A.S.: Klaus, ich möchte mit dir über die Frage sprechen, ob COVID-19 nicht nur die Gesundheit der Menschen, sondern auch den Strafprozess bedroht. Schaut man sich die Corona-Gesetzgebung und die Einschränkungen an, welche die Justizverwaltungen in Bezug auf Infektionsschutzmaßnahmen aufgebaut haben, kann man schon auf die Idee kommen, dass es nicht so gut um den Strafprozess, insbesondere den Öffentlichkeitsgrundsatz, den Unmittelbarkeitsgrundsatz, das Beschleunigungsgebot und die Konzentrationsmaxime steht.
K.M.: Diese Sorge um die rechtsstaatlichen Prinzipien unseres Strafverfahrens ist berechtigt. Aber das gilt nicht erst seit einem Jahr und nicht erst seit der Existenz der Corona-pandemie. Ich möchte deshalb zunächst das zwar gefährliche, aber in dieser Hinsicht völlig unschuldige Virus gegen den, was die Beschuldigtenrechte angeht, viel gefährlicheren deutschen Gesetzgeber in Schutz nehmen, Denn Einschränkungen des Rechtsstaatsprinzips, Einschränkungen der Beschuldigtenrechte müssen wir seit vielen Jahren, ich würde sogar sagen seit Jahrzehnten konstatieren. Diese haben, allmählich und schleichend, Schritt für Schritt, Eingang in die Gesetzgebung und damit in den strafprozessualen Alltag gefunden.
Es gibt zu diesem Thema einen sehr lesenswerten Aufsatz von Peter Rieß, der bekanntlich nicht im Ruf steht, ein Linksradikaler zu sein. Er gibt in der Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) im Jahr 2009 einen Überblick darüber, wie in einem halben Jahrhundert seit dem zweiten Weltkrieg die Strafprozessänderungen in Deutschland ausgesehen haben, und er stellt fest, dass bis Mitte der 1960er Jahre die Strafprozessänderungen größtenteils liberalen, also beschuldigtenfreundlichen Charakter hatten und dass ab diesem Zeitpunkt ein stetiger Niedergang zu verzeichnen war. »Von nun an ging´s bergab« möchte man mit Hildegard Knef sagen. Ab diesem Zeitpunkt sind die Strafprozessänderungen überwiegend zu Lasten der Beschuldigten und der Verteidigung gegangen.
Um zu verdeutlichen, was ich meine, hier einige Beispiele, die mit der Coronapandemie sicherlich überhaupt nichts zu tun haben.
Da ist etwa die laufende Änderung des § 244 StPO. Als ich mit meiner Tätigkeit als Strafverteidiger begonnen habe, gab es noch einen Auslandszeugen, der diesen Namen verdient hat. Dieser wurde in § 244 Abs.6 StPO ›abgeschafft‹, indem die Ablehnung eines entsprechenden Antrags der Verteidigung mit denselben Gründen möglich geworden ist, die auch für den Antrag auf Einnahme eines Augenscheins gelten. Es folgte dann die Regelung über die Befristung von Beweisanträgen, eine Legalisierung der meines Erachtens contra legem ergangenen Rechtsprechung. Und zuletzt wurde im Strafprozessänderungsgesetz 2019 eine Legaldefinition des Beweisantrags inklusive des sogenannten Konnexitätserfordernisses eingeführt, das die höchstrichterliche Rechtsprechung, meines Erachtens ebenfalls contra legem und für besondere Fälle, eingeführt hatte. Der Beweisantragssteller soll nach der Neuregelung verpflichtet sein mitzuteilen, warum ein bestimmtes Beweismittel für eine bestimmte Beweistatsache überhaupt Beweise erbringen können soll. Geschieht dies nicht, liegt definitionsgemäß kein Beweisantrag mehr vor, und damit auch keine Verbescheidungspflicht des Gerichts. Wenn das keine deutliche Verschlechterung der Rechte des Angeklagten ist, was dann?
Ein weiteres Beispiel: § 249 Abs. 2 StPO, das Selbstleseverfahren, ist ein ganz massiver und offensichtlicher Eingriff in den Öffentlichkeitsgrundsatz, auf den ich hier nur hinweisen will.
Nicht zu vergessen auch das Verständigungsgesetz mit der zentralen Vorschrift des § 257c StPO, bei dem die Praxis, wie wir wissen, so aussieht, dass die ›Verhandlungen‹ über den Ausgang des Verfahrens hinter verschlossenen Türen abläuft. Auch hierin könnte eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gesehen werden, auch wenn das Gesetz vorsieht, dass die Ergebnisse einer solchen Verständigung in der Hauptverhandlung zu Protokoll gegeben werden müssen. Bernd Schünemann hat in diesem Zusammenhang in einem Aufsatz im Strafverteidiger bereits im Jahr 1993 von »Wetterzeichen einer untergehenden Strafprozesskultur« gesprochen.
Ein weiteres Thema, an dem das Virus völlig unschuldig ist, ist der Einsatz von V-Leuten. Das ist eine Ermittlungsmaßnahme, die in Grundrechte von Beschuldigten massiv eingreift und deswegen, da sind sich eigentlich alle einig, einer gesetzlichen Regelung bedürfte. Diese fehlt bis heute, was den Einsatz meines Erachtens per se verfassungswidrig macht. Ich weigere mich daher auch entschieden, zwischen »rechtmäßigen« und »unrechtmäßigen« VP-Einsätzen zu differenzieren, wie es die anscheinend der Ermittlungspraxis verpflichtete Rechtsprechung mit ihrer »Strafzumessungslösung« tut.
Auch die zahlreichen Änderungen des § 229 StPO, auf die wir auch noch zu sprechen kommen werden, haben zunächst mit dem Corona-Virus nichts zu tun. § 10 EGStPO ist hier nur das ›Sahnehäubchen‹. Zuvor ist § 229 StPO schon mehrfach zu Lasten der Verteidigung geändert worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, dass die Reichsstrafprozessordnung aus dem Jahr 1879 eine Unterbrechung der Hauptverhandlung von maximal drei Tagen gestattet hatte. Der Gesetzgeber war dabei offenbar davon ausgegangen, dass bei einer längeren Unterbrechung der Hauptverhandlung der unmittelbare Eindruck von der Beweisaufnahme bei den Verfahrensbeteiligten, insbesondere natürlich bei den Richtern, nicht mehr gegeben sei, sodass das Urteil nicht mehr auf dem Ergebnis der Hauptverhandlung beruht. Die möglichen Unterbrechungsfristen wurden dann verlängert auf zehn Tage, dann auf 21 Tage, und jetzt, unter Berufung auf die Pandemie, auf sage und schreibe drei Monate.
Ein letztes Beispiel noch zu den pandemieunabhängigen Einschränkungen der Beschuldigtenrechte, bevor wir zu COVID-19 kommen. Bei der Besetzungsrüge haben wir jetzt die Zwischenentscheidung nach § 222b Abs. 3 StPO durch das Beschwerdegericht. Dessen Entscheidung ist nicht weiter angreifbar, die Möglichkeiten der Revision damit beschränkt.
Nochmals zur Klarstellung: Ich will mit den von mir genannten Beispielen nur versuchen, die ›Corona-Gesetzgebung‹ und die Durchführung der Hauptverhandlung unter Corona-Bedingungen im Verhältnis zu dem, was die Verteidigung seit Jahren und Jahrzehnten an Grundrechtseingriffen und Beschneidungen von Beschuldigtenrechten hingenommen hat, ins rechte Licht zu rücken.
Die Einhaltung bzw. die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes ist nicht ein typisches Problem der Corona-Maßnahmen. Der Beschleunigungsgrundsatz ist stets dann verletzt, wenn ein Verfahren, bei dem der Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzt, nicht mit der größtmöglichen Eile bearbeitet und abgeschlossen wird.
A.S.: Dann müsste man richtigerweise sagen: massiver Abbau von Beschuldigtenrechten seit Jahrzehnten, so wie Du es gerade ausgeführt hast, und dann auch noch Corona!
K.M.: Das ist richtig! Ich möchte mich um die Corona-Problematik auch gar nicht drücken. Das ist im Moment natürlich sehr virulent (!). Wenn man sich mit Kollegen und Kolleginnen darüber unterhält, wird man allerdings schnell feststellen, dass es hier ganz unterschiedliche Positionen gibt. Ich habe vor wenigen Tagen mit einer Kollegin telefoniert, die in heutiger Zeit am liebsten gar keine Hauptverhandlungen mehr anberaumt haben möchte. Der Kollege Jan Bockemühl aus Regensburg würde dagegen, wenn ich es richtig interpretiere, was er hierzu veröffentlicht hat, am liebsten überhaupt nie mit Maske verhandeln.
A.S.: Wir haben im Moment die Situation, dass der Zugang zu den Gerichten für die Zuschauer erschwert ist, Gerichtsgebäude zum Teil verschlossen sind, ohne dass eine Tagesordnung an der Außentüre hängt, und nur eine begrenzte Zahl von Sitzplätzen für das Publikum vorhanden ist und die Zuhörer zu allem Übel auch noch ihre Personalien nebst Telefonnummer angeben müssen/können/sollen, je nach dem, bei welchem Gericht man ist, zur Verfolgung von Infektionsketten, wenn sie an einer Hauptverhandlung teilnehmen wollen. All das hat wenig damit zu tun, was man im Allgemeinen unter der Öffentlichkeit einer Hauptverhandlung versteht. Ist der Öffentlichkeitsgrundsatz Deiner Meinung nach noch gewahrt, und, falls nicht, müsste die Verteidigung nicht viel vehementer auf dessen Einhaltung pochen?
K.M.: Meiner Meinung nach kommt es hier, mal abgesehen von dem verschlossenen Gerichtsgebäude, über das man nicht diskutieren kann, auf den Einzelfall an. Ob der Öffentlichkeitsgrundsatz noch gewahrt ist oder nicht, liegt in erster Linie an der praktischen Handhabung des Zugangs des Publikums durch die jeweiligen Vorsitzenden.
Man muss sich zunächst einmal klar machen, welches heute die Funktionen des Öffentlichkeitsgrundsatzes sind. Zum einen soll es der Öffentlichkeitsgrundsatz ermöglichen, dass die Gerichte vom Bürger überwacht werden können. Das ist die klassische staatstheoretische Funktion. Zum anderen ist in heutiger Zeit auch das Recht der Öffentlichkeit von Relevanz, über bestimmte Verfahren informiert zu werden, eingeschlossen natürlich die Pressefreiheit, die in diesem Zusammenhang darin besteht, frei über den Inhalt von Strafprozessen berichten zu können.
Wenn ich an der Gegenwart verzweifle, dann greife ich auch mal auf die Vergangenheit zurück, und zwar besonders gerne auf mein Lieblingsbuch zur Strafverteidigung, das Buch von Julius Vargha ›Die Verteidigung in Strafsachen‹, das man heute nur noch im Antiquariat findet. Das Buch ist erschienen im Jahr 1879, zeitgleich mit dem Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung. Es macht Spaß, darin zu stöbern und festzustellen, welches Maß an Liberalität und bürgerlicher Freiheit doch in den Gedanken Varghas steckt, und wie wir heute, vielleicht gerade heute, auch noch großen Nutzen und Kraft aus diesen Gedanken ziehen können.
Vargha sagt zum Öffentlichkeitsgrundsatz:
»Die Öffentlichkeit der Verhandlung (StPO § 228, deutsche GVG § 170) stellt eine mächtige Gewähr der Verteidigung dar. Vor den Augen aller Bürger fällt es schwer, die Bürgerrechte im Angeklagten zu verletzten. Dass hierdurch erregte Aergerniss müsste allgemeinen Tadel und energische Opposition erfahren. Die Controle der Öffentlichkeit ist darum für die Gerichtsfunktionäre der wirksame Sporn zu gewissenhafter Pflichterfüllung. Welch hohe Bedeutung die reformierten Gesetze der Öffentlichkeit der Verhandlung beimessen, erhellt aus dem Umstande, dass die Verletzung der auf sie bezüglichen Vorschriften die Nichtigkeit des Verfahren bewirkt …«.
Was Vargha hier sagt, gilt heute noch. Wir haben in § 338 StPO die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes als absoluten Revisionsgrund.
Doch was bedeutet der Öffentlichkeitsgrundsatz konkret im heutigen Strafprozess?
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist es für die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes erforderlich, dass im Gerichtssaal Zuhörer in einer Anzahl Platz finden, in der sie noch als Repräsentanten der Öffentlichkeit angesehen werden können, die keiner besonderen Auswahl unterliegt. Diese Voraussetzung des Öffentlichkeitsprinzips kann natürlich durch die Corona-Gesetze und -verordnungen in Gefahr sein. In § 28a Infektionsschutzgesetz sind nunmehr die einzelnen Maßnahmen aufgeführt, die ergriffen werden können, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu bekämpfen.
Diese Maßnahmen betreffen natürlich auch den Strafprozess und hier in erster Linie die Hauptverhandlung. Der Öffentlichkeitsgrundsatz darf durch diese Maßnahmen zwar eingeschränkt, aber auf keinen Fall beseitigt werden. Das heißt, der/der Vorsitzende des betreffenden Gerichtes muss die Möglichkeit schaffen, dass eine noch als Repräsentanz der Öffentlichkeit anzusehende Zahl von Zuhörern die Möglichkeit hat, den Prozess zu besuchen. Welche Zahl von potentiellen Besuchern diese Voraussetzung erfüllt, hängt sicherlich vom Einzelfall ab. Das wird bei kleinen Verfahren, etwa wegen Ladendiebstahls, sicherlich anders aussehen als in einem Schwurgerichtsverfahren. Für diese größeren Verfahren wird sicherlich bei jedem Landgericht ein Saal zur Verfügung stehen, in dem auch bei einer größeren Anzahl von Zuhörern das Abstandsgebot eingehalten werden kann (natürlich bei Reduzierung der zur Verfügung gestellten Plätze), in dem gelüftet werden kann, und in dem die Maskenpflicht erfüllt werden kann. Aber zur Maskenpflicht nachher mehr.
A.S.: Du hast vorhin schon die Änderungen des § 229 StPO angesprochen. Der Gesetzgeber war ja schon zu Beginn der Pandemie im März 2020 sehr schnell tätig und hat einen neuen Hemmungstatbestand eingeführt, den § 10 EGStPO, der schon am 28.03.2020 in Kraft getreten ist. Dieser Tatbestand ist bislang befristet auf den 27.03.2021. In den letzten Tagen wurde die Initiative bekannt, dass man diesen Hemmungstatbestand um ein Jahr bis zum 28. März 2022 verlängern soll, was natürlich auch Rückschlüsse darauf zu lässt, wie die Pandemielage von der Politik eingeschätzt wird. § 10 EGStPO macht es jetzt möglich, Strafprozesse unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung mehrmals um drei Monate und 10 Tage zu unterbrechen. Ist diese Regelung noch irgendwie mit dem Beschleunigungsgebot unter einen Hut zu bringen?
K.M.: Ich meine: Nein. Schon nach der jetzigen Regelung ist eine mehrfache Verlängerung der Unterbrechungsfristen problematisch, also schon die mehrfache Unterbrechung um ›lediglich‹ 21 Tage. Man muss ganz klar sagen, dass auch dies mit dem Beschleunigungsgrundsatz schwerlich zu vereinbaren ist. Manche Gerichte haben sich darauf berufen, der Beschleunigungsgrundsatz sei eingehalten, wenn die Fristen des § 229 StPO nicht überschritten würden. Das ist natürlich nicht richtig. Ich darf daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Verfahren gesagt hat, dass der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei, wenn nicht an mehr als einem Tag pro Woche verhandelt wird. Auch bei Einhaltung der zehn Tages-Frist wäre dieser Vorgabe nicht genüge getan. Auch bei einer Unterbrechungsfrist von 21 Tagen nicht, und erst recht nicht natürlich nach der Neuregelung des § 10 EGStPO. Mir ist – offen gestanden – auch nicht so richtig klar, wo der große Vorteil in der Neuregelung für die Gerichte liegen soll. Natürlich ist es bequemer nur einmal zu unterbrechen, als im Drei-Wochen-Rhythmus Springertermine anzusetzen. Das mag schon sein. Auch hier müssen wir allerdings sehen, dass die Einhaltung bzw. die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes nicht ein typisches Problem der Corona-Maßnahmen ist. Der Beschleunigungsgrundsatz ist stets dann verletzt, wenn ein Verfahren, bei dem der Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzt, nicht mit der größtmöglichen Eile bearbeitet und abgeschlossen wird. Eine Verletzung dieses Grundsatzes kann auch bei strikter Einhaltung der Fristen des § 229 StPO vorliegen.
Unter diesem Aspekt ist natürlich die Regelung des § 10 EGStPO ein absolutes Unding.
Der Pessimist wird sagen, was der Gesetzgeber einmal gegen den Beschuldigten durchgesetzt hat, nimmt er nicht einfach zurück… Ich erinnere an die StPO-Änderungen der 1970er Jahre, etwa das Verbot der Mehrfachverteidigung oder die Festlegung der Höchstzahl der Wahlverteidiger eines Beschuldigten. Diese Gesetzesänderungen waren damals eindeutig politisch motiviert, und sie sind Gesetz geblieben bis heute.
A.S.: Dem stimme ich zu. Kennst du aus ihrer Praxis Verfahren, die einfach oder mehrfach nach § 10 EGStPO unterbrochen worden sind?
K.M.: Nein, ich habe bisher mit dieser Vorschrift, die ja auch noch nicht so lange in Kraft ist, keine Erfahrungen gemacht. Allerdings natürlich mit der Aufhebung und Verschiebung von Terminen. Ich hatte beispielsweise im letzten Frühjahr den Fall eines chinesischen Mandanten, der mehrere Monate in U-Haft gesessen hatte, ich glaube über fünf Monate, da war wie üblich, gerade noch unter Einhaltung der Sechsmonatsfrist terminiert worden, aber ein paar Tage vor dem geplanten Hauptverhandlungstermin kam ein Anruf des Vorsitzenden der Strafkammer mit der Mitteilung, der Termin müsse aufgehoben werden, da der Berichterstatter zu einer Risikogruppe gehören, Vorerkrankungen usw.
Die Verschiebung belief sich dann auf zwei oder drei Monate. Das muss man dem Mandanten, der fast ein halbes Jahr auf seinen Prozess gewartet hat, auch erst einmal klar machen. Meine Haftbeschwerde in dieser Sache war, wie erwartet, erfolglos.
A.S.: Im Moment hat sich ja für uns alle in der Hauptverhandlung vieles geändert. Wir verhandeln in Sitzungssälen mit Mindestabstand von 1,5 oder 2 Metern zwischen den Verfahrensbeteiligten, und hinter Plexiglasscheiben. Es stellt sich jeden Tag neu und immer wieder in der Hauptverhandlung die Frage, ob die Verfahrensbeteiligten, etwa Zeugen, Masken tragen müssen oder dürfen. Das allein liegt im Entscheidungsbereich des Gerichts. Man kann, glaube ich, sagen, dass es heutzutage in diesem Sinne keinen einheitlichen Strafprozess mehr gibt, in dem die Regeln für alle gleich gelten, sondern man ist vielmehr dem Gutdünken des Gerichts ausgesetzt. Das Einhalten des Abstandsgebots und das Sitzen hinter Trennscheiben, das führt natürlich für die Verteidigung zu einer erheblichen Beeinträchtigung in der Kommunikation mit dem oder der Angeklagten, insbesondere wenn auch noch Dolmetscher beteiligt sind. Wir müssten dann eigentlich so vorgehen, dass wir für jede Rücksprache mit dem Mandanten die Hauptverhandlung unterbrechen lassen. Das machen wir drei mal, und dann stehen wir in einem großen Konflikt mit dem Gericht. Das weiß ich aus Erfahrung. Welche Punkte sind hier Deiner Meinung nach diskussionswürdig?
K.M.: Konflikte mit dem Gericht kann es natürlich geben. Aber wir sind ja nicht Strafverteidiger geworden, um denen aus dem Weg zu gehen.
Was die Maskenpflicht angeht, die du gerade angesprochen hast, ist es durchaus möglich, dass man als Verteidiger oder Verteidigerin mal auf dieser, mal auf jener Seite in der Auseinandersetzung steht. Ich habe vorhin schon Jan Bockemühl aus Regensburg erwähnt, der zusammen mit Dr. Heuer, wissenschaftlicher Assistent an der Uni Regensburg, in der KriPoz (Kriminalpolitische Zeitschrift) 6/2020 einen Beitrag mit dem Titel ›Der Rechtsstaat braucht den freien Blick ins Gesicht‹ verfasst hat. Die beiden Verfasser vertreten dort sehr dezidiert die Auffassung, dass jedenfalls bei Zeugen, die Pflicht zur Verhüllung von Mund und Nase von der Verteidigung vehement beanstandet werden soll, weil auch die Mimik einer Person für die Beurteilung einer Aussage wichtig sei. Die gerichtliche Anordnung der Gesichtsverhüllung hat natürlich auch deswegen einen ironischen Beigeschmack, weil vor kurzem in § 176 Abs. 2 GVG das sogenannte Verhüllungsverbot für Beteiligte im Strafverfahren eingeführt worden ist. Da hatte man an die Pandemie noch nicht gedacht, und ich würde jede Wette eingehen, dass diese Vorschrift von einem Gesetzgeber mit seherischen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt nicht eingeführt worden wäre.
In dem Aufsatz von Bockemühl und Heuer kann man auch schön nachlesen, wie im Gesetzgebungsverfahren zu § 176 Abs. 2 GVG argumentiert worden ist, nämlich das es schwer möglich sei, eine Zeugenaussage auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, wenn das Gesicht des Zeugen verhüllt sei. Wenn die Verteidigung in einem Verfahren also ebenfalls zu dieser Auffassung gelangt, und die von der Pandemie ausgehende Gefahr auch anders beherrschbar ist, so sollte in der Tat der Antrag gestellt werden, dass der Zeuge seine Maske abnehmen muss, gegebenenfalls ist hierzu auch ein Gerichtsbeschluss nach § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen. Argumente für die Verteidigung finden sich in dem Aufsatz von Böckemühl und Heuer in Hülle und Fülle. Vielleicht noch ein zusammenfassendes Zitat aus diesem Aufsatz:
»Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass die mitunter wohl aus überbordender Angst und teils auch aus Hysterie ergriffenen Schutzmaßnahmen gegen Sars-COV 19 bereits jetzt eine Erosion des Strafverfahrens sowie der Gerichtsverfassung zur Folge haben. Denn jedenfalls noch Ende letzten Jahres erschien es dem Gesetzgeber offenbar völlig undenkbar, dass eine strafprozessuale Hauptverhandlung lege artis unter vermummten Verfahrensbeteiligten geführt werden könnte.«
So ändern sich die Zeiten.
A.S.: Und die Zeiten ändern sich ja nicht nur in Bezug auf Zeugen. Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, dass es ein ›legendäres‹ Urteil des Amtsgerichts Reutlingen gibt (und wir haben hier ja auch als weiteren Referenten den Richter am Amtsgericht Sierk Hamann, mit dem man dann auch über solche Dinge diskutieren kann), wo – allerdings in einem Bußgeldverfahren – der Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid verworfen wurde, weil der Betroffene sich geweigert hatte, eine Maske zu tragen und deshalb gar nicht in den Sitzungssaal gelassen worden ist. Sierk Hamann hat in dem Interview, das ich mit ihm geführt habe, gemeint, er würde das in einem entsprechenden Fall auch so handhaben.
K.M.: Es kommt sicherlich auch in diesem Verfahren darauf an, ob eine konkrete Gefahr für Beteiligte bestanden hat. Dann muss man ernsthaft überlegen, ob dieser Strafprozess, zumal sehr wohl um einen nicht erheblichen Vorwurf ging, ausgesetzt wird und man ›auf bessere Zeiten hofft‹. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf eine gerade ergangene Entscheidung des BVerfG hinweisen. Sein Beschluss vom 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20 – lautet dahingehend, dass den Strafgerichten bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspieltraum zukomme. Dies gelte auch bei der Überprüfung von Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Corona-Virus. Ein Gericht, das über die Anberaumung und Durchführung von Hauptverhandlungsterminen entscheide, werde seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung abzuwägen, regelmäßig dadurch gerecht, dass es – sachverständig beraten – geeignete Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr treffe. Diese hätten sich an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zu orientieren. Zu dieser Entscheidung war es in letzter Instanz gekommen, weil der 77-jährige Beschuldigte, dessen linker Lungenlappen 1967 nach einer TBC entfernt werden musste, und der unter einem leicht erhöhten Blutdruck und einer Autoimmunerkrankung litt, beantragt hatte, anstehende Hauptverhandlungstermine vor dem LG Bonn aufzuheben und das Strafverfahren auszusetzen. Sein Begehren war auch in letzter Instanz beim BVerfG erfolglos geblieben.
Weitere ober- und höchstrichterliche Entscheidungen zu diesem Thema wären etwa noch die Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshof NJW 2020, 1285 und die Entscheidung des OLG München NJW 2020, 1381, die ich hier aus Zeitgründen nicht im Einzelnen erörtern kann. Lesenswert sind sie aber allemal.
A.S.: Wir dürfen also gespannt sein, wie sich das alles weiterentwickelt. Es könnte ja auch eine Lösung sein, das Verfahren auszusetzen oder verstärkt auf Technik zu setzen, also audiovisuell zu vernehmen. Bisher galt ja im Strafprozess, dass die audiovisuelle Vernehmung die Ausnahme war, etwa gem. § 247 a StPO, also die audiovisuelle Vernehmung von besonders schutzbedürftigen Zeugen, oder zum Beispiel die audiovisuelle Durchführung einer Haftprüfung nach § 118 a StPO. Ansonsten war meines Erachtens bisher der Unmittelbarkeitsgrundsatz wenig bedroht. Kann sich das in Zukunft ändern?
K.M.: Das könnte sich natürlich ändern. Ich persönlich bin allerdings optimistisch und erwarte, dass wir die Pandemie im Laufe des nächsten Jahres in den Griff bekommen und hinter uns lassen, und dass sich die Situation entschärft. Der Pessimist wird sagen, was der Gesetzgeber einmal gegen den Beschuldigten durchgesetzt hat (hier § 10 EGStPO), nimmt er nicht einfach zurück. Da ist natürlich etwas dran. Ich erinnere an die StPO-Änderungen der 1970er Jahre, etwa das Verbot der Mehrfachverteidigung oder die Festlegung der Höchstzahl der Wahlverteidiger eines Beschuldigten. Diese Gesetzesänderungen waren damals eindeutig politisch motiviert, und sie sind Gesetz geblieben bis heute.
Mit der Videovernehmung von Zeugen als Normalfall der Beweisaufnahme könnte ich mich natürlich nicht anfreunden, wobei ich nicht übersehe, dass es die Notwendigkeit geben kann, Zeugen auf diese Weise zu schützen. Dazu gehören allerdings nicht die geheim gehaltenen V-Leute der Polizei, die uns auch ohne Corona (womit wir wieder bei den corona-unabhängigen Einschränkungen der Beschuldigtenrechte wären) stimmverzerrt und bildverpixelt in den Gerichtssaal geliefert werden. Das ist doch viel schlimmer als eine Mund-Nasen-Verhüllung! Und dagegen sollte sich meiner Meinung nach die Verteidigung noch vielmehr wehren als gegen die Maskenpflicht.
A.S.: Es betrifft ja nicht nur Zeugen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Einschränkungen der Beschuldigtenrechte aufrechterhalten und nicht mehr hinterfragt werden, wenn durch die Pandemie Türen geöffnet werden in Bezug auf die audiovisuelle Vernehmung, dann ist doch der Schritt, den andere Prozessordnungen schon lange gemacht haben, etwa in § 128 a ZPO, in Richtung audiovisuelle Hauptverhandlung nicht mehr ferne. Dann stellt sich für mich die Frage: Wie gehen wir damit um, dass es droht, dass wir Angeklagte aus aller Herren Länder per Videoübertragung zuschalten können? Ist das eine Utopie?
K.M.: Noch ist das eine Utopie. Aber wie vieles im Strafprozess ist Realität geworden, was uns noch vor Jahren als utopisch erschienen ist! Allerdings ist diese Utopie, gegen die wir uns sehr entschieden wenden sollten, nicht zu verwechseln mit der Forderung, die Hauptverhandlung komplett aufzuzeichnen, eine Forderung, deren Notwendigkeit für eine wirksamere Wahrheitssuche ich (neben vielen anderen) vor fast zehn Jahren schon im Eröffnungsvortrag zum 43. Strafverteidigertag in Berlin ausführlich dargelegt habe. Die Komplettaufzeichnung der Hauptverhandlung, die dem Gesetzgeber von 1979 vielleicht wie ein Wunder vorgekommen wäre, wäre heute technisch kein Problem mehr, und sie wäre als Grundlage für ein gerechtes Urteil sicherlich hundert Mal mehr wert als der Notizblock des oder der Vorsitzenden, die in dieser Form die Herrschaft über die prozessuale Wahrheit in der Hand halten. Gerade letzteres wird allerdings verhindern, dass sich diese geradezu mittelalterliche Methode in absehbarer Zeit ändern wird.
Ich bitte, mir diese Abschweifung zu verzeihen, aber das lag mir trotz Corona, und weil diese Problematik die Pandemie im Gegensatz zu Maskenpflicht und Abstandsgebot überdauern wird, doch noch auf dem Herzen.
A.S.: Klaus, ich danke Dir sehr für dieses Gespräch.
Dr. Klaus Malek ist Strafverteidiger in Freiburg, Anette Scharfenberg Strafverteidigerin in Lörrach und Vorsitzender der Strafverteidiger*innenvereinigung Baden-Württemberg.