»Größere Ausbruchsgeschehen in den Vollzugsanstalten konnten bisher verhindert werden.«(1)
Der Titel »Corona hinter Gittern« weckt ad hoc diverse mehr oder weniger ›freie‹ Assoziationen:
(a) Dieses Corona gehört (endlich) hinter Gitter!
(b) Manche meinen, Corona Leugner*innen gehörten auch hinter Gitter, aber das wäre ein ganz anderes Thema.(2)
(c) Corona kennt keine Gitter!
(d) Quarantäne (und sei es nur eine solche in den eigenen vier Wänden) bzw. Ausgangssperren lösen ein neues Nachdenken über Gefangenschaft aus,(3) wobei das Gerede vom »Wohnungsgefängnis« allerdings nicht frei von Peinlichkeit resp. Zynismus ist.(4)
Die tatsächliche Lage erscheint mindestens zwiespältig: einerseits scheinen (genaue Zahlen liegen allerdings nicht vor) die intramuralen Infektionsraten – jedenfalls bisher – niedriger als außerhalb der Mauern.(5) Aber es wäre natürlich absurd deshalb anzunehmen, dort (also hinter Gittern) sei man in puncto Infektionsschutz besser aufgehoben,(6) denn andererseits dürften Gefangene, wenn Corona im Knast erst einmal ›Einzug‹ erhalten hat, dort erhöhten Gefahren ausgesetzt sein:(7) Wäre es auch absurd deshalb anzunehmen, dem Shutdown oder Lockdown außerhalb der Mauern müsste ein Open-Up bzw. Lockout für Gefangene entsprechen?(8)
Mein Lieblingszitat in diesem Zusammenhang stammt – in seiner Doppeldeutigkeit sicherlich unbeabsichtigt – von Susanne Gerlach, Leiterin der Abteilung Justizvollzug und Strafrecht in der Berliner Senatsverwaltung für Justiz (s.o.): »Größere Ausbruchsgeschehen in den Vollzugsanstalten konnten bisher verhindert werden.« Die Realität im strafjustiziellen Shutdown läuft derzeit jedenfalls auf einen zusätzlichen – quasi doppelten – innervollzuglichen Lockdown hinaus. Worum also soll es gehen im Folgenden?
Im ersten Teil um die Vollstreckung ›in den Zeiten der Corona‹, also
- – wie lässt sich die Vollstreckung ›hinter Gittern‹ vermeiden?
- – wie steht es um Ansprüche auf Vollstreckungsunterbrechung?
- – wie lassen sich Verzögerungen bei der Entlassung vermeiden?
- – was hält das Vollstreckungsverfahrensrecht?
In einem zweiten Teil (wobei sich beide Abschnitte nicht trennscharf abgrenzen lassen) geht es um den Vollzug, also
- – um den Umgang mit Corona – genauer: mit dem Infektionsschutz – hinter Gittern einerseits und
- – um das Spannungsverhältnis zwischen Infektionsschutz und Vollzugsrecht, genauer: Gefangenenrechten andererseits.
teil I:
vollstreckung in den zeiten der corona
Im Vordergrund steht hier zunächst das allgemeine Strafvollstreckungsrecht, mit dem Schwerpunkt auf Freiheitsstrafen; für Jugendstrafen und -arreste gilt Entsprechendes.(9) Im Rahmen des § 463 StPO gilt all das aber auch für die Maßregelvollstreckung weitgehend sinngemäß.(10)
1. geldstrafenvollstreckung
Vorab jedoch kurz zur Vollstreckung von Geldstrafen – nicht zuletzt weil diese im Wege der Ersatzfreiheitsbestrafung zu schlechter Letzt auch ›hinter Gitter‹ führen können. Hier wird in den Zeiten der Corona ein Problem besonders deutlich, dass es selbstverständlich auch vorher schon gab: Ist die Verurteilung zu einer Geldstrafe (oft per Strafbefehl) erst einmal rechtskräftig, kann an deren Höhe nicht mehr gerüttelt werden. Das gilt für die Anzahl der Tagessätze selbstverständlich, versteht sich für die Höhe der Tagessätze aber keineswegs von selbst:
Die »persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse« des Betroffenen, wie das in § 40 Abs. 2 S. 1 StGB heißt, also insb. die »Nettoeinkommen« (auf die S. 2 abstellt), können sich selbstverständlich ändern. Einmal gerichtlich »bestimmt‹ (S. 1), erwächst nach geltendem Recht aber auch die Höhe des Tagessatzes in Rechtskraft und kann vollstreckungsrechtlich nicht mehr korrigiert werden. Dort sind lediglich noch nachträgliche Entscheidungen zu Zahlungserleichterungen möglich (§ 459a StPO iVm § 42 StGB).(11) Alles andere ist – de lege lata – allenfalls eine Frage des Gnadenrechts.
De lege ferenda wäre vielleicht gerade die derzeitige Krise, die ja für immer mehr Menschen auch eine Krise der »persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse« ist,(12) der willkommene Anlass für gesetzliche Änderungen mit dem Ziel, eine Veränderung jener Verhältnisse zur Grundlage für eine nachträgliche – ggf. gerichtliche – Anpassung der Tagessatzhöhe zu machen.(13)
Apropos Zahlungserleichterungen: Mit den Vollstreckungsmöglichkeiten der §§ 459 ff. StPO sollte – erst recht in diesen Zeiten – großzügig umgegangen werden. Sie sind nicht nur nachträglich möglich (§ 459a StPO), sie können auch »erneut« bewilligt werden (Abs. 3 S. 2). Von der Stundung (Bewilligung einer Zahlungsfrist: § 42 S. 1 Alt. 1 StGB) wird zu selten Gebrauch gemacht,(14) zumal sie eine nachträgliche Ratenzahlung auszuschließen scheint, was dem Gesetz so aber nicht zu entnehmen ist.(15)
Die Ersatzfreiheitsstrafe ist ohnehin ein sozial- und rechtsstaatliches Ärgernis ersten Ranges und gehört endlich abgeschafft!(16) Sie zumindest vollstreckungsrechtlich zu vermeiden (§§ 459d ff. StPO), sollte oberste vollstreckungsbehördliche Pflicht sein.(17) Abgesehen davon wäre deren Vollstreckung in Corona-Zeiten völlig unverhältnismäßig – das hatten im Frühjahr 2020 auch die Vollstreckungsbehörden erkannt und auf entsprechende Ladungen verzichtet bzw. bereits erfolgte Ladungen nicht mehr zwangsweise durchgesetzt(18) – um dann während des Sommers darauf zurückzukommen. Jetzt liegt die freiheitsentziehende Geldstrafenvollstreckung wieder auf Eis, aber weiterhin gilt: nicht aufgehoben, nur aufgeschoben!(19)
Übrigens gerät in Zeiten einer Pandemie auch das Konzept des Art. 293 EGStGB »Schwitzen statt Sitzen« (was auch immer man sonst davon halten mag)(20) ins Stocken, weil es nicht mehr genügend Einsatzstellen gibt. Die sog. Geldverwaltungsprojekte sind davon nicht betroffen und verdienen mehr Beachtung.(21)
2. haftvermeidung
Die Vollstreckungsbehörden (also außerhalb des JGG die Staatsanwaltschaften, dort die Rechtspfleger*innen) sollen – so § 2 Abs. 1 der StVollstrO unmissverständlich – »im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege … die richterliche Entscheidung mit Nachdruck und Beschleunigung vollstrecken«. Das schafft gleichwohl Handlungsspielräume, nicht zuletzt »im Interesse einer … Strafrechtspflege«, die »wirksam« bleiben soll: Alles diesseits der Vollstreckungsvereitelung im Amt (§ 258a Abs. 1 Alt. 2 StGB) ist bei Auslegung der Vorgaben »Nachdruck und Beschleunigung« möglich und geboten. M.a.W.: Es bleibt der Vollstreckungsbehörde unbenommen, zuzuwarten um die Wirksamkeit der Strafrechtspflege ›hinter Gittern‹ nicht zu gefährden.(22)
Dabei hat die Vollstreckungsbehörde ohnehin von Amts wegen insb. zu prüfen, »ob die Voraussetzungen der Vollstreckung gegeben sind« (§ 3 Abs. 1 S. 1 StVollstrO). Dazu gehören nicht nur die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (also etwa Rechtskraft etc.), sondern gerade auch besondere Gründe, die allgemein oder im Einzelfall der »nachdrücklichen und beschleunigten« Vollstreckung entgegenstehen:
Das sind vor allem die Aufschub-Gründe gem. §§ 455 ff. StPO, also
- – der sog. »Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit« (§ 455 Abs. 1-3 StPO),
- – der »Strafausstand aus Gründen der Vollzugsorganisation« (§ 455a StPO)
- – und der vorübergehende Aufschub (§ 456 StPO) zur Vermeidung »außerhalb des Strafzwecks liegender Nachteile« für den Verurteilten und/oder seine Familie.(23)
Dies sei nachfolgend im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Vollstreckungsunterbrechung dargestellt:
3. vollstreckungsunterbrechung
Eine Unterbrechung der Vollstreckung, also nach Haftantritt, kommt in Betracht
- – gemäß § 455 Abs. 4 StPO in Fällen nachträglich eintretender »Vollzugsuntauglichkeit« und
- – gemäß § 455a StPO »aus Gründen der Vollzugsorganisation«.
Eine Unterbrechung i.S. eines nachträglich gewährten Aufschubs gemäß § 456 StPO (weil durch die Vollstreckung »dem Verurteilten oder seiner Familie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwachsen«) lässt das Gesetz nicht zu, obwohl sich solche Nachteile durchaus auch erst nach Haftantritt ergeben können: Corona-bedingte Änderungen der Haftbedingungen mit der Folge, die Kontakte des Verurteilten zu seiner Familie massiv einzuschränken (s.u. II.4.), können sich durchaus zu erheblichen, außerhalb des Strafzwecks liegenden Nachteilen auswachsen.(24) Da hilft – de lege lata – aber nur das Gnadenrecht (s.u.) oder eben § 455a StPO:
Der Ausbruch einer ›Seuche‹ ist geradezu ein klassischer – wenn auch seltener – Anwendungsfall des Strafausstands »aus Gründen der Vollzugsorganisation« (§ 455a StPO)(25). Kann die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde (Abs. 1) nicht rechtzeitig eingeholt werden, dürfte auch die Anstaltsleitung die Vollstreckung vorläufig unterbrechen (Abs. 2). In der Anfangsphase der Pandemie März/April 2020 fand diese Vorschrift durchaus (wenn auch zum Teil stillschweigend) Anwendung.(26) Soweit inzwischen dahin zurückgekehrt wurde, kurze und Ersatzfreiheits-Strafen bis auf Weiteres nicht mehr zu vollstrecken, dürften dafür – neben Verhältnismäßigkeitsprinzipien – letztlich auch »Gründe der Vollzugsorganisation« maßgebend (gewesen) sein. So sollte es bis auf Weiteres bleiben.
Selbstverständlich kann Vollzugsuntauglichkeit (§ 455 Abs. 4 S. 1 StPO) anzunehmen sein, wenn Gefangene ernsthaft an Corona erkranken, sei es weil »eine nahe Lebensgefahr … zu besorgen ist« (Nr. 2) oder sonst die schwere Erkrankung »in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann« (Nr. 3)(27). Dass Gründe der öffentlichen Sicherheit dem entgegenstehen könnten (S. 2), ist kaum vorstellbar.(28)
Bei einem kurzfristigen Abbruch des Vollzuges ist aber auch – in Zusammenarbeit mit externen Stellen – zu gewährleisten, dass die Gefangenen nicht in völlig ungeschützte Verhältnisse, etwa in die Wohnungslosigkeit entlassen werden.(29)
4. entlassung und deren vorbereitung
Selbstverständlich ist die Entlassung auch nach sog. ›Endstrafe‹ bzw. ›Vollverbüßung‹ vorzubereiten (vgl. etwa §§ 15, 74 f. StVollzG bzw. dementsprechende Regelungen des jew. Landesvollzugsrechts). Daraus ergeben sich nicht nur Ansprüche Gefangener, dies dient vielmehr auch der Wiedereingliederung und damit zugleich der Rückfallprävention. Dabei geht es insb. (§ 15 StVollzG)(30) um weitergehende Vollzugslockerungen (Abs. 1, 3, 4, insb. Sonderurlaub) bis hin zur Verlegung in den offenen Vollzug (Abs. 2)(31). Darauf wird im Teil ›Vollzugsrecht‹ zurückzukommen sein (s.u. II.4.) – nur so viel vorab: Dieses Vollzugsrecht wird durch Infektionsschutzrecht grundsätzlich nicht suspendiert!
Hier soll es aber vorrangig um die vorzeitige Entlassung, also die Strafrestaussetzung (§§ 57, 57a StGB) gehen: Nicht nur, dass diese Entlassung erst recht vorzubereiten ist, der Gefangene hat vielmehr auch einen Anspruch auf vollzugsrechtlich vertretbare Vollzugslockerungen als sog. »Erprobungen« der Entlassungsreife, die von den Vollstreckungsbehörden und -gerichten regelmäßig zu einer der Vorbedingungen der Reststrafenaussetzung gemacht werden.(32)
Dieses System gerät jetzt ins Wanken, weil Gefangenen diese Entlassungsvorbereitungen unter Verweis auf Corona verweigert werden: Unbegleitete Ausgänge werden nicht gewährt, für begleitete Ausgänge fehle oft das Personal bzw. es wird dafür nicht mehr bereitgestellt. Beurlaubungen werden den Gefangenen zudem madig gemacht mit dem Hinweis darauf, nach Rückkehr in die JVA müssten sie in jedem Fall für 14 Tage in Quarantäne.(33)
In der Rechtsprechung ist bereits vor Corona der Grundsatz entwickelt worden, dass die rechtswidrige Verweigerung von Vollzugslockerungen eine im Übrigen vertretbare Entlassung gem. § 57 Abs. 1 StGB nicht aufhalten darf.(34) Ggf. wäre eine Entscheidung gem. § 454a Abs. 1 StPO mit der Bestimmung eines späteren Entlassungszeitpunkts zu treffen, um dem Vollzug die bisher ausgebliebene Entlassungsvorbereitung zu ermöglichen (wenn nicht: aufzudrängen). Es spricht m.E. nichts dagegen, diese Rechtsprechung auf Konstellationen zu übertragen, in denen Vollzugslockerungen aus Gründen verweigert werden, die jedenfalls der Gefangene nicht zu vertreten hat, wie eben: Gründe des Infektionsschutzes.
All dies gilt für die Halbstrafenaussetzung (§ 57 Abs. 2 StGB) entsprechend. Käme diese vorliegend nur bei Vorliegen »besonderer Umstände« in Betracht (Nr. 2), so wären die Corona-bedingten Erschwernisse in die notwendige Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung »von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person« und insbesondere ihrer »Entwicklung während des Strafvollzugs« einzustellen.(35)
5. gnade vor/nach recht
Wo die erwähnten vollstreckungsrechtlichen Regelungen zur Haftvermeidung nicht weiterhelfen, muss ggf. Gnade vor Recht ergehen:(36) So kann Corona die Einbeziehung auch solcher Gefangener in die sog. »Weihnachtsamnestie« gebieten, die – z.B. nach Verurteilung wegen eines Tötungs- oder Sexualdelikts – sonst offenbar keine Gnade verdient haben sollen.(37) Aber auch unabhängig davon dürften Gnadenanträge unter Verweis zumindest auch auf die besonderen Corona-bedingten vollzuglichen Belastungen nicht von vorneherein aussichtlos sein.(38)
6. vollstreckungsgerichtliche verfahren
Dort, wo das Vollstreckungsrecht der StPO mündliche Anhörungen vorschreibt, sei es der Betroffenen und ihrer Verteidigung, sei es zusätzlich von Sachverständigen,(39) droht die Pandemie das Vollstreckungsverfahrensrecht zu infizieren: Da werden einerseits alle Beteiligten mehr oder weniger unmissverständlich aufgefordert, auf solche Anhörungen zu verzichten; anderereits werden kurzerhand Audio-Video- oder sogar Telefon-Konferenzen anberaumt.
Ersteres muss von Rechts wegen auf den Hinweis beschränkt werden, dass zwar nicht das Gesetz explizit (arg. § 454 Abs. 1 S. 3, 4 StPO) einen Verzicht zulässt, wohl aber die dazu ergangene Rechtsprechung;(40) bedenklich bleibt dies freilich in Fällen ohne Verteidigung. Nur ein ausdrücklich erklärter Verzicht wäre wirksam. Anschreiben dahingehend, es werde keine mündliche Anhörung stattfinden, es sei denn, eine solche werde gefordert, sind unzulässig und führen nicht zu wirksamen Verzichtserklärungen. Für die Anhörung von Sachverständigen gilt dies entsprechend: Es geht nicht darum, ob irgendwer auf deren Anhörung besteht, sondern ob darauf explizit verzichtet wird.(41)
Eine solche von Rechts wegen vorgeschriebene mündliche Anhörung durch eine Audio-Video-Anhörung zu ersetzen, sieht das Gesetz nicht vor (die Ausnahme in § 462 Abs. 2 S. 2 StPO lässt dies im Umkehrschluss erkennen). Das wurde – wenn auch im konkreten Fall auf eine Telefonkonferenz bezogen – vom OLG Brandenburg bekräftigt(42) und ebenfalls vom OLG Stuttgart.(43) Außerdem lässt auch der jüngst von BMJV vorgelegte RefE (s.u.) erkennen, dass das geltende Recht solche virtuellen StVK-Anhörungen nicht vorsieht. Ob sich die Anzuhörenden – im Rahmen der angesprochenen Verzichtsoption (gewissermaßen als milderes Mittel) – im Einzelfall und anwaltlich hoffentlich gut beraten damit abfinden, ist eine andere Frage.(44)
Dass das BMJV nun aber im Schatten der Pandemie gedenkt, eine solche Regelung (anders als z.B. die befristete Möglichkeit, Hauptverhandlungen über § 229 StPO hinaus länger zu unterbrechen gem. § 10 EGStPO)(45) dauerhaft einzuführen, ist abzulehnen; hier sei insoweit verwiesen auf die für den RAV dazu abgegebene Stellungnahme!(46)
teil II:
vollzug in den zeiten der corona
Internationale Institutionen und Organisationen haben sich bereits frühzeitig mit den besonderen Herausforderungen beschäftigt, die die Corona-Pandemie für Gefangene weltweit mit sich bringt. Es wurden Leitlinien formuliert (vor allem sei der WHO-Leitfaden erwähnt), geltende Regelwerke in Erinnerung gerufen und konkrete Vorgaben und Vorschläge unterbreitet; aus Platzgründen muss hier darauf verzichtet werden, dies auszuführen.(47)
1. infektionsschutz hinter gittern
Selbstverständlich haben Gefangene Anspruch auf mindestens denselben aktiven Infektionsschutz wie außerhalb der Mauern:(48) Das IfSG gilt auch insoweit ›hinter Gittern‹ uneingeschränkt! Ob und ggf. inwiefern das für die dazu ergangenen Rechtsverordnungen gilt, ist eine andere Frage (s.u.). Gefangene haben also insb. Anspruch darauf, dass (AHAL)
- – Tests durchgeführt und
- – Masken (vorzugsweise FFP2 oder entspr.) bereitgestellt werden,
- – Desinfektionsmittel zugänglich sind,
- – Abstände eingehalten werden bzw. einzuhalten sind sowie
- – regelmäßig und hinreichend gelüftet wird bzw. werden kann,
und darüber gewacht wird, dass all dies effektiv umzusetzen ist. Dies sollte unstreitig sein, solange es die einzelnen Gefangenen selbst betrifft – sie dürfen (um es knapp aufzulisten)
- – sich maskieren,
- – sich ggf. testen lassen bzw. selbst Schnelltests durchführen,(49)
- – sich desinfizieren,
- – Abstände einhalten und
- – lüften.
Dass Gerichte angerufen werden müssen, um diese Selbstverständlichkeiten durchzusetzen, ist skandalös: Das LG Bochum hat einem Eilantrag mit Beschluss v. 09.11.2020(50) der Kollegin Lisa Grüter aus Dortmund Recht gegeben und ihrem Mandanten in der JVA Bochum gestattet, FFP2-Masken anzuschaffen, zu besitzen und zu nutzen. Die JVA soll aber bereits angekündigt haben, sich daran nicht zu halten, sollten die Masken – wie üblich – Metallbügel enthalten.
Schwieriger wird es in Bezug auf andere, also auf Mitgefangene und Bedienstete – ich nenne dies passiven Infektionsschutz: Haben Gefangene Anspruch darauf, dass andere Abstand halten, Masken tragen, sich desinfizieren, lüften und sich ggf. testen (lassen), und dass dies entsprechend kontrolliert und durchgesetzt wird?(51) Selbstverständlich.(52) Ein Mandant in der JVA Kiel hatte insoweit aber keinen Erfolg: Ein Eilantrag dahingehend, die Bediensteten im dortigen Vollzug zum Tragen von Masken zu verpflichten, wurde von der zuständigen StVK abgelehnt.(53)
Gefangene haben – übrigens nicht erst seit Covid-19 – nach dem IfSG (s.u.) auch Anspruch auf ein Infektionsschutz-Konzept (s. zu § 36 IfSG u. 2.). Auch wenn dies im Vollzug ohnehin als Selbstverständlichkeit vermutet wird: Es bedarf z.B. einer Dokumentation, wer wann wo mit wem zu tun hatte, zum Zwecke der ggf. notwendig werdenden Zurückverfolgung von Infektionswegen.
Gefangene haben schließlich ebenso Anspruch darauf, dass sie vor infizierten bzw. – trotz Indikation – noch nicht negativ getesteten Mitgefangenen geschützt werden: Quarantäne muss auch ›hinter Gittern‹ möglich sein,(54) ohne dass dies über Tage hinweg auf 24 Stunden Zelleneinschluss hinausläuft. Was jedoch nicht geht (das war z.T. im Maßregelvollzug zu erfahren) ist, dass wegen eines Verdachtsfalls schlicht eine ganze Station bzw. Abteilung unter Quarantäne gestellt wird, ohne die einzelnen Betroffenen auf dieser Abteilung/Station ebenfalls effektiv zu schützen.
Und überhaupt: Da Impfstoffe nun zur Verfügung stehen, hätten Gefangene eigentlich mit zu den ersten gehören müssen, die diesen Schutz in Anspruch nehmen können.(55)
2. vollzugsrecht im lichte des IfSG
Von diesem – hier so genannt – passiven Infektionsschutz ist es nur ein kurzer Schritt zu Einschränkungen des Vollzugsrechts, genauer: der vollzugsrechtlich garantierten Rechte von Gefangenen.
Zunächst einmal gelten die einschlägigen Vollzugsgesetze überall unverändert: Soweit ersichtlich ist in keinem Bundesland aus Anlass der Pandemie das Vollzugsrecht geändert worden! Einschränkungen der Rechte von Gefangenen müssen sich also in den durch diese Gesetze abgesteckten Grenzen halten. Dass dies für ebenso unverändert geltende Grund- und Menschenrechte erst recht gilt, muss hier hoffentlich nicht betont werden. Wer auch immer von einem »Notstand« redet:(56) Das – ohnehin heftig umstrittene – rechtliche Notstands-Instrumentarium wurde bisher nicht aktiviert und wäre auch im Übrigen nicht geeignet, die Grundrechte Gefangener über das durch die bisher geltenden Gesetze Legitimierte hinaus anzutasten. Ob alle bisher zu Corona erlassenen Rechtsvorschriften ordnungsgemäß zustande gekommen sind, insb. in puncto Gesetzesvorbehalt, ist ein anderes Thema, das hier zu weit führen würde.(57)
Das IfSG seinerseits enthält keine Sonderregelungen zum Strafvollzug, mit den (bereits vor Covid-19 geltenden) Ausnahmen der
- – § 36 Abs. 1 Nr. 6, wonach Justizvollzugsanstalten »in Hygieneplänen innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Infektionshygiene festlegen [müssen] und … der infektionshygienischen Überwachung durch das Gesundheitsamt« unterliegen, und
- – des § 8 Abs. 1 Nr. 7 hinsichtlich der aus § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 und 5 folgenden Meldepflichten, die der Anstaltsleitung obliegen.
Das IfSG ist m.a.W. selbstverständlich auch im Vollzug zu beachten, es ist aber im Übrigen – auch im Lichte des Art. 31 GG – ebenso selbstverständlich nicht geeignet, das Vollzugsrecht auszuhebeln. Das Gesetz enthält in § 36 insb. auch keine Ermächtigungsgrundlage für Rechtsverordnungen des Bundes oder der Länder den Justizvollzug betreffend.
3. Vollzugsrecht in Zeiten der Corona (Grundsätze)
Bevor einzelne Konfliktfelder ausgeleuchtet werden, die in den Zeiten der Corona in den Fokus geraten, seien zentrale vollzugsrechtliche Prinzipien in Erinnerung gerufen, für die das Vorgenannte ebenfalls gilt: Sie sind nicht suspendiert, können auch gar nicht suspendiert werden. Bezug genommen wird dabei der Einfachheit halber auf das StVollzG des Bundes, wohl wissend, dass es gerade auch insoweit nicht mehr gilt, sondern durch Landesgesetze ersetzt wurde, die – was diese Prinzipien betrifft – aber keine im vorliegenden Zusammenhang nennenswerten Unterschiede aufweisen:(58)
Das sog. »Vollzugsziel« der Resozialisierung, der (Wieder)Eingliederung, der sozialen (Re)Integration – wie auch immer tituliert – gilt unverändert und begründet entsprechende, nicht zuletzt verfassungsrechtlich abgesicherte und verfassungsgerichtlich sanktionierte Rechtsansprüche der Gefangenen.(59) Auch in Zeiten einer Pandemie darf der Vollzug nicht darauf reduziert werden, sie bis zur sog. »Endstrafe« sicher zu verwahren (vgl. auch § 3 Abs. 3 StVollzG). Soweit der Vollzug der Freiheitsstrafe »auch dem Schutz der Allgemeinheit« dienen soll (§ 2 S. 2 StVollzG), so allenfalls dem Schutz »vor weiteren Straftaten«,(60) und im Übrigen selbstverständlich auch nicht dem Schutz der Gefangenen vor sich selbst oder vor Infektionsgefahren jenseits der Gitter.
Der Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1 StVollzG: auch Normalisierungsprinzip) erinnert beständig daran, das ›Leben hinter Gittern‹ den »allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich« anzugleichen.(61) Das fällt dem Vollzug schon in ›normalen‹ Zeiten schwer, ist jetzt aber einer besonderen Belastungsprobe ausgesetzt: Auch wenn die ›allgemeinen‹ Lebensverhältnis nun auch vor den Gittern ›besondere‹ sind, bleiben sie doch der Maßstab, an dem begründungspflichtige und justiziable Abweichungen zum Nachteil Gefangener zu messen sind.
Der Gegensteuerungsgrundsatz (§ 3 Abs. 2 StVollzG) soll schließlich den – damit zugleich gesetzlich eingeräumten bzw. anerkannten – »schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges« entgegenwirken. Auch damit tut sich der Vollzug bereits unter ›normalen‹ Bedingungen schwer, muss aber in den Zeiten der Corona besonders darauf bedacht sein, die Schädlichkeit des Freiheitsentzuges hinter Gittern nicht noch zu erhöhen, da dort noch weitergehende Möglichkeiten der Gegensteuerung kaum zur Verfügung stehen.
Und an ein weiteres Prinzip sei erinnert: Gefangene bringen ihre Grund- und Menschenrechte mit in das Gefängnis, wo sie prinzipiell unverändert Geltung beanspruchen: Weder sind sie dort suspendiert, noch müssten sie ihnen hinter Gittern explizit (wieder)gewährt werden.(62) Gerade in Zeiten eines gefühlten Ausnahmezustandes ist darüber zu wachen, dass das sog. »besondere Gewaltverhältnis« keine Wiederauferstehung feiert. Auch hinter Gittern gilt weiterhin der Gesetzesvorbehalt: Es muss deshalb auch dringend davor gewarnt werden, die vollzugsgesetzlichen Generalklauseln (vgl. nur § 4 Abs. 2 StVollzG) – hier: infektionsschutzpolitisch – zu missbrauchen.(63) Bedenklich wäre schließlich, zur Durchsetzung von Infektionsschutzregeln in der JVA das Disziplinarrecht in einem Ausmaß zum Einsatz zu bringen, das außerhalb der Mauern (noch) undenkbar wäre.(64)
Letzter Punkt vor der Klammer: Dort wo Gefangene – im Vergleich zu den Menschen vor den Gittern – Sonderopfer zum Infektionsschutz erbringen (müssen), stehen ihnen soziale Ausgleichs- und ggf. Entschädigungsrechte zu. Diese sind, soweit irgend möglich, auch vollzugsrechtlich einzulösen.(65)
4. Vollzugsrecht in den Zeiten der Corona (Ausgewählte Konfliktfelder)
Gerade in puncto Angleichung und Gegensteuerung kommt den Außenkontakten eine herausragende Bedeutung zu, allen voran den Besuchen und Vollzugslockerungen (oder wie es inzwischen vielerorts heißt: den vollzugsöffnenden Maßnahmen), außerdem sonstigen Formen der Kommunikation mit der Welt jenseits der Gitter und Mauern. Soweit hier Einschränkungen unvermeidbar sind, geraten zugleich Kompensationspflichten in den Blick.
a. Besuche
Besuche hinter Gittern sind für Gefangene von geradezu existenzieller Bedeutung für die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte nach draußen, aber auch für das schlichte psycho-soziale Wohlbefinden und für die Ressourcen, den Vollzug überhaupt zu ertragen. Dies gilt für Besuche von Freunden und Bekannten ganz allgemein, im Lichte des Art. 6 GG aber für Familienangehörige umso mehr.(66) Die Lage ist und bleibt prekär.(67)
Dass solche Besuche zum Zwecke des Infektionsschutzes nicht in demselben Umfang, genauer: in derselben Art und Weise stattfinden können, wie vor der Pandemie, drängt sich auf.(68) Das darf aber noch lange nicht dazu führen, Besucher*innen vollständig auszuschließen (und auf die elektronische Kommunikation zu verweisen, s.u. b). Zu prüfen ist also – wie auch bisher nach weiterhin geltendem Recht – jeweils im Einzelfall die Zulässigkeit der Beschränkung, der Überwachung oder gar der Untersagung eines Besuchs. Hier liegt einiges im Argen: Die Vollzugsanstalten müssen mehr als bisher darauf verpflichtet werden, infektionssichere Besuchsmöglichkeiten zu gewährleisten.(69)
Indirekt zum Besuchs-Thema – teilweise auch zum Thema Freizeitaktivitäten – gehört übrigens auch der Zugang anderer externer Personen zur Vollzugsanstalt: Hier war ebenfalls eine erhebliche Reduktion von externen, meist ehrenamtlichen Beratungs- und Unterstützungsangeboten zu verzeichnen.(70)
b. Sonstige Außenkontakte (Kompensation)
Unabhängig davon sind – nicht zuletzt aus Gründen der Kompensation für die Einschränkung von Besuchen (s.o. a) und Vollzugslockerungen (s.u. c) (71) – die Möglichkeiten für andere Formen der Außenkontakte deutlich auszubauen. Die Telefonerlaubnisse müssen erweitert werden;(72) zum Teil wird – endlich – darüber nachgedacht, den Gefangenen wenigstens nicht internetfähige Mobiltelefone zur Verfügung zu stellen.(73) Externe Anbieter (wie insb. TELIO) stehen nicht überall zur Verfügung, agieren aber auch sonst nicht bedenkenfrei: Keinesfalls darf diese Krise dazu führen, dass die ohnehin notorisch zu knappen finanziellen Reserven der Gefangenen erschöpft werden oder – schlimmer noch – die wenigstens teilweise Aufrechterhaltung sozialer Kontakte am Geld scheitert.(74)
Besondere Bedeutung erlangen spätestens jetzt die Möglichkeiten der audio-visuellen Kommunikation via skype u.Ä.;(75) hier besteht Nachholbedarf.
c. Vollzugslockerungen (»vollzugsöffnende Maßnahmen«)
Vollzugslockerungen sind auch weiterhin von Gesetzes wegen grundsätzlich zu gewähren, solange dem eine Flucht- und/oder Missbrauchsgefahr nicht entgegensteht. Auch wenn der »Missbrauchs«-Begriff bisweilen ein (zu) weites Feld öffnet: Es stellt keinen zu befürchtenden »Missbrauch« einer Vollzugslockerung dar, dass Gefangene vor den Gittern ggf. die Corona-Schutzmaßnahmen nicht einhalten. Ungeachtet dessen müsste eine solche Befürchtung auch konkret und mit Tatsachen belegt sein.(76)
Stattdessen werden unbegleitete Lockerungen pauschal verweigert,(77) zum Teil auf der Grundlage ministerieller Weisungen.(78) Oder den Gefangenen wird damit gedroht, dass sie – insb. nach einer Beurlaubung über Nacht – nach Rückkehr in die JVA 14 Tage in Quarantäne müssten.(79) Soweit dies im Einzelfall über das jeweils allgemein geltende Infektionsschutzrecht hinausgeht, ist eine solche (angedrohte) Sonderregelung für Gefangene zurückzuweisen. Schnelltests verschaffen zwar keine Sicherheit, sind aber vorzusehen.(80)
d. Freizeitangebote, Arbeit etc.
Gerade in Zeiten eines zunehmenden vollzugsinternen – also doppelten – lock-down geraten Kompensationsleistungen (Stichwort: Sonderopfer, s.o. 3. aE) verstärkt in den Fokus, nicht zuletzt in puncto Gegensteuerung: Die ohnehin nur beschränkt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten werden derzeit aber offenbar eher noch eingeschränkt als ausgebaut.(81)
Auch die Arbeitsmöglichkeiten im Vollzug, schon in ›normalen Zeiten‹ notorisch reduziert, werden derweil weiter eingeschränkt: Viele Gefangene würden sicher gerne ins ›home office‹ wechseln, aber dort befinden sich bereits einige der ›hinter Gittern‹ mehr noch als bisher benötigten Fachdienste. Das Mindeste wäre, den Gefangenen die Vergütung weiterzuzahlen.(82)
fazit
Wenn ›Corona‹ und diese insb. ›hinter Gittern‹ am Ende doch etwas Gutes gehabt haben soll, dann vielleicht ein »neues Nachdenken über Strafvollzug«(83) im Besonderen und über Gefängnisse im Allgemeinen. Die andernorts ersehnte »Rückkehr zur Normalität« sei, so Johannes Feest, »mindestens für Strafanstalten unangebracht«.(84) Von Gefängnissen sollte man Abstand halten bzw. nehmen, insb. auch kriminalpolitisch und strafjustiziell: Der wichtigste Beitrag zum Infektionsschutz ›hinter Gittern‹ sei, so Christine Graebsch vom Dortmunder Strafvollzugsarchiv, die »Zahl der Gefangenen ganz drastisch zu senken«.(85) Möge es sich herumsprechen!
Es begann mit Susanne Gerlach und soll auch mit einem Zitat von ihr enden: »›Never let a good crisis go to waste‹ … lass uns niemals eine Krise ungenutzt verstreichen« (etwas frei nach Winston Churchill).(86) Messen wir sie und ihre Kolleg*innen an ihren Taten!
Prof. Dr. Helmut Pollähne ist Rechtsanwalt und Hochschullehrer in Bremen; Redakteur der Fachzeitschrift Strafverteidiger; wiss. Leiter des Kölner Instituts für Konfliktforschung; Vorsitzender des 1. Senats des Bremischen Anwaltsgerichtshofs; Mitglied im Vorstand der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidiger*innen e.V. (VNBS) und im erweiterten Vorstand des Republikanischen Anwält*innenvereins (RAV).
Fußnoten: