstellt.

a) Bisherige Entwicklung / Forderungen des Entwurfes

Nach Neubekanntmachung im Jahre 1953 und der grundlegenden Reform des Strafgesetzbuches 1975 blieben die Grundsätze der Strafzumessung in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB bis 2015 unverändert. Zum 1. August 2015 wurden dann als strafzumessungsrelevante Beweggründe und Ziele des Täters rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Gründe hervorgehoben. Im April 2021 kamen antisemitische Beweggründe hinzu, nunmehr sollen nach dem Referentenentwurf geschlechtsspezifische und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Beweggründe aufgenommen werden. Der Referentenentwurf begründet dies mit einem spürbaren Anstieg bei gegen Frauen gerichteten Taten und Hasskriminalität gegen LSBTI-Personen.

In der Begründung des Entwurfes heißt es dann aber (zutreffend), dass es zwar das geltende Recht bereits jetzt ermögliche, Motive und Beweggründe, die sich zum Beispiel als Hass gegen Frauen oder homosexuelle Menschen darstellen, zu berücksichtigen. Denn nach § 46 StGB habe das Gericht bei der Strafzumessung die Beweggründe und Ziele des Täters, besonders auch menschenverachtende, zu berücksichtigen und es sei allgemein anerkannt, dass die Motive, die sich gegen das Geschlecht, einschließlich der geschlechtlichen Identität oder der sexuellen Orientierung des Opfers richten, unter die sonstigen menschenverachtenden Beweggründe fallen.[40]

Der Gesetzentwurf führt sodann aber (unzutreffend) aus, dass diese Vorgabe bislang nur beschränkten Einfluss auf die »Rechtspraxis« gehabt habe. Wie an anderer Stelle dieser Stellungnahme noch gezeigt werden wird, hat die Rechtspraxis aber vielmehr bereits auf Basis der bisherigen Regelung eine sehr differenzierte Betrachtungsweise des Einzelfalls entwickelt, was mit Blick auf die Vielfalt der Konstellationen auch sachgerecht ist, während eine Gesetzesregelung als notwendig allgemeine Regelung hier nicht sachgerecht wirkt.

Der Referentenentwurf meint gleichwohl, es sei ein klares Zeichen gegen Hasskriminalität, auch im Hinblick auf die nunmehr ausdrücklich in das Gesetz aufzunehmenden Gruppen, zu setzen. Der Entwurf wiederholt damit die bereits in der 17. Legislaturperiode bei Einführung rassistischer, fremdenfeindlicher und sonstiger menschenverachtender Motive geäußerte Intention, dass ein klares Zeichen (dort: »deutliches Zeichen«) gesetzt werden solle.

Bereits jetzt kann aber in der Standardkommentierung für das StGB jede*r (willige) Strafjurist*in lesen:

»Menschenverachtend sind solche Motive die einzelne Gruppen von Menschen (z.B. Frauen, Ausländer, Behinderte) oder Menschen im Allgemeinen als minderwertig oder verächtlich ansehen und Rechtsgutsverletzungen gerade im Hinblick auf diese Einstellung überhaupt oder in spezieller Intensität zugrunde liegen oder begleiten.«[41]

Gesetzgeber und Literatur waren und sind sich daher (seit Jahren) einig: Strafrechtlich relevantes Verhalten, welches zudem durch Diskriminierung anderer gekennzeichnet ist, kann als menschenverachtend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sein.

Wir stellen hierzu auch in unserer Praxis als Strafverteidiger*innen durchaus eine steigende Befassung der Instanzgerichte mit derartigen Fragen fest. Dass sich dies in Revisionsentscheidungen des BGH nicht unbedingt wiederfindet, belegt nicht das Gegenteil. Denn die meisten der von dem Referentenentwurf genannten Deliktsbereiche werden in aller Regel zunächst vor dem Amtsgericht verhandelt, so dass wegen des Instanzenzuges im Strafrecht der BGH insoweit für die Revisionen nicht zuständig ist.

b) Allgemeiner Teil besonders ungeeignet für Symbolgesetzgebung / Referentenentwurf geht selbst von unnötiger Gesetzesreform aus

Der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches ist unseres Erachtens nach auch nicht der Ort für »klare Zeichen«. Es fehlt ihm bereits die Appellfunktion, die ein Tatbestand im Strafgesetzbuch möglicherweise noch hat. Der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches dürfte dem Großteil der Bevölkerung völlig unbekannt sein und daran dürfte auch dessen kurze zu erwartende mediale Beleuchtung im Rahmen der nun angedachten Gesetzesreform nichts ändern.

c) Problematik der Anerkennung von »Opfergruppen« im Allgemeinen Teil des Strafrechts

Wenn es das geltende Recht bereits jetzt ermöglicht, Motive und Beweggründe, die sich zum Beispiel auf Hass gegen Frauen oder homosexuelle Menschen richten, zu berücksichtigen, kann die Notwendigkeit dieser Berücksichtigung offenbar nicht der Grund für die Reform sein. Dann ist es aber mit Montesquieu »nicht notwendig, ein Gesetz zu machen«.

Stattdessen scheint es um die Frage des Sich-Wiederfindens, des Erwähntwerdens bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in einem spezifischen Opfersein zu gehen.

Damit verfolgt der Referentenentwurf einen Ansatz, der Abstand von dem Gedanken nimmt, dass die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz[42] als Bezugspunkt für alle genügt und der sich stattdessen hin zu einem gruppenspezifischen Beachtetwerden wendet. Hierbei handelt es sich um gesellschaftliche Prozesse, die seit einiger Zeit im Gang sind und offenbar im Zusammenhang mit größeren gesellschaftlichen Meta-Entwicklungen (Postmoderne/Post-Postmoderne etc.) stehen und im Einzelnen hier (noch) nicht bewertet werden können und sollen. Es kann bei einer Sichtung der diesbezüglichen aktuellen Diskussionen aber vorsichtig gesagt werden, dass dieser Diskussionsprozess erst begonnen hat, obwohl er die Institutionen (insbesondere akademische, wohl über diese aber auch staatliche) bereits länger beschäftigt.

Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass aus der spezifischen Anerkennung einzelner Opfergruppen erhebliche Probleme entstehen. Diese Entwicklung tritt ebenfalls allmählich zutage und ist noch nicht abzusehen, denn die Diskussion auch dieser Seite der sog. »Identitätspolitik«[43] hat – nach einem zunächst grundsätzlich positiven Blick der Institutionen auf sie – erst begonnen und kann ebenfalls keinesfalls als gefestigt oder abgeschlossen angesehen werden.

Die Strafverteidigervereinigungen sind über die unter ihren Mitgliedern geführten Diskussionen zwar durchaus Teil dieses gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, lehnen aber gerade aus den entsprechenden Beobachtungen heraus eine Positionierung des Gesetzgebers hierzu, insbesondere im Bereich des Kernstrafrechts, das aus unserer Sicht nur auf Grundlage breiterer Debatten reformiert werden sollte, jedenfalls derzeit ab.

Es erscheint uns verfehlt, wenn der Gesetzgeber einen Ansatz, dessen Auswirkungen gerade erst diskutiert, betrachtet und erforscht werden, aufgreift und ihn gerade im grundlegenden Allgemeinen Teil des Strafrechts festschreiben will. Da Strafrecht das schärfste Steuerungsinstrument des Staates ist, sollten zuvor die durch die gesellschaftlichen Diskussionen und die durch die vorangegangenen Reformen angestoßenen Entwicklungen abgewartet werden und ggf. zuvor andere Steuerungsinstrumente wie das Zivilrecht und Verwaltungsrecht als Regulierungsinstrument eruiert werden. Strafrecht sollte hier nicht vorgreifen. Wir sind der Ansicht, auch der Gesetzgeber sollte dem Gedanken vom Strafrecht als »ultima ratio« der staatlichen Mittel folgen.

Zudem ist die Rechtsprechung besser dafür geeignet, derartige aktuelle Diskussionsprozesse in das bestehende Regelungskonzept zu integrieren, umso mehr als der Referentenentwurf selbst – unter Bezugnahme auf die, wenn auch veraltete, Rechtsprechung (siehe dazu noch unten) – konstatiert, dass es auch aus seiner Sicht kein Problem mit der gesetzlichen Grundlage gibt.

d) Unteilbarkeit der Menschenwürde statt Aufsplittung in Untergruppen als besseres Signal an die Gesellschaft

Aus unserer Sicht ist zudem der Regelungsansatz, Handlungsweisen als menschenverachtend zu kennzeichnen statt als spezifisch frauenverachtend, homophob, transfeindlich etc. als Signal an die Gesellschafter klarer. Denn gerade durch die Kennzeichnung derartiger Handlungsweisen als menschenverachtend wird das Signal der Unteilbarkeit einer humanistischen Gesellschaft gesendet: Wir sind alle Menschen und jeder, der sich im Sinne der von dem Referentenentwurf erstrebten Gruppenbildung diskriminierend äußert, wird als entsprechend menschenverachtend sanktioniert.

Geradezu fatal – und dem Ansinnen der Entwurfsverfasser zuwiderlaufend – wäre es zudem, wenn Opfern von Hasskriminalität in strafgerichtlichen Urteilen erklärt werden würde, warum die gegen sie gerichtete Tat gerade nicht dem explizit aufgeführten Strafschärfungsgrund des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, des Antisemitismus, des Geschlechts oder sexuellen Identität bzw. Orientierung unterfallen soll.[44]

2. Kritik an der Methodik bzw. der Begründung der Reform – Zahlengrundlagen

a) Die PKS als Verdachtsstatistik ist keine solide Grundlage

Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) ist eine Verdachtsstatistik und beruht auf Einstufungen der Polizei vor Abgabe an die Staatsanwaltschaft.[45] Wird sie strafrechtlichen Reformen zugrunde gelegt, fließt daher polizeiliches Verdachtsdenken so in Strafrechtsänderungen ein als wären diese Verdachtstaten tatsächlich geschehen. Aus einem Verdacht wird damit statistisch eine Straftat, ohne dass eine Überprüfung dieser Einstufung auch nur durch die immerhin juristisch arbeitende Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. Eine Überprüfung durch ein weisungsfrei arbeitendes Gericht fand dann noch nicht statt.

Aber nicht nur deswegen handelt es sich bei der PKS um eine besonders verzerrungsanfällige Statistik. Entscheiden sich die Innenministerien / Polizeien etwa für eine verstärkte Verfolgung von bestimmten Deliktsbereichen, steigt automatisch die entsprechende PKS-Kennzahl an. In der PKS ist die Kriminalität dann statistisch angestiegen, obwohl sich an der tatsächlichen Kriminalität nichts geändert hat. Entsprechendes gilt im Fall eines veränderten Anzeigeverhaltens.

b) Statistik »Partnerschaftsgewalt« als Beispiel statistischer Verzerrunge

Auch an der aus der PKS entnommenen Sonderstatistik »Partnerschaftsgewalt« lässt sich deren Unzuverlässigkeit aufzeigen: So gab es etwa 2017 eine Erweiterung der als »Partnerschaftsgewalt« zu zählenden Fälle »um die Deliktsbereiche Nötigung, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution,so dass die Daten ab 2017 nicht mit den Vorjahren vergleichbar sind.« Immerhin wird auf diese Änderung noch ausdrücklich in der Statistik und auch im Referentenentwurf hingewiesen.[46]

c) Zahlen im Referentenentwurf belegen nicht, was sie belegen sollen

Die oben geschilderten Gefahren haben auch tatsächliche Auswirkungen wie der Referentenentwurf ebenfalls belegt. Sie schlagen etwa auf die in dem Referentenentwurf genannten Zahlen durch. In dem Referentenentwurf heißt es auf S. 13:

»Taten, die aus Sicht des Täters handlungsleitend durch das Geschlecht des Opfers oder dessen sexuelle Orientierung motiviert sind, spielen in Deutschland nach den vorliegenden statistischen Erkenntnissen eine zunehmende Rolle. […]

Soweit es um Taten geht, die vorrangig gegen Frauen verübt werden, ist dies konkret an den Daten zur sogenannten Partnerschaftsgewalt ablesbar. […]

Der Begriff Partnerschaftsgewalt umfasst Straftaten zwischen aktuellen und ehemaligen Partnerinnen und Partnern (unabhängig davon, ob sie in Ehe, eingetragener Lebenspartnerschaft oder nichtehelicher Lebensgemeinschaft verbunden sind oder waren). Knapp 61,6 % der Delikte machten 2020 vorsätzliche einfache Körperverletzungen aus, 22,3 % Bedrohungen, Stalking oder Nötigungen, 12,2 % gefährliche Körperverletzungen, 2,3 % Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und sexuelle Übergriffe, 0,3 % Morde und Totschläge und 1,3 % andere Delikte.«

Das ist methodisch und auch von der Art des Zahlenframings her unsauber. So sollte keine Strafrechtsänderung begründet werden.

Der Referentenentwurf suggeriert im zweiten oben zitierten Absatz, dass es hier um Gewalt gegen Frauen gehe. Die in dem letzten oben zitierten Absatz angeführten Prozentzahlen sind aber die Prozentzahlen für die Gesamtzahl der Opfer in Partnerschaften aus den jeweiligen Deliktsbereichen, also männliche und weibliche, bezogen auf die Gesamtzahl der Opfer aus den als partnerschaftsrelevant definierten Bereichen insgesamt.

Dies wird deutlich, wenn man sich die in der Sonderstatistik Partnerschaftsgewalt befindliche »Gegenüberstellung: Opfer insgesamt und Opfer in Partnerschaften für die betrachteten Delikte« (S. 5) ansieht.

Nimmt man die Zahlen (nochmals: Zahlen aus der PKS, also solche lediglich auf Grundlage der durch die sachbearbeitenden Polizeibeamten vorgenommenen Einstufung), die Frauen als Opfer ausweisen – um die es dem Referentenentwurf ja offenbar geht –, ist das Bild anders.

Beispiel: Bei der einfachen Körperverletzung steht der von der Polizei dem ersten Anschein nach eingestuften Gesamtzahl an Opfern von 148.031 eine Zahl von 72.013 weiblichen Opfern gegenüber, das sind rund 48,6 %.

Entscheidender ist aber in dem von dem Referentenentwurf hergestellten Zusammenhang: Aus den PKS-Zahlen, auf die sich der Referentenentwurf stützt, lässt sich überhaupt nicht herauslesen, ob die Taten »aus Sicht des Täters handlungsleitend durch das Geschlecht des Opfers oder dessen sexuelle Orientierung motiviert« waren – das erfasst die PKS nicht. Hier schreibt der Referentenentwurf etwas herbei, was auf diesen Zahlen keine Grundlage hat.

Die methodischen Fehler setzen sich fort. In dem Referentenentwurf heißt es weiter auf S. 13:

»Der Anteil von Opfern von Partnerschaftsgewalt mit 18,8 % (148 031) war gemessen an der Anzahl der Gesamtopfer von Straftaten hoch.«

Auch das ist wenigstens missverständlich, das Zahlenframing manipulativ. Woher die 18,8 % kommen, löst der Referentenentwurf nicht auf, da keine Bezugszahl genannt wird. Die Herkunft der Zahl lässt sich daher nur vermuten und zwar wieder die oben bereits wiedergegebene »Gegenüberstellung«.

Man beachte: Diese Gegenüberstellung gilt ausdrücklich »für die betrachteten Delikte« – also für die zuvor als spezifisch partnerschaftsrelevant definierten Delikte. Für diese Deliktsbereiche wird eine Gesamtopferzahl von 813.270 genannt. Von diesen – ja zuvor sogar als ganz besonders partnerschaftsrelevant definierten Deliktsbereichen – weist die Statistik 148.031 Opfer in Partnerschaften aus, das sind 18,2 %. Die weit überwiegende Mehrzahl der in den als partnerschaftsrelevant definierten Deliktsbereichen ausgewiesenen Opfer, werden Opfer dieser Straftaten demnach offenbar gerade nicht in Partnerschaften.[47]

Auch die Gesamtopferzahl von Straftaten ist laut PKS – die zudem bereits ihrerseits nicht alle Straftaten erfasst, insbesondere nicht die meisten Straftaten im Straßenverkehr – eine andere, anders als es der Referentenentwurf suggeriert. Sie liegt in der PKS 2021 bei 916.685. Legte man die Gesamtopferzahl zugrunde, blieben partnerschaftsrelevant noch 16,1 %.

Es scheint also so zu sein, dass der Bereich »partnerschaftsrelevante Kriminalität« so weit gefasst wurde, dass er fast alle in der PKS überhaupt vermerkten Opfer von Straftaten abdeckt. Auch dieses Vorgehen halten wir für bedenklich und daher die Begründung über die von dem Referentenentwurf herangezogenen Statistiken, zu denen zudem noch eine Sonderstatistik definiert wurde, für nicht ausreichend, insbesondere nicht, wenn es um Strafrechtsverschärfungen geht.

Irreführend methodisch unsauber ist es zudem, wenn unter der Überschrift »gegen Frauen gerichtete Taten« im Referentenentwurf (S. 13) die Gesamtopferzahl von 148.031 mit den spezifisch für Frauen erhobenen Zahlen gleichgesetzt wird. Denn immerhin sind von diesen 148.031 Opfern auch 28.867 als männlich ausgewiesen (19,5 %). Auch hier wollte man offenbar zugunsten der größeren Zahl ein bestimmtes (Zahlen-)Framing vornehmen.

Noch bedenklicher sind die Zahlengrundlagen zu »Hasskriminalität gegen LSBTI-Personen« (S. 16 ff. des Entwurfs). Dort wird auf eine noch »schlechtere« Statistik als die PKS zurückgegriffen, nämlich auf die Erhebung des »Kriminalpolizeilichen Meldedienstes politisch motivierte Kriminalität.« Dabei handelt es sich um eine reine Eingangsstatistik, die Parameter werden dort also »grundsätzlich bereits zu Beginn des Verfahrens zugeordnet.«[48]Diese Statistik ist also noch anfälliger für Verzerrungen durch Anzeigeverhalten, Kampagnen, Reaktionen auf aktuelle Fälle etc. als die PKS. Daher sind die dort genannten Anstiege – zumal es sich dort vor allem um hohe prozentuale Anstiege handelt – nur mit Vorsicht zu interpretieren. Der Gesetzgeber sollte vor einem Eingriff in den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches zunächst evaluieren, worauf diese Anstiege beruhen, statt quasi aktionistisch Strafverschärfungen vorzunehmen.

Zusammenfassend halten wir sowohl diese Berechnungsmethodik als auch die Methodik des Umgangs mit der Definition von »partnerschaftsrelevanten« Delikten für statistische Zwecke sowie die verzerrende Darstellung der Zahlen im Referentenentwurf (Framing) für ein gesetzgeberisches Verfahren für unvertretbar, insbesondere wenn damit – wie hier – eine Strafverschärfung begründet werden soll.

3. Kritik an der Methodik bzw. der Begründung der Reform – Bezugnahme auf veraltete Rechtsprechung / BGH regelmäßig nicht zuständig

Der Referentenentwurf hält zunächst auf S. 14 fest:

»[…] so dass insoweit das deutsche Recht bereits grundsätzlich dieser Vorgabe der Konvention entspricht…«

Dann führt der Referentenentwurf aber auf S. 14 »Defizite« und zwar solche »in der Rechtspraxis« als Begründung für die Reform an:

»Dennoch sind in der Rechtspraxis bei der angemessenen Ahndung von solchen Taten auch Defizite erkennbar.«

Weiter heißt es dann:

»Dies gilt insbesondere im Bereich des Sexualstrafrechts: Die höchstrichterliche Rechtsprechung berücksichtigt den Umstand, dass der Täter einer Sexualstraftat mit dem Opfer zur Tatzeit oder zeitnah davor eine Intimbeziehung pflegte, bislang in der Regel nicht nur nicht strafschärfend, sondern häufig sogar strafmildernd (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015, 3 StR 217/15, bei juris Rn. 5; Beschluss vom 10. September 2009, 4 StR 366/09, bei juris Rn. 2; Beschluss vom 21. Januar 2003, 4 StR 414/02, bei juris Rn. 7: ‚wesentlicher strafmildernder Umstand‘; Beschluss vom 23. Mai 2000, 4 StR 146/00; bei juris Rn. 7; Beschluss vom 6. August 1993, 3 StR 305/93, bei juris Rn. 5 f.; Urteil vom 14. Oktober 1981, 5 StR 215/81, bei juris Rn. 4 ff.; Urteil vom 25. September 1962, 1 StR 336/62; weitere Nachweise bei Steinl, ZStW 2021, 819, 836). Anderes soll nur gelten, wenn die Tat Bestrafungscharakter hat oder der Täter sich nicht mit der Trennung vom Opfer abfinden will (BGH, Beschluss vom 20. April 2016, 5 StR 37/16, bei juris Rn. 7 [zum Bestrafungscharakter]; Beschluss vom 10. Juli 2007, 3 StR 242/07; Urteil vom 12. Januar 2000, 3 StR 363/99, bei juris Rn. 6 [beide zur Bestrafung nach oder wegen nicht akzeptierter Trennung]; Steinl, a.a. O.)«

a) Referentenentwurf begründet Reformnotwendigkeit mit Rechtsprechung, die vor den letzten Reformen ergangen ist

Auch diese Darstellungsweise der Rechtsprechung/»Rechtspraxis« in dem Referentenentwurf ist verzerrt und muss daher als Begründung für eine Strafrechtsverschärfung als unredlich angesehen werden:

Der Referentenentwurf behauptet, dass die Rechtsprechung den Umstand einer Intimbeziehung »bislang« als strafmildernd angesehen habe. Sodann werden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) zitiert, die mit dem Sexualstrafrecht von heute nichts mehr zu tun haben und als veraltet angesehen werden müssen: Die jüngste Entscheidung des BGH, auf die der Referentenentwurf Bezug nimmt und in der strafmildernde Erwägungen aufgrund einer Intimbeziehung vom BGH angenommen worden sein sollen, stammt aus dem Jahr 2015 und ist damit – Stand heute – über sieben Jahre alt. Andere der zitierten Entscheidungen stammen noch aus der Zeit, in der z.B. die sog. »Vergewaltigung in der Ehe« nicht strafbar war. Eine der Entscheidungen stammt sogar aus 1960er Jahren. Das Sexualstrafrecht wurde aber in den letzten Jahren mehrfach reformiert. Insbesondere der Gesichtspunkt des verbesserten Schutzes von Frauen war Zielsetzung der Reformen (Istanbul – Konvention, »Nein heißt Nein« etc.). Die genannten Entscheidungen des BGH sind sämtlich aus einer Zeit, in der diese Reformen noch nicht in die Entscheidungen einfließen konnten. Dennoch soll nun auf Basis dieser veralteten Rechtsprechung wieder eine Reform stattfinden.

Die Begründung strafrechtlicher Reformen mit immer wiederkehrenden veralteten Entscheidungen ist aus unserer Sicht unredlich und führt eben auch zu der zu beobachtenden »Reformüberhitzung« im Bereich des Strafrechts. Der Gesetzgeber sollte zunächst die Wirkung der vergangenen Reformen abwarten und evaluieren. Anhand veralteter Entscheidungen des BGH lässt sich der Reformbedarf jedenfalls nicht begründen.

b) Verweis auf den BGH hier ungeeignet

Ohnehin wurden bereits oben die Bedenken mit Blick auf die alleinige Heranziehung von BGH – Rechtsprechung bei den hier in Rede stehenden Deliktsbereichen erwähnt. Die Fokussierung auf den BGH hat mit der tatsächlichen »Rechtspraxis« an dieser Stelle wenig zu tun. Sie blendet aus, dass bei den meisten der von den im Referentenentwurf genannten Deliktsbereichen die Verfahren in aller Regel zunächst vor dem Amtsgericht beginnen, so dass wegen des Instanzenzuges im Strafrecht der BGH insoweit für die Revisionen gar nicht zuständig ist.

Bei den Staatsanwaltschaften und in der Instanzenebene der Gerichte ist aber aus unserer Sicht in als »Rechtspraktiker« durchaus eine Befassung mit den Fragen festzustellen, die der Referentenentwurf nun als reformbedürftig aufwirft, weil sie angeblich nicht von der Praxis beachtet werden. Bis diese Befassung auf der Instanzenebene sich dann aber aufgrund des bei Entscheidungen der Amtsgerichte vorrangig interessanten Rechtsmittels der Berufung dann in der (veröffentlichten) Revisionsrechtsprechung der Oberlandesgerichte niederschlägt, dauert es regelmäßig etwas länger als bei Verfahren, die vor den BGH gelangen. Daher ist die BGH-Rechtsprechung insoweit von nur sehr geringer Aussagekraft für die hier in Rede stehenden Fragen.

Auch sind aus Sicht der »Rechtspraxis« nicht sehr viele Mandanten, die wegen den zahlenmäßig häufigsten Delikten (Körperverletzung, Bedrohung, Nötigung (siehe Tabelle)) aus den von dem Referentenentwurf als partnerschaftsrelevant eingestuften Deliktsbereichen zu einer Geld- oder Bewährungsstrafe verurteilt werden, an einer Revision bei einem OLG interessiert. Diese Fälle sind dann zwar möglicherweise »opferfreundlich« durchaus entschieden worden, tauchen aber in keiner Datenbank auf. Entsprechendes gilt natürlich umso mehr für Fälle, die bereits auf der erstinstanzlichen Ebene des Amtsgerichts rechtskräftig entschieden wurden, etwa z.B. auch durch Strafbefehle.

Wer daher insoweit beim BGH sucht, wird dort nicht unbedingt fündig. Auch insoweit sind die Begründungen des Referentenentwurfs daher zweifelhaft.

c) Rechtspraxis zeigt: Die Gerichte differenzieren weit stärker als der Referentenentwurf suggeriert

Bei einer Betrachtung der im Referentenentwurf zitierten Entscheidungen des BGH wird bereits deutlich, dass es schon vor den Reformen der letzten Jahre im Sexualstrafrecht bei der Strafzumessung eine differenziertere Rechtsprechung zur Frage der Berücksichtigung der intimen Beziehung gab als es das sprachliche Framing des Entwurfes suggeriert.

Bei derartigen Gesichtspunkten muss sich der Gesetzgeber fragen: Kann ausgeschlossen werden, das eine einer Straftat vorausgegangene Beziehung zwischen zwei Menschen die Tat in irgendeiner Form in anderem Licht erscheinen lässt oder nicht?

Wenn das nicht ausgeschlossen werden kann, sondern die Möglichkeit besteht, dass es sich hier auch um eine Frage des Einzelfalls handeln könnte, dann ist dies ein Bereich, in dem eine Regelung per Gesetz verfehlt erscheint, da das Gesetz eine notwendigerweise allgemeine Regelung trifft. Die Betrachtung des Einzelfalls ist eher Sache der Rechtsprechung. So liegt der Fall auch bei diesen Fragen. Eine gesetzliche Regelung einer grundlegenden Weichenstellung in eine bestimmte Richtung erscheint daher bei diesem Punkt als nicht notwendig, sondern sogar als verfehlt.

Der Gesetzgeber sollte daher von der Einführung der gruppenspezifischen Strafzumessungsgesichtspunkte Abstand nehmen.

4. Zusammenfassung

Der Referentenentwurf führt selbst aus, dass bereits die geltenden Regelungen abdecken, was er mit seiner Reform erreichen will. Ein Eingriff in den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches sollte schon von daher unterbleiben.

Die Diskussion über sog. »Identitätspolitik«, über deren Sinn und Zweck und auch ihre Gefahren, ist selbst im progressiven Gesellschaftsbereich noch völlig offen. Es ist daher zu früh, ein auf diesem Ansatz beruhendes Modell in den Allgemeinen Teil des Strafrechts einzufügen. Die gesellschaftliche Diskussion sollte noch abgewartet werden, da es immerhin um die Frage geht, wie sich der „strafende Staat“ jenseits akuter politischer Bedürfnisse gegenüber seinen Bürgern positioniert. Strafrecht sollte generell nur gesellschaftlich allgemein als besonderes Unrecht anzusehende Gegebenheiten sanktionieren, auch mit Blick auf das »ultima ratio«-Prinzip. Die Integration noch offener Entwicklungen sollte dagegen zunächst der Rechtsprechung überlassen werden.

Der Anknüpfungspunkt »menschenverachtend« in § 46 des Strafgesetzbuches (StGB) für die Strafzumessung im Einzelfall erscheint als das bessere Signal an die Gesellschaft: Wir sind – unteilbar – alle Menschen; Diskriminierungsfreiheit als Menschenrecht statt als gruppenspezifisches Merkmal.

Der Referentenentwurf beruft sich auf verzerrungsanfällige Statistiken und stellt sogar diese noch verzerrend dar. So sollten keine Änderungen im Strafrecht begründet sein.

Der Referentenentwurf begründet die Notwendigkeit der Reform unter Bezugnahme auf veraltete Rechtsprechung. Es sind in den letzten Jahren verschiedene Reformen ergangen. Die von diesen ausgehenden Änderungen konnte die in dem Referentenentwurf genannte Rechtsprechung daher noch gar nicht berücksichtigen.

§ 64 StGB – Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Die Stellungnahme zu § 64 StGB wurde gemeinsam mit dem RAV – Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein verfasst und wurde von diesem wortgleich eingereicht.

Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz des Kabinetts Merkel IV hatte im Oktober 2020 eine gemeinsame Bund-Länder Arbeitsgruppe von Justiz- und Gesundheitsministerkonferenz mit dem Ziel eingerichtet, einen Vorschlag zur Novellierung des Rechts der Unterbringung gemäß § 64 StGB zu erarbeiten. Da die Vorschläge jener AG sehr weitgehend in dem nun vorliegenden RefE aufgegangen sind, beziehen sich die folgenden Punkte darauf:

1.

Die AG hat zunächst festgestellt, dass ein dringender Reformbedarf vor dem Hintergrund steigender Unterbringungszahlen, einer Kapazitätsüberlastung der forensischen Kliniken und einer »geänderten Struktur der untergebrachten Personen« bestehe. Dass die Unterbringungseinrichtungen in den forensischen Psychiatrien in allen Bundesländern sowohl quantitativ als auch qualitativ an ihren Belastungsgrenzen arbeiten (und nicht selten darüber hinaus), kann nicht bestritten werden: Das geht u.a. auf eine Verdoppelung der Zahl der gegenwärtig untergebrachten Personen seit dem Jahr 2002 zurück und wird von erheblichen Teilen der forensischen Psychiatrie seit Jahren mit einer Vehemenz beklagt, die als Hilferuf an die Politik verstanden werden muss.[49]

Dieser »Hilferuf«  zeigt sich eindrucksvoll nicht nur an zahlreichen Aufsätzen in Fachzeitschriften und Vorträgen von Seiten der forensische Psychiatrie und Psychologie.[50] Darüber hinaus wird die Kapazitätsproblematik in Standardwerken der forensisch-psychiatrischen Fachliteratur auch im Hinblick auf die rechtlichen und medizinischen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 64 StGB ausführlich dargestellt.[51]

Teilweise scheinen sich diese Ausführungen als Aufforderung an psychiatrische Sachverständige darzustellen, das Bedürfnis nach einer Schonung der Kapazitäten bei der Gutachtenerstattung im Strafprozess zu berücksichtigen. Das Thema wird in letzterem Zusammenhang aus politischen bzw. fiskalischen Erwägungen erkennbar und bewusst an falscher Stelle platziert. Denn Kapazitätserwägungen dürfen bei der gutachterlichen Beurteilung des Vorliegens eines Hanges durch psychiatrische und/oder psychologische Sachverständige selbstverständlich keine Rolle spielen. Individuelle Beschuldigte in dem durch Sachverständige und Gerichte zu beurteilenden Einzelfall sind nicht weniger behandlungsbedürftig, nur, weil die zuständige Maßregelvollzugsanstalt aktuell ausgelastet ist.

Dies gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erst recht für die Entscheidung über die Unterbringungsanordnung durch die Strafgerichte.  Eine Unterbringung ist danach auch dann anzuordnen, wenn es an einer Unterbringungseinrichtung (bzw. an entsprechenden Kapazitäten) im Zuständigkeitsbereich fehlt (BGHSt 28, 327), da es Aufgabe der Vollzugsbehörden der Länder ist, die Kapazitäten im Maßregelvollzug dem Bedarf anzupassen (BGHSt 36, 199).

Als Konsequenz dieser Fehlverortung der Kapazitätsproblematik ist in der Praxis der Strafverteidigung vermehrt zu beklagen, dass Sachverständige persönliche bzw. politische Überzeugungen zur Frage, wie mit der Kapazitätsproblematik umzugehen ist, in ihr Votum zum Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen – mal mehr mal weniger verdeckt – mit einfließen lassen. In kaum einem forensischen Bereich kommt der Auswahl der Person der Sachverständigen eine solch entscheidende Rolle zu, wie bei der Begutachtung zur Frage der Voraussetzungen des § 64 StGB: Wie sehr Einstellungsfragen (etwa wenn sie selbst eine Entziehungsanstalt leiten) bei deren Votum von Bedeutung sind, zeigt sich auch daran, dass bei keiner anderen Sachmaterie die Strafgerichte die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auch entgegen dem Votum der von Gericht oder Staatsanwaltschaft beauftragten psychiatrischen Sachverständigen anordnen, die doch eigentlich ihrer überlegenen Sachkunde wegen beauftragt wurden.

Wenngleich eine Diskussion über die Frage eines Reformbedarfs der Maßregel nach § 64 StGB legitim ist, ist der vorliegende Reformvorschlag im Lichte der vorskizzierten Reaktionen von Teilen der Psychiatrie zu sehen. Er zielt darauf ab, das Problem auf die denkbar einfachste und billigste Weise zu lösen: Weniger Feststellungen von Behandlungsbedarf = weniger Auslastung! Aus der Lektüre des Berichts der Bund-Länder Arbeitsgruppe ergibt sich, dass das Gremium ohne Zweifel durch diejenigen forensisch Tätigen aus Psychiatrie, Psychologie und Justiz besetzt gewesen sein muss, die eine Lösung der (unbestreitbaren) Kapazitätsproblematik ausschließlich durch Restriktionen an dem Institut der Unterbringung nach § 64 StGB suchen. Dies ist bedauerlich, da die Unterbringung nach § 64 StGB zumindest dem Anspruch nach wie kaum eine andere strafrechtliche Reaktion auf Kriminalität den Prinzipien des  s o z i a l e n  Rechtsstaats (Art. 28 Abs. 1 iVm 20 Abs. 3 GG) verpflichtet ist.

Die erarbeitete Gesetzesreform sieht Restriktionen an jeder dogmatisch denkbaren Stellschraube vor: Verengung des Hangbegriffs, gesteigerte Anforderungen an den symptomatischen Zusammenhang, erhöhte Voraussetzungen an die Feststellung der Erfolgsaussicht; zusätzlich soll unter Anpassung der Dauer des Vorwegvollzugs die Möglichkeit der Begleitstrafaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt nach § 67 Abs. 5 S. 1 StGB entfallen. Dazu im Einzelnen:

2. Zum Hangbegriff

Die vorgeschlagene Legaldefinition des Hangbegriffs, vor allem aber der diesen begleitenden Auslegungsvorschlag im Begründungsteil der Arbeitsgruppe, verengt das Leitbild behandlungsbedürftiger Drogensüchtiger auf das Literaturbeispiel der Kinder vom Bahnhof Zoo.[52]

Nach der vorgeschlagenen Legaldefinition soll die Annahme eines Hangs künftig (zumindest) »eine Substanzkonsumstörung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert« voraussetzen. Ausweislich der Entwurfsbegründung solle durch die Legaldefinition der Hangbegriff – ein eigenständiger unbestimmter Rechtsbegriff – an die medizinischen Begrifflichkeiten schädlicher Gebrauch (ICD-10 F.1) oder Abhängigkeitssyndrom (ICD-10 F.2) angenähert werden. Indes sollen nach der Legaldefinition und ihrer Begründung (»schwerwiegende Beeinträchtigung«) nicht einmal mehr alle Fälle des – ohne Zweifel pathologischen – schädlichen Gebrauchs erfasst sein, sondern nur noch derjenige Missbrauch, »der nach ICD-10 als eine schwere Form des schädlichen Gebrauchs einzustufen ist.«

Dadurch würden Täter*innen aus dem Anwendungsbereich des § 64 StGB herausgenommen, bei denen evident ein Behandlungsbedarf besteht. Durch diesen Vorschlag werden jedoch Erkenntnisse aus neueren Studien aus dem Bereich der Suchttherapie verkannt, wonach die bisherige dichotome Differenzierung zwischen Abhängigkeit und Missbrauch im Sinne standardisierter Diagnostik künstlich ist, da es sich bei Missbrauch und Abhängigkeit um ein eindimensionales Kontinuum handeln dürfte.[53] Die entsprechende Differenzierung wurde vor diesem Hintergrund seit 2013 in der Neufassung des Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) aufgegeben. Nun wird zwar auch derzeit nicht bei jedem schädlichen Gebrauch im Sinne des ICD-10 oder einem jeden einfachen Missbrauch im Sinne des DSM-5 ein Hang angenommen. Es erscheint indes nicht angezeigt, die Unterbringung allein von der Schwere der Substanzgebrauchsstörung abhängig zu machen.

Vielmehr kommt es – mit der ständigen Rechtsprechung des BGH – darauf an, ob eine soziale Gefährdung festzustellen ist. Denn ob eine solche vorliegt, dürfte entscheidend dafür sein, ob der bestehende Substanzmissbrauch – ob er nun medizinisch eine Abhängigkeit oder einen wie auch immer gearteten schädlichen Gebrauch darstellt – die Behandlung im Maßregelvollzug erfordert oder nicht.

Was im Übrigen die Arbeitsgruppe ausweislich der Entwurfsbegründung verkannt hat ist, dass ein Gericht, beraten durch psychiatrische Sachverständige, zu prüfen hat, ob anstelle einer Unterbringung eine ambulante Therapie als Bewährungsweisung und/oder eine Aussetzung der Unterbringung im Maßregelvollzug zur Bewährung in Betracht kommt. Es wird bei weitem nicht in einem jeden Fall, in dem ein Hang im Sinne des § 64 StGB festzustellen ist, auch die Unterbringung angeordnet, sondern auf mildere Mittel wie die vorgenannten ausgewichen. Daneben greift § 35 BtMG je nach lokaler Anwendungspraxis Raum.

3. Zum symptomatischen Zusammenhang

Während nach derzeitiger Rechtslage der symptomatische Zusammenhang bereits dann anzunehmen ist, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass Angeklagte die rechtswidrige Tat begangen haben, so soll § 64 StGB nun dahingehend geändert werden, dass eine Unterbringung nur noch in Betracht kommt, wenn festzustellen ist, dass die Tat überwiegend auf den Hang zurückgeht. Hierdurch soll einem – angeblich festzustellenden – »deutlichen Wandel in der Struktur der Klientel« begegnet werden.

Dass eine solche Veränderung in der Klientel der Untergebrachten überhaupt stattgefunden hat, wird in dem Bericht allenfalls dahingehend begründet, als auf eine Veränderung der Delikte, die zur Unterbringung geführt haben, sowie darauf verwiesen wird, dass sich der Anteil der voll Schuldfähigen seit 1995 verdreifacht habe. Ansonsten werden zum Beleg dieser These lediglich Erfahrungsberichte angeführt von »dominant auftretenden Patienten, die außerhalb der Klinik einen Rückhalt im kriminellen Milieu hätten«, und die die Unterbringung vorrangig als Mittel zur Milderung ihrer hohen Begleitstrafe ansähen, und »durch deren Anwesenheit« sich das Behandlungsklima in den Vollzugsanstalten verschlechtere.

Zum »Beleg« dieser Erkenntnis werden Fachaufsätze aus der Praxis zitiert, die sich seit Jahren mit Vehemenz für Restriktionen bei der Maßregel des § 64 StGB stark machen.[54] Besonders im Blick hat die Arbeitsgruppe »Angeklagte, die aufgrund allgemeiner charakterlicher Mängel die verfestigte kriminelle Neigung aufweisen, Lebensbedürfnisse durch Straftaten zu bestreiten, Angeklagte mit dissozialer Charakterstruktur und – selbstverständlich – Großdrogendealer mit entsprechend hoher Begleitstrafe.«

Ungeachtet dessen, dass die Arbeitsgruppe schematisch von der wissenschaftlich nicht belegten These von der Existenz bestimmter Tätergruppen (»Klientel«) ausgeht, steht der konkrete Vorschlag im Widerspruch zu den Erkenntnissen der forensischen Psychiatrie zur Frage des symptomatischen Zusammenhangs. Denn insoweit ist anerkannt, dass die Abgrenzung »süchtige Kriminelle vs. kriminelle Süchtige« Schwierigkeiten birgt, ja mitunter unmöglich ist.[55] Denn, wie gleichermaßen in den Justizvollzugsanstalten, weisen im Maßregelvollzug Untergebrachte vielschichtige biografische Belastungen auf: Fehlende Schul- oder Berufsausbildung, lange Phasen der Arbeitslosigkeit und vor allem ein strafrechtliches Vorleben. Jedenfalls eine – durch die vorgenannten Lebensbedingungen ggf. erworbene – dissoziale Persönlichkeitsakzentuierung dürfte vor diesem Hintergrund bei dem Gros der Untergebrachten vorliegen. Eine begleitende Persönlichkeitsstörung wird bei jeder vierten nach § 64 StGB untergebrachten Person diagnostiziert.[56]

Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass Sucht zumeist nicht alleinige Ursache der Delinquenz ist, sondern naturgemäß auf ein Bündel von Ursachen zurückgeht. Auch bei sog. »Großdrogendealern« sprechen keine Erkenntnisse dafür, dass die Sucht grundsätzlich minder ausgeprägt oder weniger behandlungsbedürftig wäre. Sofern diese tatsächlich eine untergeordnete Rolle bei der Tat spielte, wäre die Maßregel im Übrigen bereits nach heutiger Rechtslage nicht anzuordnen (vgl. nur BGH, Beschl. v. 08.12.2019 – 2 StR 331/19).

4. Zu den Erfolgsaussichten

Ebenso bedarf die Anordnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB bereits heute der Feststellung des Bestehens einer »hinreichend konkreten Aussicht«, dass die betroffene Person von ihrer Sucht zu heilen oder für eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren ist.

Auch hier soll nach dem Willen der Arbeitsgruppe eine restriktivere Anordnungspraxis Platz greifen: Künftig soll der Therapieerfolg »aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten« sein. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung der Grundlagen für die Anordnung und Durchführung der Maßregel die tatsächlichen Begebenheiten zu berücksichtigen, namentlich »die Begrenztheit staatlicher Mittel.« Es gebe kein verfassungsrechtliches Gebot, das den Gesetzgeber dazu veranlassen würde, die Maßregel auch in Fällen zweifelhafter Erfolgsaussicht zur Verfügung zu stellen.

Der Vorschlag verkennt, dass nach sämtlicher – selbst maßregelkritischer Literatur – schon die Erfolgsmessung staatlicher Unterbringung erhebliche Schwierigkeiten bereitet, mit der Konsequenz, dass allgemeingültige prognostische Erfolgskriterien erst recht kaum generalisierend zu benennen sind. Im Übrigen verkennt die Begründung des Reformvorschlags insgesamt – nicht nur hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Erfolgsaussicht – dass alle Anordnungsvoraussetzungen nach aktueller Rechtslage letztlich durch das Gericht zu belegen sind; keinesfalls greift der in dubio-Grundsatz (vgl. nur BGH, Beschl. v. 01.06.2021 – 6 StR 113/21).

Auch dieser Umstand birgt im Übrigen bereits jetzt die Gefahr, dass Fehleinweisungen in den Strafvollzug trotz bestehendem Behandlungsbedarf im Sinne der Maßregel erfolgen. Der Reformvorschlag würde falsche Nicht-Anordnungen noch vervielfachen. Es ist im Übrigen widersprüchlich, strengere Anforderungen an die Annahme eines Hanges zu fordern, gleichzeitig aber die Anforderungen an die Erfolgsaussicht zu erhöhen, denn eine höhergradige Abhängigkeit korrespondiert nicht selten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass die Therapiebemühungen ohne Erfolg bleiben.

5. Zur Begleitstrafenaussetzung und zum Vorwegvollzug

Nachdem die Arbeitsgruppe von einem »Missbrauch der Entziehungsanstalten« durch Schwerkriminelle – und die Praxis der Strafverteidigung – ausgeht, stellt sich die Abschaffung der erweiterten Möglichkeit der Aussetzung der Begleitstrafe zum Halbstrafenzeitpunkt als das gravierendste Reformvorhaben dar. So soll nach § 67 Abs. 5 StGB eine Aussetzung der Reststrafe zum Zweidrittelzeitpunkt künftig die Regel sein.

Zwar sieht der Reformvorschlag ergänzend vor, dass unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB unter den dort genannten Voraussetzungen ausnahmsweise auch eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt in Betracht kommt. Diese Angleichung an die allgemeine Regelung des § 57 StGB läuft aber in all jenen Konstellationen ins Leere, in denen vor der Strafe ein Vorwegvollzug erfolgt (was in Anbetracht immer höherer Strafen in BtMG-Verfahren zur Regel geworden ist). Denn der Reformvorschlag sieht weiter vor, dass sich die Dauer bzw. die Berechnung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 StGB künftig am Zweidrittel-Zeitpunkt orientieren soll.

Damit wäre die Therapie bei allen Untergebrachten, bei denen zuvor Vorwegvollzug erfolgt ist, in aller Regel frühestens zum Zweidrittel-Zeitpunkt abgeschlossen. Fälle eines außerordentlich zügigen Therapieverlaufs mit der Folge, dass eine Erledigung des Maßregelvollzugs früher erfolgen kann, sind reine Fiktion. Denn in der Begründung des Vorschlags wird freimütig festgestellt, dass selbst nach aktuellem Recht Therapien trotz der Berechnung des Vorwegvollzugs anhand der Möglichkeit der Aussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt überwiegend weit über diesen Zeitraum hinaus andauern. So ergaben Auswertungen für sechs Bundesländer für das Jahr 2020, dass nur 18,4 Prozent der Maßregeln auch nur nahe des Halbstrafenzeitpunkts beendet wurden, 21,3 Prozent nahe dem Zweidrittelzeitpunkt und 60,3 Prozent gar nach dem Zweidrittelzeitpunkt. Vor diesem Hintergrund ist überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die Arbeitsgruppe gleichwohl davon ausgeht, dass das falsche Klientel die Entziehungsanstalten für die Erlangung der Halbstrafenmöglichkeit missbrauchen würde; diese Hypothese geht ausschließlich auf vermeintliches Erfahrungswissen zurück.

Selbst wenn man jedoch dieses einmal unterstellt, ist nicht im Ansatz nachzuvollziehen, weswegen es sich bei Möglichkeit der Erlangung einer Begleitstrafenaussetzung ab dem Halbstrafenzeitpunkt um einen sachwidrigen Anreiz für Angeklagte handeln sollte. Denn soweit die Fachliteratur von dem Bestehen eines solchen – nach vorgenannten Statistiken ohnehin irrig angenommenen – Anreizes ausgeht, so wird dieser von einer beachtlichen Ansicht als für die Therapiemotivation förderlich, teils sogar notwendig beschrieben.[57]

Der Vorschlag der Arbeitsgruppe ist bereits deswegen systemwidrig, da eine Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 StGB im Grundsatz für alle Angeklagten in Betracht kommt. Durch den Reformvorschlag würden diejenigen Untergebrachten, die Vorwegvollzug zu vergegenwärtigen haben, gegenüber gewöhnlichen Strafgefangenen rechtlich sogar benachteiligt.

6. Alternativen?

Wessen Geistes Kind die Mitglieder der Arbeitsgruppe bzw. die von dieser angehörten Sachverständigen gewesen sein mögen, zeigt sich eindrucksvoll auf S. 35 des Berichts. Dort heißt es unter der Kapitelüberschrift »Alternativen« zu dem Reformvorschlag schlicht: »Keine«. Das ist absurd, denn solche bestehen offensichtlich, wären zumindest zu diskutieren gewesen, wozu es aber offenbar an der nötigen Bereitschaft fehlte.

Zum einen verspricht sich die Arbeitsgruppe bei der Anpassung des Vorwegvollzugs an den Zweidrittelzeitpunkt vor allem Kapazitätserleichterungen dadurch, dass bei positiven Behandlungsverläufen nach kürzerer Therapiedauer Entlassungen erfolgen könnten, da der Halbstrafenzeitpunkt bereits überschritten ist. Diese Erwägung einmal zugrunde gelegt, wäre der Arbeitsgruppe zuzustimmen, dass – bei entsprechendem Therapieerfolg – Entlassungen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu begrüßen sind. Dafür käme jedoch ebenso gut eine Reform des Gesetzes dahingehend in Betracht, dass für diese Ausnahmefälle eine Begleitstrafenaussetzung unabhängig von dem Erreichen des Halbstrafenzeitpunkts, also auch vor diesem Zeitpunkt, ermöglicht wird. Denn diese Erwägung ist ohnehin nur für Untergebrachte relevant, die Vorwegvollzug zu vergegenwärtigen haben: Wenn sie im Ausnahmefall wenige Monate vor dem Halbstrafenzeitpunkt entlassen würden, erfolgte dies keineswegs in unerträglicher Weise zu Lasten des staatlichen Strafanspruchs.

Will man mit dem Reformvorschlag davon ausgehen, dass Entziehungsanstalten durch »süchtige Kriminelle«missbraucht würden, und dies vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt, so könnte dem übrigens auch dadurch begegnet werden, dass die Länder in ihrer Strafvollzugs- und -vollstreckungspraxis den Strafgefangenen die Halbstrafenaussetzung unter wortlautensprechender Gesetzesauslegung regelmäßiger zugutekommen lassen.

7. Fazit

Dem Reformvorschlag und seiner Begründung immanent ist der Gedanke der Fehleinweisung Angeklagter in die Entziehungsanstalten – und zwar nicht, weil es sich hierbei um eine belastende Maßnahme handeln könnte, sondern allein wegen der damit verbundenen Kosten für die Justiz- und Gesundheitsressorts.

Was in diesem Zusammenhang jedoch völlig übersehen wurde, ist die Gegenfrage: Wie viele Fehleinweisungen behandlungsbedürftiger Verurteilter in den Strafvollzug, bei denen die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 64 StGB vorgelegen hätten, sind zu besorgen? Und vor allem: Wie viele Fehleinweisungen »krimineller Süchtiger« wären zu besorgen, wenn der Reformentwurf umgesetzt würde? Der Reformvorschlag übersieht die Realität, nämlich, dass nach wissenschaftlichen Schätzungen jährlich 30.000 bis 40.000 suchtkranke Strafgefangene in deutschen Justizvollzugsanstalten einsitzen, also ohne Anordnung einer Maßregel gem. § 64 StGB.[58] Danach stehen jeder im Maßregelvollzug nach § 64 StGB untergebrachten Person 10 entsprechende Verurteilte im Strafvollzug gegenüber. Dass mindestens ebenso häufig Fehleinweisungen in die andere Richtung erfolgen, und damit sowohl zulasten des Resozialisierungs- als auch des Sicherungsbedürfnisses, ergibt sich zwanglos aus diesen Zahlen.

Der Bund-Länder-AG ist vorzuhalten, vor den eklatanten Versorgungsproblemen der Justizvollzugsanstalten in puncto Drogenberatung und -therapie sowie Betreuung Gefangener mit Suchtproblemen die Augen zu verschließen.

[1] Aktuelle Zahlen darüber, wieviele Personen jährlich eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten, liegen nicht vor. 2002 wurde die Zahl im 2. Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung mit 56.000 Haftantritten angegeben; vgl. Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, Band 2, Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz, Berlin 2006, S. 620. Stichtagserhebungen beziffern den Bestand von Ersatzfreiheitsstraflern am 31. März in verschiedenen Jahren bei etwa 4.000 bis 4.400 Personen, was einem Anteil von 10 – 13 Prozent zum Stichtag entspricht. Da die vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen i.d.R. kurze Freiheitsentziehungen sind, kann von einer Gesamtantrittszahl von etwa 50.000 ausgegangen werden, was den Angaben der Bundesregierung für 2002 in etwa entspricht.

 

[2]   vgl. bspw. Bremer Erklärung – rechtspolitische Forderungen des 41. Strafverteidigertages, Bremen 2017; Ergebnisse d. 36. Strafverteidigertages, Hannover 2012 (AG 1); Guthke/Kitlikoglu: Entkriminalisiert die Armen, in: Freispruch, Heft 8, Frühjahr 2016; dies.: Die Ersatzfreiheitsstrafe muss weg!, in: Freispruch, Heft 6, Februar 2015; Jasch: Bestrafen der Armen, kontrollieren der Armen?; Schriftenreihe d. Strafverteidigervereinigungen, Bd. 36, 2013

 

[3]   vgl. bspw. Radtke, ZRP 2/2018, 58

 

[4]   … und stellt darüber hinaus sogar denjenigen, der aufgrund einer positiven Sozialprognose gerade nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, demjenigen, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt vorzeitig entlassen wird, schlechter.

 

[5] »(G)rundsätzlich härtere Behandlung auch des unverschuldet zahlungsunfähigen Verurteilten«, BGH – 3 StR 393/76.

 

[6]   642 Js 21359/16, 642 Js 51590/16, 642 Js 72052/16, 654 Js 59569/16

 

[7] Seit dem Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 aber bei vorhandener Verteidigung auch zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr (§ 407 Abs. 2 StPO).

 

[8]   Noch relativierend: BVerfG, U. v. 18.12.1953 – 1 BvR 230/51 -, BVerfGE 3, 248 (253 f.).

 

[9]   Für die Hauptverhandlung im Strafbefehlsverfahren besteht zusätzlich die Besonderheit, dass auch der unverteidigte Angeklagte abweichend von der Regelung in § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO auf die Vernehmung von Zeugen verzichten kann (§ 411 Abs. 2 i.V.m. § 420 StPO) – vgl. Vgl. Meyer-Goßner, § 420 Rn. 4.

 

[10] Begründung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege von 1993, BT-Drs. 12/1217, S. 42.

 

[11] BVerfGE 40, 95 = NJW 1975, 1597; LG Aachen NStZ 1984, 283; vgl. Nr. 181 Abs. 2 RiStBV

 

[12] EuGH NJW 2018, 142 – Laut EuGH sind Strafbefehle zu übersetzen, weil sie eine »wesentliche Unterlage« darstellen (vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-azc27816-strafbefehl-uebersetzung-verteidigungsrechte-faires-verfahren/ ). In LTO  wird dies wie folgt wiedergegeben (auszugsweise): »Gerichte müssen Strafbefehle in die Sprache des Adressaten übersetzen lassen, wenn der Betroffene der Sprache der ausstellenden Behörde nicht mächtig ist. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag im Fall eines niederländischen Autofahrers entschieden (Urt. v. 12.10.2017, Az. C-278/16), den das Amtsgericht (AG) Düren wegen Unfallflucht zu einer Geldstrafe verurteilt hatte. Der Strafbefehl war in deutscher Sprache abgefasst. Nur die Rechtsbehelfsbelehrung war mit einer niederländischen Übersetzung versehen. Das Landgericht (LG) Aachen musste klären, ob der Niederländer rechtzeitig Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt hat. Die entscheidende Frage war, ob die Einspruchsfrist mit der Zustellung überhaupt zu laufen begonnen hatte, obwohl eine Übersetzung fehlte. Das LG rief den EuGH an. … Die Richter in Luxemburg urteilten nun, dass ein Strafbefehl zur Sanktionierung minder schwerer Straftaten eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne der Richtlinie darstelle und daher gleich einer Anklageschrift und eines Urteils zu behandeln sei. Werde ein Strafbefehl nur in der Sprache des jeweiligen Verfahrens an eine Person gerichtet, obwohl sie diese Sprache nicht beherrsche, so sei diese Person nicht in der Lage, die ihr gegenüber erhobenen Vorwürfe zu verstehen. Somit könne sie ihre Verteidigungsrechte nicht wirksam ausüben, wenn sie nicht eine Übersetzung des Strafbefehls in eine ihr verständliche Sprache erhalte, begründeten die Richter ihre Entscheidung.«

 

[13] vgl. LG Stuttgart NStZ-RR 2014, 216; LG Ravensburg NStZ- RR 2015, 219; Meyer-Goßner/Schmitt § 37 Rn. 31; GJTZ/Pollähne § 37 Rn. 23; KMR-StPO/Ziegler § 37 Rn. 59; Löwe-Rosenberg/Graalmann-Scheerer § 37 Rn. 14

 

[14] vgl. BGH, Beschluss vom 10.07.2014 – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) Unterrichtung 1

 

[15] Frank Wilde, Die Geldstrafe – ein unsoziales Rechtsinstitut?, MschrKrim 2015, 350

 

[16] Jana Kolsch, Sozioökonomische Ungleichheit im Strafverfahren, 2020, 279

 

[17] Ebd.

 

[18] Hans-Jörg Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berücksichtigung des Tagessatzsystems, Berlin 1980; Helmut Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, Frankfurt/M 1994

 

[19] Vgl. etwa Lobitz/Wirth: Der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen, Eine empirische Aktenanalyse, KrimD NRW, 2018, S. 11.

 

[20] Vgl. Bund-Länder-Arbeitsgruppe Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB, Abschlussbericht, S. 127 ff.

 

[21] Lobitz/Wirth, a.a.O.

 

[22] Ebd.

 

[23] Die Zahlen unterscheiden sich in den verschiedenen Bundesländern, wobei sie sich im Verhältnis im Wesentlichen gleichen. So auch Geiter, Ersatzfreiheitsstrafe: Bitterste Vollstreckung der mildesten Hauptstrafe des StGB: Erfahrungen bei Haftreduzierungsaktivitäten im Strafvollzug, in Neubacher/Kubink (Hrsg.): Kriminologie – Jugendkriminalrecht – Strafvollzug, Gedächtnisschrift für Michael Walter, Duncker & Humblot, Berlin 2014, S. 559-578; Bögelein/Graaff/Geisler, Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist,Verkürzung von Ersatzfreiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt Köln, FS 1/2021, S.59 – 64.

 

[24] Bögelein/Graaff/Geisler, a.a.O., S. 59.

 

[25] Bund-Länder-Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 137.

 

[26] Ein Vorschlag unter vielen: Burkert, Von der Gelassenheit, Ein bisschen mehr Gelassenheit im Umgang mit kleinen und Bagatelldelikten würde allen helfen: Beschuldigten, Geschädigten und der Justiz, Freispruch, Nr. 14, März 2019, S. 17-19.

 

[27] Vgl. Lobitz/Wirth, a.a.O.

 

[28] In den meisten Fällen einer Verurteilung wegen § 95 AufenthG ist die Verhängung einer Geldstrafe gerade aufgrund der drohenden Ersatzfreiheitsstrafe nicht europarechtskonform. Vgl. insoweit u.a. EuGH, Urteil v. 06. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11.

 

[29] Vgl. Lobitz/Wirth, a.a.O.

 

[30] Frank Wilde, Das Gefängnis als Armenhaus, in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 2/2017, 3

 

[31] Zit. nach Wilde, Fn. 30

 

[32] zit. nach Wilde, Fn. 28

 

[33] Bögelein/Graaff/Geisler, a.a.O., S. 59.

 

[34] Bögelein/Graaff/Geisler, a.a.O., S. 59f.

 

[35] Bögelein/Graaff/Geisler, a.a.O., S. 60.

 

[36] vgl. u.a. LG Köln, Urteil vom 7. März 2019 – 101 KLs 7/17121 Js 445/15 –, Rn. 331, juris; LG Augsburg, Beschluss vom 8. April 2019 – 1 Qs 57/19 –, Rn. 11, juris;KG Berlin, Beschluss vom 2. November 2012 – (4) 121 Ss 146/12 (265/12) –, Rn. 13, juris.

 

[37] vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. Februar 2018 – 1 BvR 1379/14 –, Rn. 10, juris.

 

[38] vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. Mai 2021 – 1 BvR 2682/17 –, Rn. 24, juris.

 

[39] Vgl. u.a.: Bögelein/Wilde/Holmgren: Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe in Schweden – Ein Vergleich mit dem deutschen System: [Fine and Imprisonment for non-payment in Sweden – A comparison with the German system], in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Vol. 105, no 2, 2022, p. 102-112;  Wilde: Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen, VerfBlog, 2022/6/29, https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ .

 

[40] vgl. Bundestagsdrucksache 19/17741, Seite 19

 

[41] Fischer, StGB, 67. Aufl., § 46 Rdnr. 26c

 

[42] Art. 3 Abs. 1 GG: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«.

 

[43] Für einen Einstieg vergleiche: https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4tspolitik; Bundeszentrale für Politische Bildung: AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE – Identitätspolitik, ApuZ 69. Jahrgang, 9–11/2019, 25. Februar 2019; für den weitgehend noch ungeklärten Sinn und Zweck dieser Politik vgl. etwa https://www.boell.de/de/identitaetspolitik-was-uns-zusammenhaelt einerseits und Bröning (Referatsleiter Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung): „Identitätspolitik hat eine dunkle Seite: Subjektivität und Ausschluss. Linke Politik sollte sich diese nicht zu eigen machen.“ https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-03/identitaetspolitik-kommunismus-arbeiterklasse-diskriminierung-emanzipation-karl-marx

 

[44] So bereits Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Strafrecht zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Hasskriminalität und des Rechtsextremismus, Stellungnahme Nr.: 6/2020 Berlin, im Januar 2020, S. 6 ff.: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/012820_Stellungnahme_DAV_RefE__Belaempfung-Rechtsextremismus-Hasskriminalitaet.pdf;jsessionid=36770FA94D39E48F503E7492A393A602.2_cid289?__blob=publicationFile&v=3

 

[45] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2021/FachlicheBroschueren/IMK Bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3 – S. 6: »Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten, einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche und der vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte, abgebildet werden und eine statistische Erfassung erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt.«

 

[46] vgl.https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2020.pdf?__blob=publicationFile&v=3 – dort S. 4.

 

[47] Beispiele: Bei Mord und Totschlag stehen 3.058 Opfer insgesamt gegenüber 460 Opfern in Partnerschaften (= 85% außerhalb von Partnerschaften). Bei gefährlicher Körperverletzung stehen 158.588 Opfer insgesamt gegenüber 18.019 Opfern in Partnerschaften (= 88,7% außerhalb von Partnerschaften), sogar bei den medial als besonders partnerschaftsbezogenen Deliktsbereichen „Vergewaltigung, sex. Nötigung, sex. Übergriffe“ (16.216 insgesamt/ 3.389 insgesamt in Partnerschaften / = 79,2 % außerhalb von Partnerschaften) sowie „Bedrohung, Stalking, Nötigung“ (224.898 insgesamt / 33.022 insgesamt in Partnerschaften / =  85,4 % außerhalb von Partnerschaften) liegt die weit überwiegende Mehrzahl der Opfer sogar nach dieser Statistik in dem Bereich außerhalb von Partnerschaften.

 

[48] vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/nachrichten/2022/pmk2021-factsheets.pdf?__blob=publicationFile&v=1 – dort S. 3 am Ende.

 

[49] s. nur: Krankenhaus des Maßregelvollzugs: Therapiezugang reformbedürftig, Maybaum, Ärzteblatt 9/2019, S. 410

 

[50] s. auch Kollmeyer, Maßregelvollzug am Limit – § 64 StGB – Wann und wie lang?, abrufbar unter https://www.lwl.org/massregelvollzug-download/Abt62/Service/Dokumentationen/OLG-Tagung2013/2013-09-26_Kollmeyer,_Reinhard_OLG-Hamm_Para_64_StGB_Wann_und_wie_lang.pdf, zuletzt abgerufen am 24.08.2022

 

[51] vgl. nur Seifert in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung – Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, hrsg. von Dreßing & Habermeyer, Kap. 28.1, Einleitung zur Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB, 7. Auflage 2021

 

[52] Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo; nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben von Kai Hermann und Horst Rieck, 1978

 

[53] Rumpf & Kiefer, DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte, 2011

 

[54] Schalast FPPK 2021, 179 und NStZ 2017, 433; Walther JR 2020, 296, 306; Müller FPPK 2019, 262, 299

 

[55] Seifert a.a.O. S. 435

 

[56] Seifert a.a.O. S. 440

 

[57] BT-Drs. 16/1110 S. 16; LK-Schöch, StGB, 12. Auflage, § 67 Rn. 97; Kett-Straub NStZ 2020, 474, 477

 

[58] Seifert a.a.O. S. 447